Ulla Hahn : Wir werden erwartet

Wir werden erwartet
Wir werden erwartet Originalausgabe: Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017 ISBN: 978-3-421-04782-3, 633 Seiten ISBN: 978-3-641-21572-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Hugo, der aus dem Kölner Patriziat stam­mende Verlobte der Dondorfer Arbeiter­tochter Hilla, stirbt 1970 bei einem Ver­kehrs­unfall. Dafür hasst die katholische Germanistik-Studentin Hilla Gott. Später lässt sie sich für einen Werkkreis "Literatur der Arbeitswelt" gewinnen und tritt in die KPD ein. In Hamburg, wohin sie als Doktorandin zieht, engagiert sie sich mit voller Überzeugung für die Sache der Kommunisten, aber nach der Promotion wachsen ihre Zweifel ...
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Kritik

In dem Bildungsroman "Wir werden erwartet" schildert die intelligente, nachdenkliche und feinfühlige Ich-Erzählerin Hilla – Ulla Hahns Alter Ego? – sehr detailliert ihre Entwicklung vom 24. bis 31. Lebensjahr.
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Was bisher geschah

Hilla und Hugo

Gegen den Willen seiner dem Kölner Patriziat angehörenden Familie verlobt sich der Doktorand Hugo Felix Servatius Breidenbach 1968 mit der in Köln Germanistik studierenden Arbeitertochter Hildegard („Hilla“) Elisabeth Maria Palm aus Dondorf, einem Dorf zwischen Köln und Düsseldorf. Im Sommer 1969 machen die beiden Ferien in Rom. Den Heiligen Abend feiern sie mit Hillas Familie in Dondorf, und danach freuen sie sich in Köln über einen Weihnachtsbesuch aus Meran. Hugos verwitweter Onkel Friedrich Breidenbach praktiziert dort als Arzt im Krankenhaus. Sein Freund Richard hat angefangen, eine Autobiografie zu schreiben, auch über seine Homosexualität, die seit 1. September 1969 in der Bundesrepublik nicht mehr strafbar ist. Hugo wurde wegen der Verlobung von seiner Familie verstoßen, und Friedrichs Vermittlungsversuch am Heiligen Abend blieb erfolglos.

Im Karneval 1970 kommt Hugo bei einem nächtlichen Verkehrsunfall zwischen Köln und Walberberg ums Leben. Der Verursacher begeht Fahrerflucht. Weil Hugos 2CV in einen Graben geschleudert wurde, entdeckt man ihn und das Wrack erst am nächsten Morgen.

Friedrich und Richard holen Hilla in München vom Zug ab und fahren mit ihr nach Meran. An Hugos Beerdigung in Köln darf sie ohnehin nicht teilnehmen. Der Arzt verordnet ihr Psychopharmaka und kümmert sich auch telefonisch weiter um sie, als sie nach Köln zurückgekehrt ist. Die Katholikin Hilla beginnt Gott zu hassen.

Hugos Doktorvater, Prof. Dr. Walfred Henke, schlägt ihr vor, die Dissertation über die Funktion der Sprache im Spielfilm weiterzuschreiben und um den strukturalistischen Aspekt zu erweitern. Hilla geht eifrig darauf ein: Lieber hätte sie ein Kind von Hugo gehabt, aber auf diese Weise könnte immerhin ein geistiger Sprössling entstehen.

Hilla wird Kommunistin

Ihr jüngerer Bruder Bertram beginnt in Köln ein Pädagogikstudium. Die Geschwister verbringen viel Zeit zusammen. Hilla lernt auch seinen Mitbewohner Norbert („Nobbi“) Bratsch kennen, der mit Meskalin experimentiert (und einige Jahre später an einer Überdosis Captagon sterben wird). Sie mag auch Bertrams Freundin Jutta Dückers, eine Pädagogik-Studentin, die fünf Jahre jünger ist als sie.

Marga Wiedebusch, die Germanistik und Anglistik studiert hat und an ihrer Dissertation über das Frauenbild im Werk der Marie von Ebner-Eschenbach arbeitet, gewinnt Hilla nicht nur für den Werkkreis „Literatur der Arbeitswelt“, der von dem kommunistischen Germanisten Dr. Damian Hirte geleitet wird, sondern auch für die DKP: Hilla lässt sich in die Partei aufnehmen. Kurz darauf treten Jutta und Bertram dem Marxistischen Studentenbund Spartakus bei.

Mit einem kommunistischen Thesenpapier brüskiert Hilla ihren Doktorvater. Er lehnt es deshalb ab, sie weiter zu betreuen.

Umzug nach Hamburg

Marga vermittelt ihr 1972 einen neuen Doktorvater in Hamburg, den kommu­nistischen Germanistik-Professor Griebel. Sie holt Hilla vom Bahnhof Dammtor ab und bringt sie in ihrer Sechs-Zimmer-WG unter. Möbel finden sie im Sperrmüll. Rasch lernt Hilla, dass es hier „dann faahn wi mol los!“ statt „lommer jonn!“ heißt.

Sie wird sowohl in die Doktoranden- als auch die Wohngebietsgruppe der Kommunisten aufgenommen. Da wird viel diskutiert.

Jawohl, sprang Horst seinem Nebenmann zur Seite: Ohne Tabus kein Triebverzicht, ohne Triebverzicht keine aufgestauten Aggressionen. Aggressionen, die sich zu gegebener Zeit gegen Minderheiten oder äußere Feinde – Juden, Kapitalisten, Kommunisten – dirigieren lassen. Also müssen wir alles tun, die kindliche Sexualität gegen Faschismus und Neurosen zu aktivieren. Onanie, Exhibitionismus, Voyeurismus, Analerotik, sexuelle Spiele aller Art dürfen keine Tabus sein. All das dient der Verhinderung einer Zurichtung des Kindes, seiner Dressur zum Untertan.

Das Schicksal der Genossin Gretel Hoefer geht Hilla zu Herzen. Die pensionierte Lehrerin, die mit „Fräulein“ angeredet werden möchte, hatte 1931 zu den Gründungsmitgliedern der Interessengemeinschaft oppositioneller Lehrer gehört, in der sich Gegner der Nationalsozialisten aller Couleur in Hamburg organisierten: Sozialdemokraten und Kommunisten, Liberale, Christen und Juden. Im Juni 1933 wurde sie aufgrund des Reichsgesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ohne Ruhegehalt entlassen. Von Dezember 1933 bis Februar 1934 war sie erstmals im Gefängnis. Längere Haftstrafen folgten. Und sie wurde gefoltert. Menschen wie Gretel Hoefer glaubt Hilla es schuldig zu sein, für den Kommunismus zu kämpfen.

Die Genossin Meike Trott holte nach einer abgeschlossenen Ausbildung zur Schneiderin das Abitur nach, studierte Germanistik und Geschichte, absolvierte das erste Staatsexamen – und arbeitet seither als Näherin in einem Großbetrieb, weil sie zu den Werktätigen gehören will.

Am 18. Februar 1972 beschließen die Ministerpräsidenten der Bundesländer, keine rechts- oder linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst zu beschäftigen. Ilse Jacob, die dem Vorstand der DKP-Lehrergruppe in Hamburg angehört, wird auf der Grundlage des Radikalenerlasses aus dem Beamtenverhältnis auf Probe entlassen. Dabei ist sie die Tochter der Widerstandskämpfer Franz und Katharina Jacob. Der Vater wurde 1944 hingerichtet, die Mutter 1945 aus dem KZ Ravensbrück befreit. Hilla ist entsetzt: Berufsverbote unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt, der in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 gesagt hatte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

Und eine Mann hätt et och noch nit!

Im Juni 1972 kommt Marga begeistert von ihrer ersten Reise in die DDR zurück. Sie besuchte die 14. Arbeiterfestspiele in Schwerin.

Fünfzehntausend! Volkskünstler hatten sich, so Marga, unter dem Motto „Jung ist das Land hier und schön ist unser Leben“ in Schwerin und Umgebung – Perleberg, Parchim, Ludwigslust, Hagenow, Güstrow – zu einer einmaligen „Leistungsschau der kulturschöpferischen Kräfte der Arbeiterklasse“ versammelt.
[…] In diesem Land, so Marga, habe die Arbeiterklasse wahrlich die Höhen der Kultur erstürmt und von ihr Besitz ergriffen.

Im Herbst stirbt Josef Palm. Glücklicherweise hatte sich Hilla zuletzt noch mit ihrem Vater versöhnt. Die beiden kamen sich nah wie nie zuvor.

Bei der Beerdigung hört Hilla die Trauergäste tuscheln:

Dat Heldejaad is noch immer nit fädisch mit dem Studieren. Wat es russjeschmissenes Jeld!
Und eine Mann hätt et och noch nit!

Zurück in Hamburg widmet Hilla sich wieder dem alltäglichen Kampf um mehr Lohn, Urlaub, Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser. Nachdem der chilenische Staatspräsident Salvador Allende am 11. September 1973 mit Unterstützung der USA gestürzt wurde, demonstrieren 8000 Hamburger dagegen. Die Genossinnen Hilla und Christel kleben nachts Plakate: „Freiheit für Chile“.

Weil Hilla im Gespräch mit Herbert Mies, dem stellvertretenden Parteivorsitzenden, Sympathie für den Literaturnobelpreisträger Alexander Issajewitsch Solschenizyn zeigt, wird der Plan fallen gelassen, sie auf die Parteischule zu schicken oder wenigstens zu den Weltfestspielen in Berlin. Stattdessen sorgt Marga dafür, dass sie als Kandidatin für die Bezirksversammlung aufgestellt und am 22. Februar 1974 gewählt wird.

Promotion und neue Liebe

Ende Februar 1975 gibt Hilla ihre Dissertation ab: „Literatur in der Aktion. Zur Entwicklung operativer Literaturformen in der Bundesrepublik seit Beginn der Sechzigerjahre“. Eineinhalb Monate wartet sie auf eine Nachricht ihres Doktorvaters. Dann erfährt sie, dass Griebel die Arbeit mit „sehr gut“, der Zweitgutachter dagegen mit „ungenügend“ benotet hat. Erst nach einer mündlichen Prüfung darf sie ihrem Namen das „Dr. phil.“ voranstellen.

Noch am selben Tag fährt sie mit Markus Placka in die Haseldorfer Marsch, wo sie sich unter freiem Himmel nackt ausziehen und sich zum ersten Mal lieben. Der Sohn eines Gleisarbeiters und einer Hausfrau war als Künstler aus Enderlingen nach Hamburg gekommen und ist geblieben. Als seine Ehe mit Susi scheiterte, kannte Hilla ihn bereits. Der äußere Anlass für die Trennung Susis von Markus war, dass dieser sich Hilla zuliebe der KPD anschloss, während sie Mitglied des maoistisch orientierten Kommunistischen Bundes war.

Hilla packt ihre Sachen in Margas Wohnung und zieht zu Markus.

Besuch in der DDR

Auf Einladung des Kulturbunds der DDR reist Hilla erstmals in die DDR. Trotz Berliner Mauer und Schießbefehl hält sie die DDR für gerechter, sozialer und friedliebender als die Bundesrepublik. Während ihres Aufenthalts in der DDR erfährt sie von Regelungen, die ihr missfallen. Zum Beispiel: Kinder von Akademikern werden nur in Ausnahmefällen zum Studium zugelassen. Das findet Hilla unverständlich: Ein Arbeitersohn darf studieren und wird zum Beispiel Professor. Seinem Sohn wird dann ein Studienplatz verweigert. Erst der Enkel erhält wieder einen.

Wird eine Idee falsch, wenn sie unzulänglich realisiert wird?

Nicht wegen des real existierenden Sozialismus, nicht wegen der real existierenden Modelle, vielmehr trotz aller Unzulänglichkeiten, denen ich begegnet war, blieb ich meiner Überzeugung treu.

Wir brauchen Utopien. Visionen. Hoffnung. Vielleicht nicht als pures Gegenbild zum Existierenden. Viel wichtiger ist es, das Verlangen nach einem Wandel in den Verhältnissen menschlichen Daseins wachzuhalten. Verhältnisse, die ein Verhalten nach humanen Grundsätzen möglich machen.

Lehrbeauftragte

Hilla wird Lehrbeauftragte der Universität Bremen. In ihre Vorlesung mit dem Titel „Einführung in die Methoden der Literaturwissenschaft“ packt sie eine Portion subversives Gedankengut. Der Zulauf ruft die Marxistische Gruppe auf den Plan.

Die verteilte in einer der Sitzungen Flugblätter gegen diese „bürgerliche Wissenschaftlerin im marxistischen Schafspelz“, den man mir, der „reaktionären Optimistin“ und „Imperialistin“ auch noch herunterreißen werde.

Hilla bewirbt sich auch in Hamburg. Am 1. November 1975 wird sie vom Kultursenator Gregor Labias zum Gespräch eingeladen, und vom Sommersemester 1976 an hält sie ihre Vorlesung auch an der Universität Hamburg.

Umdenken

Enrico Berlinguer, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, tritt für Reformen statt einer Revolution ein, für einen demokratischen Sozialismus. Dieser „dritte Weg“ wird von den Staaten des Warschauer Paktes – und damit auch von der DKP – abgelehnt. Aber Hilla gefällt der Ansatz. Parallel dazu wachsen ihre Zweifel an den Grundsätzen der DKP. Sie erfährt, dass man in der Partei über jeden ihrer Schritte in der DDR detailliert Bescheid weiß. Weil man Hilla hauptamtlich in der Partei und nicht an einer Universität haben wollte, wurde sie dazu angehalten, für die Bezirksversammlung zu kandidieren. Davon erhofften Marga und andere sich ein Berufsverbot für sie. Hilla missfällt, dass Funktionäre so viel unkontrollierte Macht über andere Menschen ausüben und sich dabei auch noch auf der richtigen Seite wähnen.

War der Kapitalismus mit seiner sozialen Marktwirtschaft den sozialistischen Systemen mit ihrer Planwirtschaft im Ergebnis nicht deutlich überlegen?

War […] die kapitalistische BRD auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft nicht weiter als die sozialistische DDR?

Nachdem Wolf Biermann am 13. November 1976 von der DDR ausgebürgert wurde, gibt Hilla ihr Parteibuch zurück.

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Mit dem Bildungsroman „Wir werden erwartet“ (2017) erweitert Ulla Hahn ihre aus „Das verborgene Wort“ (2001), „Aufbruch“ (2009) und „Spiel der Zeit“ (2014) bestehende Trilogie zur 2500 Seiten langen Tetralogie.

In diesem vierten Band, der nahtlos an „Spiel der Zeit“ anschließt, geht es um die Jahre 1969 bis 1976. Die Protagonistin Hilla zieht nach Hamburg, tritt in die KPD ein und engagiert sich für die Anliegen der Kommunisten, bis sie das als Irrweg erkennt und ihr Parteibuch zurückgibt.

Ausufernd und mit überbordender Detailfülle schildert Ulla Hahn Aspekte aus dem Spektrum kommunistischer Organisationen der Siebzigerjahre in Ost- und Westdeutschland. Da hätte sie vielleicht besser 100 oder 200 Seiten gekürzt, zumal dadurch die Milieustudie und das Panorama der Gesellschaft, die ihre vorangegangenen Bände auszeichnen, zu kurz kommen. Immerhin gibt es noch Hinweise auf Charakteristika der damaligen Zeit. Es wird Buttercreme-Torte gegessen. In öffentlichen Verkehrsmitteln riecht es nach Tosca und schlecht gelüfteter Winterkleidung. Von Intellektuellen wird erwartet, dass sie alles kritisch hinterfragen. Und Protest gehört auch für das Opern- und Theaterpublikum zum guten Ton. Eine Dorfbewohnerin, die den Führerschein macht, sorgt für Aufsehen. Das geht auch nicht ohne schriftliche Zustimmung ihres Ehemanns („Ungerschrieve moot dä dat!“), denn erst 1977 erhalten Frauen in der Bundesrepublik die volle Geschäftsfähigkeit.

Wie auch in „Das verborgene Wort“, „Aufbruch“ und „Spiel der Zeit“ tritt Hilla in „Wir werden erwartet“ als ebenso intelligente wie nachdenkliche und feinfühlige Ich-Erzählerin auf. Die Perspektive ist also subjektiv. Wie weit die Romanreihe autobiografisch ist, wissen wir nicht, aber die Übereinstimmungen in den Biografien von Hilla Palm und Ulla Hahn sind unübersehbar.

Die Darstellung entwickelt sich chronologisch. Obwohl es in „Wir werden erwartet“ um ernste Themen geht, lässt Ulla Hahn immer wieder Humor und Komik aufleuchten.

Insgesamt spiegelt die lesenswerte Roman-Tetralogie die bundesdeutsche Gesellschaft von der Adenauer-Ära bis zum Terror der RAF.

Den Roman „Wir werden erwartet“ von Ulla Hahn gibt es in gekürzter Version auch als Hörbuch, gelesen von der Autorin (ISBN 978-3-8445-2687-5).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Deutsche Verlags-Anstalt

Ulla Hahn: Das verborgene Wort (Verfilmung)
Ulla Hahn: Aufbruch
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Der Gymnasiallehrer Bruno Gebhardt gab 1891/92 ein zweibändiges Handbuch der deutschen Geschichte heraus, mit dem er sich besonders an seine Kollegen wandte.
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