Joyce Carol Oates : Marya. Ein Leben

Marya. Ein Leben
Originalausgabe: Marya. A Life E. P. Dutton, New York 1986 Marya. Ein Leben Übersetzung: Barbara Henninges Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1991 ISBN: 3-421-06610-8, 352 Seiten Taschenbuch: dtv, München 1996 ISBN: 3-423-12210-2, 352 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mit 17 wird Vera Mutter einer Tochter, die den Namen Marya erhält. Acht Jahre später – inzwischen hat das alkoholkranke Ehepaar zwei weitere Kinder – kommt Joe bei einer Schlägerei ums Leben, Vera verschwindet, und die Kinder werden widerwillig von Verwandten aufgenommen. Trotz der schlechten Startchancen gelingt es Marya mit Ehrgeiz und Begabung, Literaturprofessorin und erfolgreiche Schriftstellerin zu werden. Aber mit 36 sucht sie nach ihrer Mutter ...
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Kritik

"Marya. Ein Leben" ist ein anrührender Bildungsroman über ein Mädchen, das zur Frau reift und nach der eigenen Identität sucht. Konkret und nüchtern schildert Joyce Carol Oates die inneren Konflikte der Protagonistin.
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Maryas Vater Joseph („Joe“) Knauer hatte in der Mühle von Shaheen Falls, New York, gearbeitet, bis diese geschlossen worden war. Dann wechselte er zur Shaheen Mining Company, aber nach einiger Zeit gab es dort Ärger, und er wurde entlassen. Vor acht Jahren heiratete er die damals siebzehnjährige Vera Sanjek, die wenige Monate später ihr erstes Kind gebar: Marya. Inzwischen hat das in Innisfail wohnende Paar auch noch einen dreijährigen Sohn, Davy, und den Säugling Joey.

„Du! Du und du und du! Ihr seid mir alle scheißegal, ich wünschte, ihr wärt alle tot“, schrie Maryas Mutter sie alle einmal an, aber gleich danach sagte sie, es tue ihr leid. (Seite 8)

Joe und Vera sind beide alkoholkrank.

Manchmal, wenn Maryas Vater ein paar Tage weg war, blieb die Mutter den Vormittag über im Bett, sogar bis in den Nachmittag hinein, und fand es nicht der Mühe wert, sich anzuziehen. (Seite 14)

Eines Tages lässt Vera sich mit Marya, Davy und dem Baby von Jerry Kurelik, einem Bekannten, der einen Truck besitzt, nach Shaheen Falls fahren. Sie muss zur Polizei und ins Leichenschauhaus, denn ihr Mann kam bei einer Schlägerei ums Leben.

„Die haben ihn wirklich in die Mache genommen, was?“, sagte Maryas Mutter staunend. „Meine Fresse, der ist ja nicht wiederzuerkennen.“ (Seite 19)

Weil das Geschrei des Säuglings Vera auf die Nerven geht und die wechselnden Männer stört, die sie besuchen, überlässt die fünfundzwanzigjährige Mutter Joey einer Freundin in Shaheen Falls. Bald darauf verschwindet sie.

Marya war zwölf Tage nacheinander nicht in der Schule gewesen, als ein Mann vom Bezirksschulamt zu ihnen herauskam: Zu diesem Zeitpunkt war Vera seit drei oder vier Tagen verschwunden. Marya war sich nicht sicher, wie viele Tage es waren, Davy wusste es natürlich erst recht nicht, sie hatten sich die Augen ausgeweint, sie hatten sämtliche Lebensmittel im Kühlschrank aufgegessen, bis auf das, was verdorben war. (Seite 45)

Marya und ihre jüngeren Geschwister werden von Everard Knauer, dem älteren Bruder des Verstorbenen, und ihrer Tante Wilma widerwillig aufgenommen. Die beiden haben selbst einen zwölfjährigen Sohn und eine elfjährige Tochter: Lee und Alice. Lee zischt seiner Cousine eines Morgens zu, „ihre Mutter hätte sie und ihre Brüder ‚lieber‘ ertränken sollen, anstatt sie bei Leuten zu lassen, die sie nicht ausstehen konnten“ (Seite 22). Onkel Everard ist Automechaniker und betreibt in Innisfail eine eigene Werkstatt.

An der Canal Road, die von der Schnellstraße nach Innisfail abzweigte, lebten drei Familien – die Pitmans, die Michalaks und die Knauers. Sie wohnten nicht nah genug beieinander, um Nachbarn zu sein, und hegten eher Misstrauen gegeneinander. Die Pitmans wohnten in einem fest auf Zementböcken montierten Wohnwagen, der, wie Wilma verächtlich bemerkte, wie eine eingedellte und zerschrammte Sardinenbüchse aussah. Die Michalaks waren die Ärmsten – zu neunt zwängten sie sich in eine Baracke aus Teerpappe […] Die Knauers besaßen ein einstöckiges Holzhaus, das Everard mit Hilfe seines jüngeren Bruders Joe gebaut hatte. (Seite 31)

Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr zwingt Lee seine Cousine immer wieder, mit ihm in ein Autowrack auf dem Schrottplatz seines Vaters zu klettern. Dort drückt er sie so fest nieder, dass sie befürchtet, er werde ihr noch das Genick brechen, öffnet seine Hose, reibt sich zwischen ihren Schenkeln und stößt mit seinem Penis gegen ihren Baumwollslip, bis es ihm kommt.

An der High School in Innisfail wird der Englischlehrer Brandon P. Schwilk von den Schülern gemobbt, bis er im Klassenzimmer zusammenbricht und ins Krankenhaus gebracht werden muss. Nach seiner Genesung verlässt er Innisfail sofort. Sein restliches Jahresgehalt stellt er zur Verwunderung aller für einen Lyrikpreis zur Verfügung – und den gewinnt Marya.

Zweimal pro Woche besucht sie den krebskranken römisch-katholischen Geistlichen Clifford Shearing im St. Joseph’s Hospital in Innisfail. Marya spricht mit ihm über ihre Glaubenszweifel, bis er nach eineinhalb Jahren in eine Klinik in New York City verlegt wird, wo er einige Monate später stirbt.

Als beste Schülerin ihres Jahrgangs hält Marya die Abschiedsrede an der High School. Weil sie den auswendig gelernten Vortrag mit Zitaten von Henry David Thoreau, Emily Dickinson, Dostojewski und Teilhard de Chardin spickt, sind die Zuhörer befremdet und tuscheln: „Sich so aufzuspielen!“

Aufgrund ihrer hervorragenden schulischen Leistungen erhält Marya von der Universität in Port Oriskany ein Stipendium für bedürftige Studenten. Ihr Freund Emmett Schroeder, der ältere Bruder ihrer Mitschülerin Lori, fährt mit der Siebzehnjährigen die dreihundert Kilometer nach Port Oriskany, damit sie sich dort ein Zimmer und einen Job suchen kann. Emmett, der neun Jahre älter als sie ist, machte ihr bereits einen Heiratsantrag. Marya fühlt sich hin- und hergerissen: Will sie aufs College oder als Emmetts Ehefrau weiterhin in Innisfail leben? Als er sie im Auto bedrängt, versucht sie keinen Widerstand zu leisten, verkrampft sich jedoch unwillkürlich. Emmett merkt es und lässt von ihr ab.

Marya fing an zu weinen. „Ich liebe dich, du weißt doch, dass ich dich liebe“, flüsterte sie schuldbewusst, aber Emmett würdigte sie keiner Antwort, hörte sie vielleicht nicht einmal. Er hatte den Buick auf hundertzehn, hundertfünfzehn, hundertzwanzig Stundenkilometer beschleunigt und nahm nur das Gas weg, wenn Nebelwände über die Straße zogen. „Emmett, bitte, es tut mir leid, ich kann nichts dafür“, sagte Marya fast unhörbar, „ich werde immer so nervös, du kennst mich doch … aber du weißt auch, dass ich dich liebe“, während ein Teil von ihr seelenruhig dachte: So, das wäre erledigt. (Seite 128)

Damit ist die Entscheidung gefallen: Marya trennt sich von Emmett.

Am Abend vor ihrer Abreise nach Port Oriskany findet für sie und den Nachbarjungen Clarence Michalak, der zu den Marinerekruten nach North Carolina geht, ein Abschiedsfest statt. Marya trinkt Bier aus Dosen, bis sie sich übergeben muss. Am Rand des Parkplatzes fallen Lester Hughey, Kyle Roemischer und Bob Banner über sie her. Marya wehrt sich mit aller Kraft, zielt mit ihren Tritten auf die Hoden der Kerle. Ihre Brüste sind entblößt. Einer stemmt ihr die Beine auseinander, ein anderer versucht in sie einzudringen, aber es gelingt ihm nicht, weil sie sich windet. Vielleicht wird er auch von einem seiner Kumpel weggezerrt. Jedenfalls nähert sich daraufhin Lester Hughey mit einer Drahtschere und schneidet Marya das Haar ab.

Im zweiten Studienjahr am College in Port Oriskany wohnt sie im Studentenwohnheim Maynard House. Marya will Schriftstellerin werden. In einem bundesweiten Wettbewerb schafft sie es mit einer Kurzgeschichte auf den ersten Platz, und gut eine Woche später nimmt eine renommierte Literaturzeitschrift eine andere Kurzgeschichte an.

Das wahre Wesen eines Schriftstellers, dachte sie, drückte sich in seinem Werk aus, nicht in seinem Leben; was überdauerte, das eigentlich Wirkliche war die Fantasielandschaft. (Seite 156)

Sie freundet sich mit der Kommilitonin Imogene Skillman aus Laurel Park, Long Island, an, die im Hauptfach Schauspielkunst studiert. Obwohl Imogen verlobt ist, geht sie mit wechselnden Männern aus und schläft vermutlich auch mit ihnen. Marya missbilligt das, und die Freundschaft zerbricht. Weil Imogene daraufhin Gerüchte über Marya streut, kommt es zu einem heftigen Streit, und Marya stiehlt Imogene ein Paar Ohrringe. Um sie demonstrativ tragen zu können, lässt sie sich von einem Juwelier die Ohren durchstechen. Imogene beschimpft sie als „hinterwäldlerisches Luder“, rennt auf sie zu und will ihr die Ohrringe abreißen, aber Marya ist schneller. Sie behält den Schmuck.

Bald darauf bricht Imogene das Studium ab und zieht nach New York City.

Als der Mediävistik-Dozent Maximilian Fein mit seiner aus Deutschland stammenden Ehefrau Else für zehn Tage nach Europa reist, füttert Marya die Katzen des Paares und passt auf das Haus auf, eine vornehme Villa am Flussufer, die der Universität gehört. Maximilian Fein wird ihr erster Geliebter. Offiziell gibt er die Zwanzigjährige als Forschungsassistentin aus. Else Fein bleibt die Affäre nicht verborgen. Nachdem ihr Mann in seinem Arbeitszimmer mit einer Gehirnblutung zusammenbrach, holt sie Marya ab und fährt mit ihr in die Klinik. Fein erwacht nicht mehr aus dem Koma und stirbt.

Im Alter von fünfundzwanzig Jahren ist Marya promoviert und arbeitet als Assistenzprofessorin für Englisch an einem renommierten College in New Hampshire, das noch nie eine Frau auf Lebenszeit eingestellt hat.

Als sie dem afroamerikanischen Hausmeister Sylvester der Hochschule mit einer Frau am Arm auf der Straße begegnet und ihn lebhaft grüßt, tut er so, als nehme er sie nicht wahr. Danach legt er ihr eine benutzte Monatsbinde in den Bücherschrank, hinterlässt seinen Urin in ihrem WC und durchschnüffelt ihre Sachen, ohne die Spuren zu beseitigen. Dass sie ihn zur Rede stellt, nützt nichts.

Mit ihrem zwei Jahre älteren Kollegen Gregory Hemstock unternimmt Marya eine Radtour. Sie kann kaum mithalten und ärgert sich, wenn er oben auf einem Hügel auf sie wartet. Auf einer gefährlichen Gefällestrecke lässt sie das Rad laufen, und als sie viel zu spät zu bremsen versucht, gelingt es ihr nicht mehr. Sie wird von Bodenwellen und Schlaglöchern durchgeschüttelt, ihre Brüste schmerzen, Gregory schreit hinter ihr. Marya stürzt. Gedemütigt verbindet sie in der Damentoilette eines Hotels ihr aufgerissenes Bein.

Bei einer Tagung in New York City lernt sie Eric Nichols, den Herausgeber der Zeitschrift „The Meridian“, in der sie mehrere Artikel veröffentlichte, persönlich kennen. Eric Nichols ist zwar seit zwanzig Jahren verheiratet und hat drei Kinder, verliebt sich jedoch in Marya und beginnt ein Verhältnis mit ihr. Weil er sie liebt, missbilligt er, dass sie sich selbst nicht liebt. Marya gibt ihre Dozentenstelle auf, zieht nach New York City, wird freie Mitarbeiterin des „Meridian“ und von Eric in den Literaturbetrieb eingeführt.

Ihren 34. Geburtstag verbringt sie allerdings allein in einer gemieteten Hütte in Quebec. Dort nimmt sie sich vor, sich von Eric zu trennen, wenn dieser sich nicht scheiden lässt. Doch bevor sie eine Entscheidung erzwingen kann, kommt der Einundfünfzigjährige bei einem Autounfall ums Leben.

Nach Erics Tod wird Marya von einem seiner Freunde umworben, der auch mit ihr zu einer Literaturtagung nach Budapest fliegt.

Davy ist inzwischen einunddreißig, hat drei Kinder und verdient den Lebensunterhalt für seine Familie als Teilhaber der florierenden Autowerkstatt seines Onkels Everard. Joey ist verlobt und Arbeiter in einer Fabrik in Innisfail. Während sich die Brüder häufig sehen, hat Marya kaum Kontakt zu ihnen.

Achtundzwanzig Jahre nachdem ihre Mutter sie und ihre Brüder verließ, beginnt Marya nach ihr zu suchen und gibt entsprechende Zeitungsanzeigen auf. Als sie zur Hochzeit ihres Bruders Joey nach Innisfail fährt und ein paar Tage bleibt, erfährt sie von ihrer Tante Wilma, dass ihre Mutter unter dem Namen Murchison im New Canaan County, New York, leben soll. Murchison ist der Name ihres dritten Ehemanns.

In ihrem Apartment in New York City schreibt Marya einen Brief nach dem anderen an ihre Mutter, aber jeden davon zerreißt sie anschließend. Bevor sie einen losgeschickt hat, bekommt sie ihrerseits einen Brief von Vera Murchison.

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Marya Knauer kommt aus ebenso ärmlichen wie zerrütteten Verhältnissen, aber mit Ehrgeiz und Begabung gelingt es ihr, Literaturprofessorin und erfolgreiche Schriftstellerin zu werden. In ihrem Kampf um Anerkennung orientiert sie sich an Männern. „Marya. Ein Leben“ ist ein anrührender Bildungsroman über ein Mädchen, das zur Frau reift und die ganze Zeit über nach der eigenen Identität sucht. Konkret und nüchtern schildert Joyce Carol Oates die inneren Konflikte der Protagonistin. In elf Kapiteln greift sie jeweils einen Lebensabschnitt Maryas heraus, vom Tod des Vaters bis zur Suche nach der Mutter achtundzwanzig Jahre später.

Zur Frage, ob „Marya. Ein Leben“ autobiografische Züge habe, schreibt Joyce Carol Oates im Vorwort zur Originalausgabe:

Marya. A Life will very likely remain the most „personal“ of my novels (along with a novel-in-progress called The Green Island ) though it is not, in the strictest sense, autobiographical. It contains some autobiographical material, particularly in its opening sections, and it is set, for the most part, in places identical with or closely resembling places I have lived—Innisfail and its surrounding countryside are akin to Lockport, New York, and its surrounding countryside, where I grew up; Port Oriskany shares some characteristics with Syracuse, New York, where I went to college—but I am not Marya Knauer (who stopped writing fiction because it disturbed her too deeply) and Marya is surely not I (who have been spared Marya’s grimmer experiences with men) […]
Marya was an extremely difficult novel to write, perhaps because it is both „personal“ and „fictional.“ Many of Marya’s thoughts and impressions parallel my own at her approximate age but the circumstances that provoke them have been altered, as have most of the characters […]

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Deutsche Verlags-Anstalt

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