Händler der vier Jahreszeiten

Händler der vier Jahreszeiten

Händler der vier Jahreszeiten

Originaltitel: Händler der vier Jahreszeiten – Regie: Rainer Werner Fassbinder – Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder – Kamera: Dietrich Lohmann – Schnitt: Thea Eymèsz – Darsteller: Hans Hirschmüller, Irm Hermann, Hanna Schygulla, Klaus Löwitsch, Ingrid Caven, Kurt Raab, Lilo Pempeit, Andrea Schober, Walter Sedlmayr, Hark Bohm, Peter Chatel, El Hedi Ben Salem, Rainer Werner Fassbinder u.a. – 1972; 85 Minuten

Inhaltsangabe

Vor seiner dominanten Mutter flieht Hans Epp in die Fremdenlegion. Als er heimkehrt, meint sie: "Die Besten bleiben draußen, aber so einer wie du kommt zurück!" Seine große Liebe akzeptiert ihn zwar als heimlichen Liebhaber, jedoch nicht als standesgemäßen Bräutigam. Nachdem er seinen Dienst als Polizist quittieren musste, zieht er mit seiner ungeliebten Ehefrau als Obst- und Gemüsehändler durch die Straßen – bis er einen Herzinfarkt erleidet und keine Kisten mehr heben darf ...

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Kritik

In dem erschütternden Melodram "Händler der vier Jahreszeiten" porträtiert Rainer Werner Fassbinder einen Mann, der von Frauen kaputtgemacht wird, die allesamt stärker und lebenstüchtiger, aber auch weniger sensibel sind.
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Hans Epp (Hans Hirschmüller) wuchs mit seinen beiden Schwestern Anna (Hanna Schygulla) und Heide (Heide Simon) bei der allein erziehenden Mutter (Gusti Kreissl) in München auf. Er wäre gern Mechaniker geworden, aber das erlaubte Frau Epp nicht: Ihr Sohn ein Handwerker? Das kam für sie nicht in Frage. Sie zwang ihn stattdessen, das Gymnasium zu besuchen. Aber als Hans alt genug war, meldete er sich zur Fremdenlegion. Zwei Jahre später kam er zurück. Statt sich darüber zu freuen, warf ihm seine Mutter vor, auch seinen Freund auf die abwegige Idee mit der Fremdenlegion gebracht zu haben. Und auf die Nachricht vom Tod des Freundes sagte sie: „Die Besten bleiben draußen, aber so einer wie du kommt zurück!“

Die Münchner Polizei stellte Hans Epp ein, und er hielt sich für einen guten Polizisten. Am Viktualienmarkt griff er die junge Prostituierte Marile Kosemund (Elga Sorbas) auf und nahm sie mit aufs Revier, um ihre Personalien festzuhalten, doch als er von der Schreibmaschine hochblickte, stand sie mit geöffneter Bluse vor ihm. Weil während der anschließenden Fellatio ein Vorgesetzter (Hark Bohm) ins Büro kam, verlor Hans seinen Arbeitsplatz.

Die Frau (Ingrid Caven), die von Hans geliebt wurde, akzeptierte ihn zwar als heimlichen Liebhaber, wies jedoch seine „große Liebe“ zurück, denn sie hielt ihn für nicht standesgemäß und wollte ihn ihrer versnobten Familie gar nicht erst vorstellen.

Hans ließ sich von Irmgard (Irm Hermann) zur Eheschließung überreden, obwohl er sie nicht liebt und mit Spott rechnen musste, weil sie ein Stück größer ist als er. Die beiden haben inzwischen eine Tochter. Sie heißt Renate (Andrea Schober).

Während Renate in der Schule ist, ziehen die Eltern mit einem Obst- und Gemüsekarren durch Straßen und Hinterhöfe. Zufrieden ist Hans mit der Situation nicht. Aus Frustration beginnt er zu trinken. Einmal verprügelt er Irmgard vor den Augen der Tochter, nachdem er betrunken vom Wirtshaus nach Hause gekommen ist.

Am anderen Morgen findet er das Bett neben sich leer vor: Irmgard ist noch in der Nacht mit Renate zu seiner Familie geflohen, zu seiner Mutter, seinen beiden Schwestern und Heides Ehemann Kurt (Kurt Raab), einen ehrgeizigen Zeitungsverleger, der seiner Schwägerin erklärt, dass sie und das Kind nicht länger als ein, zwei Nächte bleiben können. Anna, die sich nicht nur als Intellektuelle, sondern auch durch Frisur und Kleidung von den anderen unterscheidet, wirft ihnen vor, Hans stets verachtet zu haben.

Hans kommt und fordert seine Frau auf, zu ihm zurückzukehren. Stattdessen greift sie zum Telefon, ruft den Rechtsanwalt Dr. Schirach an und erklärt ihm, sie wolle sich scheiden lassen. Da bricht Hans mit einem Herzinfarkt zusammen. Anna ruft den Notdienst, und er wird ins Krankenhaus gebracht.

Daraufhin bleibt Irmgard bei ihm. Aber noch während Hans im Krankenhaus liegt, ertappt Renate ihre Mutter mit einem Mann namens Anzell (Karl Scheydt) im Bett.

Der behandelnde Arzt Dr. Harlach (Peter Chatel) schärft dem Patienten und dessen Ehefrau ein, dass Hans keine schwere Arbeit mehr leisten dürfe und der Genuss von Alkohol für ihn wahrscheinlich tödlich wäre.

Wie sollen sie ihren Betrieb weiterführen, wenn Hans keine Obst- und Gemüsesteigen mehr tragen kann? Irmgard schlägt vor, einen zweiten Karren zu kaufen und jemand einzustellen, der ihn durch die Straßen schiebt. Den bisherigen Karren könnten sie dann zu einem festen Stand umfunktionieren. Das hält Hans für eine gute Idee.

Unter den Bewerbern sucht er jedoch ausgerechnet Anzell aus, ohne von dem Seitensprung seiner Frau etwas zu ahnen. Nachdem Hans den Gehilfen angelernt hat, beobachtet er ihn heimlich und kontrolliert die Abrechnung. Zufrieden stellt er fest, dass Anzell fleißig und ehrlich ist. Irmgard, der die Situation peinlich ist, überredet Anzell jedoch zu einer Unterschlagung. Wie von ihr erwartet, merkt Hans es und wirft den Betrüger hinaus.


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Er geht wieder in die Wirtschaft. Dort trifft er unerwartet Harry Radek (Klaus Löwitsch), mit dem er sich bei der Fremdenlegion anfreundete. Harry übernimmt nicht nur den Obst- und Gemüsekarren der Epps, sondern zieht auch bei ihnen ein. Das setzt Hans gegen den Willen seiner Frau durch. Dank Harrys Tatkraft floriert das Geschäft.

Aber Hans fühlt sich immer nutzloser und verfällt in eine Depression. Stundenlang schaut er aus dem Fenster, und statt seiner hilft Harry der Tochter bei den Hausaufgaben. Hans legt das von Rocco Granata eingespielte Lied „Buona Notte Bambino“ auf („[…] Alles was man will, das kann man nicht haben […]“), aber nach ein paar Takten zerbricht er die Schallplatte. Er besucht seine große Liebe. Sie legt sich nackt aufs Bett und drängt zur Eile, weil sie ihren Ehemann zurückerwartet, aber Hans winkt müde ab und geht wieder. Seine Schwester Anna, die Einzige in der Familie, die ihn respektiert, hat keine Zeit für ihn, weil sie ein Manuskript fertigstellen muss.

Bei einer Familienfeier gibt die Mutter zu, dass sie sich schämte, weil Hans und Irmgard mit einem Obst- und Gemüsekarren durch die Straßen zogen.

Danach geht Hans in die Wirtschaft, wo er im Beisein Harrys, Irmgards und einiger Stammtischbrüder einen Schnaps nach dem anderen hinunterkippt, bis er tot zusammensinkt.

Nach der Beerdigung sagt Irmgard zu Harry, es wäre für sie beide und Renate vernünftig, wenn sie sich zusammentäten. Ohne erkennbare Gefühlsregung antwortet Harry mit einem knappen „Okay“.

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Kritik:

In dem erschütternden Melodram „Händler der vier Jahreszeiten“ porträtiert Rainer Werner Fassbinder einen Mann – heute würde man sagen: einen Loser –, der von Frauen kaputtgemacht wird, zuerst von seiner Mutter, dann von seiner großen Liebe und schließlich von seiner Ehefrau. Sie alle sind stärker und lebenstüchtiger als er, aber auch weniger sensibel.

Es heißt, Rainer Werner Fassbinder habe dabei an seine eigene Verwandtschaft gedacht. Die Figur des Schwagers Kurt soll Ähnlichkeiten mit seinem Stiefvater Wolf Eder aufweisen, und ein Onkel des Filmemachers war ein von den Angehörigen verachteter fliegender Obst- und Gemüsehändler wie Hans Epp. Rainer Werner Fassbinder erfuhr selbst, dass der „Konkurrenzkampf [in der Verwandtschaft] härter als anderswo ausgefochten wird, Neid, Mißgunst und Verachtung tödlich sein können, die Unterdrückungsmechanismen gnadenlos praktiziert werden und diejenigen, die es zu nichts bringen, auch im Stellenwert der Familie ganz unten bleiben und den Erfolgreichen als warnendes Beispiel dienen“ (Kurt Raab, Karsten Peters: Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder, Bertelsmann, München 1982, 360 Seiten).

Lieblosigkeit und Unbarmherzigkeit, Missgunst und Unterdrückung können als Kehrseite des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik Deutschland verstanden werden. Rainer Werner Fassbinder stellt die in der Adenauer-Ära spielende Handlung in „Händler der vier Jahreszeiten“ zwar nicht explizit in einen politischen Zusammenhang, aber die eingestreuten Hinweise auf den Nationalsozialismus sind wohl kein Zufall: Hans und Irmingard Epp tragen den Familiennamen eines führenden Politikers der NSDAP, der von 1933 bis 1945 als Reichstatthalter in Bayern amtierte (Franz Ritter von Epp); der Rechtsanwalt, den Irmingard anruft, heißt Schirach wie der frühere Reichsjugendführer (Baldur von Schirach), und Annas unzeitgemäße Aufmachung (Frisur, Kleidung) verweist ebenfalls auf das NS-Regime.

„Händler der vier Jahreszeiten“ gehört zu Rainer Werner Fassbinders Filmen über den Tod und die Liebe. Erstmals stellte sich der Drehbuchautor und Regisseur auf die Erwartungen eines größeren Kinopublikums ein, ohne dabei allerdings seine künstlerischen Vorstellungen aufzugeben. Auch in „Händler der vier Jahreszeiten“ konzentriert er sich auf die Beziehungen der Figuren. Die Charaktere sind theatralisch angelegt, nicht im Sinn übertriebener Gesten, im Gegenteil: sie wirken stilisiert und blutleer. Rainer Werner Fassbinder verzichtet auf jede Ausschmückung und gibt sich durch rigorose Beschränkungen den Anschein der Kunstlosigkeit, die er auch durch das Fehlen einer Musikuntermalung betont.

Bis auf wenige Ausnahmen wird die Familientragödie aus der Sicht des Protagonisten Hans Epp erzählt. Ihm gelten die Sympathie und das Mitgefühl des Filmemachers.

Beim Filmtitel handelt es sich um eine wörtliche Übersetzung aus dem Französischen. Dort bezeichnet man einen fahrenden Obst- und Gemüsehändler als „marchand des quatre-saisons“.

Die von Elga Sorbas gespielte Prostituierte heißt Marile Kosemund – wie das 1969 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführte „Vorstadtstück“ von Sigi Sommer.

Gedreht wurde „Händler der vier Jahreszeiten“ an elf Tagen im August 1971 in München, zum Teil übrigens in der privaten Mietwohnung des Regieassistenten Harry Baer, dem man dann aufgrund der Beschwerden von Nachbarn den Mietvertrag kündigte. Die Produktionskosten betrugen gerade einmal 178 000 DM.

Der Kamera-Assistent Peter Gauhe synchronisierte Kurt Raab.

Uraufgeführt wurde „Händler der vier Jahreszeiten“ am 10. Februar 1972 in der Cinémathèque française in Paris. In Deutschland war der Film erstmals am 10. März 1972 zu sehen, und zwar im Cinemonde in München und im ZDF.

Rainer Werner Fassbinder erhielt 1972 den Deutschen Filmpreis (Filmband in Gold) für den besten Spielfilm, und die Hauptdarsteller Hans Hirschmüller und Irm Hermann wurden ebenfalls mit einem Filmband in Gold ausgezeichnet.

Einer der Bewerber in „Händler der vier Jahreszeiten“ wird von dem Regie­assistenten Harry Baer gespielt. Rainer Werner Fassbinder selbst hat einen Cameo-Auftritt als Hans‘ Gesprächspartner Zucker. Seine Mutter Lilo Pempeit stellt eine Kundin dar. Zu sehen sind auch Walter Sedlmayr (Karren-Verkäufer), Jürgen Prochnow (Stammtischbruder), Daniel Schmidt (Bewerber), Michael Fengler (Playboy) und El Hedi ben Salem (Araber).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002 / 2005 / 2016

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