Die Sehnsucht der Veronika Voss

Die Sehnsucht der Veronika Voss

Die Sehnsucht der Veronika Voss

Originaltitel: Die Sehnsucht der Veronika Voss - Regie: Rainer Werner Fassbinder - Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder, Pea Fröhlich und Peter Märthesheimer - Kamera: Xaver Schwarzenberger - Schnitt: Juliane Lorenz - Musik: Peer Raben - Darsteller: Rosel Zech, Hilmar Thate, Annemarie Düringer, Doris Schade, Cornelia Froboess, Erik Schumann, Armin Mueller-Stahl, Rudolf Platte, Johanna Hofer, Elisabeth Volkmann, Hans Wyprächtiger, Günther Kaufmann, Lilo Pempeit u.a. - 1982; 105 Minuten

Inhaltsangabe

Der Sportreporter Robert Krohn begegnet 1955 in München zufällig Veronika Voss, einen Ufa-Star der Dreißigerjahre, den er jedoch wie die meisten anderen Deutschen nicht mehr kennt. Am nächsten Tag verabredet Veronika Voss sich mit ihm in einem Café, und er kommt nicht mehr von der seltsamen Frau los. Als Krohn herausfindet, dass sie von der geldgierigen Nervenärztin Dr. Katz beherrscht und mit Morphium "behandelt" wird, versucht er, Veronika Voss zu retten ...
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Kritik

Die tragische Geschichte der Veronika Voss ist teilweise authentisch und dem Leben des Ufa-Stars Sybille Schmitz (1909 - 1955) nachempfunden. Passenderweise wurde "Die Sehnsucht der Veronika Voss" im Stil deutscher Vorkriegsfilme gedreht.
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Veronika Voss (Rosel Zech), ein Ufa-Star der Dreißigerjahre, gehört in der Bundesrepublik Deutschland zu den Verlierern. Der früher mit ihr befreundete Produzent (Peter Berling) vergibt die Rollen inzwischen lieber an Nachwuchsschauspielerinnen, die dafür mit ihm ins Bett gehen. Veronika Voss muss betteln, um wenigstens eine winzige Nebenrolle zu bekommen.

1955 sitzt sie in einem Münchner Kino und schaut sich den Film „Schleichendes Gift“ an. (Neben ihr sitzt Rainer Werner Fassbinder.) Da geht es um eine Patientin, die aufgrund ihrer Drogensucht von ihrer Ärztin abhängig ist. Veronika Voss kann das nicht mit ansehen. Sie springt auf und läuft aus dem Kino. Im strömenden Regen bietet ihr der Sportreporter Robert Krohn (Hilmar Thate) seinen Schirm an und begleitet sie – ohne sie zu kennen – zur Straßenbahnhaltestelle Geiselgasteig. Beim Abschied lässt Veronika Voss sich seinen Namen sagen. Dann fährt sie zum Thierschplatz und betritt die Praxis der Nervenärztin Dr. Marianne Katz (Annemarie Düringer).

Krohn lebt mit der Fotografin Henriette (Cornelia Froboess) zusammen. Mitten in der Nacht klingelt das Telefon. Henriette nimmt den Anruf entgegen und teilt Krohn anschließend mit, dass sich eine Frau Voss am nächsten Nachmittag mit ihm im Café „Privileg“ treffen wolle. „Ich kenne keine Frau Voss“, murmelt Krohn, aber er geht neugierig zu der Verabredung.

Veronika Voss hat sich so zurechtgemacht, wie sie es vor dem Krieg gewohnt war. Hysterisch und exaltiert verlangt sie vom Kellner – den sie „Page“ nennt –, dass er die Beleuchtung dimmt und Kerzen anzündet. Sie weiß zwar, dass nur noch ältere Kinobesucher sich an sie erinnern, aber sie verdrängt diese Einsicht und tut so, als würde sie noch immer von allen Passanten erkannt werden. Von Krohn erbittet sie sich 300 D-Mark und kauft sich dafür auf der Stelle eine Brosche, aber nach dem Abschied bringt sie das Schmuckstück wieder in den Juwelierladen zurück, denn sie benötigt das Geld für Drogen.

In der Zeitungsredaktion besorgt Krohn sich bei seiner Kollegin Grete (Elisabeth Volkmann) Informationen über Veronika Voss. Er fühlt sich von der seltsamen Frau angezogen, ohne sagen zu können, ob es sich um ein journalistisches oder persönliches Interesse handelt. Er weiß auch nicht, ob er Henriette liebt. Auf Veronika Voss‘ Frage antwortet er: „Wir ertragen uns.“ Henriette liebt Krohn und merkt, was mit ihm los isst, aber sie bleibt ruhig und gefasst.

Über eine Agentur findet Krohn eine Adresse am Thierschplatz heraus, doch als er hinfährt, steht auf keinem der Klingelknöpfe der Name „Veronika Voss“. Bei einem freundlichen alten Ehepaar, das gerade aus der Tür kommt (Rudolf Platte, Johanna Hofer) erkundigt er sich nach Veronika Voss, und die beiden weisen ihn auf das Praxisschild von Dr. Marianne Katz hin. Die Sprechstundenhilfe Josefa (Doris Schade) behauptet zunächst, keine Veronika Voss zu kennen und versucht, Krohn abzuwimmeln, aber als er sich als Journalist zu erkennen gibt, bittet sie ihn herein und ruft die Ärztin. In der Praxis ist alles weiß: Wände, Decke, Boden, Einrichtung. Ein ehemaliger GI (Günther Kaufmann) sitzt an einem Tisch, sortiert Ampullen und summt vor sich hin. Dr. Katz gibt zwar zu, dass Veronika Voss ihre Patientin sei, verschanzt sich aber hinter ihrer ärztlichen Schweigepflicht und verweigert weitere Auskünfte.

An diesem Abend gehen Krohn und Henriette zum Essen aus. Als sie nach Hause kommen, wartet im Treppenhaus Veronika Voss und fordert Krohn wie selbstverständlich auf, sie in ihre Villa nach Starnberg zu fahren und dort die Nacht mit ihr zu verbringen. Leise schließt Henriette die Wohnung auf, während Krohn der geheimnisvollen Frau folgt.

Die Möbel in der Villa sind mit weißen Laken zugedeckt. Veronika Voss geht mit Krohn ins Bett. In der Nacht krümmt sie sich vor Schmerzen, hält Krohn für einen Einbrecher und will, dass er sie zu Dr. Katz nach München bringt. Sie gibt ihm die Schlüssel und verlangt von ihm, dass er eine zerbrochene Vase ersetzt. Er soll mit den Scherben in ein bestimmtes Geschäft gehen, genau das gleiche Stück kaufen und es in die Villa bringen.

Krohn fährt mit Henriette zu dem Geschäft. Vor der Tür erkennt er das alte Ehepaar wieder, das am Thierschplatz aus dem Haus kam, als er Veronika Voss suchte. Um nicht erkannt zu werden, schickt er Henriette hinein. Sie gibt vor, die Vase einer Freundin zerbrochen zu haben, und als das Ehepaar Treibel die Scherben sieht, nimmt es offenbar an, dass es sich bei der angeblichen Freundin um Dr. Katz handelt.

Veronika Voss bewohnt eine winzige Kammer, die zur Praxis und Wohnung von Dr. Katz gehört. Die Ärztin herrscht sie an: „Er hat den Schlüssel von meinem Haus?!“ Leise erwidert Veronika Voss: „Es ist ja noch nicht dein Haus. Ich bin ja noch nicht tot.“

In dem Film „Blaue Hemmung“ darf Veronika Voss die Nebenrolle spielen, die sie sich erbettelt hat, aber bei den Dreharbeiten bricht sie zusammen. Krohn kommt mit dem ebenfalls anwesenden Drehbuchautor Max Rehbein (Armin Mueller-Stahl) ins Gespräch, der früher mit Veronika Voss verheiratet war. Krohn sagt, er wolle Veronika retten, aber Rehbein weiß, dass dies nicht möglich sein wird: Veronika Voss hat ihren Tod und den Verlust ihres Besitzes einkalkuliert und ist ihrer Ärztin hörig.

Das Ehepaar Treibel überlebte die Gefangenschaft im Vernichtungslager Treblinka, aber die immer wiederkehrenden Albträume setzten Treibel so zu, dass er die Nervenärztin Dr. Katz aufsuchte. Sie gab ihm regelmäßig Morphium. Als sie dem inzwischen Süchtigen nun weitere Rezepte bzw. Injektionen verweigert, löst das Ehepaar Treibel Schlaftabletten in mit Honig gesüßtem Tee auf und nimmt sich das Leben. Ihr Anwesen, ihre Kunstsammlung und ihr Vermögen haben sie schon vor einiger Zeit als Gegenleistung für das Morphium Dr. Katz überschrieben.

Krohn durchschaut die Praktiken der skrupellosen Ärztin. Um sie zu überführen, überredet er Henriette, sie aufzusuchen, sich dabei als reiche Witwe auszugeben und starke Schmerzen vorzutäuschen. Wie erwartet, verschreibt Dr. Katz ihr Morphium. Von der nächsten Telefonzelle aus unterrichtet Henriette ihren Lebenspartner über den Erfolg. Doch als Dr. Katz und Josefa sie vom Fenster aus telefonieren sehen, schöpfen sie Verdacht. Minuten später wird Henriette von einem Auto totgefahren. Krohn kommt mit Polizeibeamten in die Praxis und beschuldigt die Ärztin des Mordes. Bei der Leiche werde man außerdem ein gerade von Dr. Katz ausgestelltes Morphium-Rezept finden. Doch in der Handtasche der Toten finden die Beamten nur ein Rezept für ein harmloses Beruhigungsmittel, denn die Rezepte wurden längst vertauscht. Dr. Katz erklärt den Beamten, Krohn habe durch den Tod seiner Lebensgefährtin einen schweren Schock erlitten. Veronika Voss kommt aus ihrem Zimmer. Krohn warnt sie vor Dr. Katz, aber der ehemalige Star behauptet gegenüber den Polizisten, den Journalisten nur einmal für ein kurzes Interview getroffen zu haben.

Dr. Edel (Erik Schumann), der Leiter des Gesundheitsamtes, spielt mit Dr. Katz und Josefa zusammen. Weil sie befürchten, der Journalist könne durch seine Beziehung zu Veronika Voss doch noch gefährlich werden, beschließen sie, die Schauspielerin aus dem Weg zu räumen. Nach einem großen Fest verreisen sie über Ostern. Veronika Voss bleibt allein zurück, eingesperrt in ihrem Zimmer, ohne Morphium, aber mit mehreren Röhrchen Schlaftabletten. Davon schluckt Veronika Voss am Ostersonntag eine Handvoll, während der Papst die Welt segnet.

Krohn liest in der Zeitung von dem Suizid des ehemaligen Ufa-Stars Veronika Voss. Er setzt sich in ein Taxi und lässt sich zum Sechzigerstadion fahren, um seine vorübergehend vernachlässigte Tätigkeit als Sportreporter wieder aufzunehmen.

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Eine skrupellose Ärztin macht reiche Patienten absichtlich drogensüchtig, damit sie von ihr abhängig werden und ihr als Gegenleistung für das Morphium ihr Vermögen überschreiben. Repräsentanten des „Wirtschaftswunders“ in der Bundesrepublik Deutschland verschaffen sich den verbliebenen Besitz von Verlierern, zum Beispiel eines Ufa-Stars der Dreißigerjahre, den inzwischen kaum noch jemand kennt.

Die tragische Geschichte der Veronika Voss, die ihrer glamourösen Vergangenheit nachhängt und daran zerbricht, dass niemand sie mehr kennt, ist teilweise authentisch und dem Leben des Ufa-Stars Sybille Schmitz (1909 – 1955) nachempfunden. Sybille Schmitz spielte in mehr als dreißig Filmen mit, in der Hälfte davon als Hauptdarstellerin.

Einen dokumentarischen Fernsehfilm (ein Biopic) über den Ufa-Star Sybille Schmitz drehte Achim Podak im Jahr 2000 unter dem Titel „Tanz mit dem Tod. Der Ufa-Star Sybille Schmitz“. Drehbuch: Friedemann Beyer und Achim Podak, nach Friedemann Beyers Biografie „Schöner als der Tod. Das Leben der Sybille Schmitz“. Kamera: Thomas Repp. Schnitt: Beatrix Wilbert-Schieferstein (60 Minuten).

In „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ griffen Rainer Werner Fassbinder und Xaver Schwarzenberger bewusst auf den Stil der Vorkriegsfilme zurück, indem sie schwarzweiß drehten, expressive Schatten setzten und altmodische Überblendungen benützten. Rosel Zech verkörpert die exaltierte, inzwischen auch hysterisch und drogensüchtig gewordene Diva sehr überzeugend. Auch alle anderen Rollen sind hervorragend besetzt. Das grandiose Drama „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ wurde 1982 bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin mit einem „Goldenen Bären“ ausgezeichnet, und Xaver Schwarzenberger erhielt den „Deutschen Kamerapreis“.

Kaum ein anderer RWF-Film ist so perfekt erzählt und keinen anderen habe ich während der Drehzeit von vier Wochen im November 1981 mit so extremer Leichtigkeit und Harmonie zwischen mir und dem Material geschnitten und drei Tage nach Drehschluss in der Endfassung präsentiert. (Juliane Lorenz, Süddeutsche Zeitung, 11. April 2006)

„Die Sehnsucht der Veronika Voss“ gehört zusammen mit „Die Ehe der Maria Braun“ und „Lola“ zu einer Trilogie Rainer Werner Fassbinders über die Fünfzigerjahre in der Bundesrepublik Deutschland.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005

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