Michael Wildenhain : Das Lächeln der Alligatoren

Das Lächeln der Alligatoren
Das Lächeln der Alligatoren Originalausgabe: Klett-Cotta, Suttgart 2015 ISBN: 978-3-608-93973-6, 240 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Kaum eine menschliche Beziehung, von der in "Das Lächeln der Alligatoren" erzählt wird, ist problemlos: Als der Protagonist Matthias Kastèl noch klein ist, verlässt der Vater die Familie. Zwischen Matthias und seinem geistig behinderten Bruder steht sein Schuldgefühl. Er kommt zwar nach dem Tod seiner Mutter gut mit seinem Pflegevater aus, aber später merkt er, dass er ihn falsch einschätzte. Konfliktreich ist auch seine Liebesbeziehung mit Marta, zumal er lange Zeit nicht ahnt, was sie wirklich umtreibt. Immer wieder merkt Matthias, dass seine Wahrnehmung unvollständig ist ...
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Kritik

Michael Wildenhain lässt seinen Prota­gonisten in der Ich-Form erzählen, zuerst als Gymnasiasten, dann als Studenten und schließlich als Professor. Nach und nach werden die Zusammenhänge erkennbar. Indem Michael Wildenhain vieles zunächst nur andeutet, erzeugt er Spannung.
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Matthias ist 12 Jahre alt, als die Eltern im Herbst 1969 mit ihm und seinem jüngeren Bruder Carsten von Berlin nach Wolfskehl in der Lüneburger Heide fahren, um seinen Onkel Manfred in dessen Wochenendhaus zu besuchen. Bei Onkel Manfred handelt es sich um den Halbbruder des Vaters, einen wohlhabenden Mediziner. Beim wilden Spielen in Wolfskehl stößt Matthias seinen Bruder Carsten vom Bett. Danach klagt Carsten über Kopfschmerzen, aber sowohl der Vater als auch der Onkel sind bereits abgereist, und die Mutter ahnt nicht, dass ihr jüngerer Sohn ernsthaft verletzt ist. Als sie ihn endlich im Krankenhaus untersuchen lässt, wird eine Gehirnentzündung diagnostiziert. Carsten, der bereits mit drei Jahren besser rechnen konnte, als andere Kinder in den ersten beiden Schulklassen, spricht nicht mehr, reagiert kaum auf andere Menschen, lässt sich nicht anfassen und legt unentwegt mit Bauklötzen geometrische Farbmuster. Der Vater erträgt den Zustand des jüngeren Sohnes bald nicht mehr und verlässt die Familie. Carsten muss in ein Heim gebracht werden.

Drei Jahre nach dem Unfall fährt die Mutter mit dem Gymnasiasten Matthias in den Sommerferien für drei Wochen von Westberlin nach Sylt. Den Urlaub können sie sich eigentlich nicht leisten, aber die Mutter möchte Carsten im Heim besuchen.

Die beiden Mädchen, die Carsten betreuen, Peggy und Marta, lassen sie zunächst nicht zu ihm. Er sei krank und brauche Ruhe, sagen sie. Während die Mutter fast den ganzen Tag im Ferienbungalow schläft, beobachtet Matthias mit einem heimlich mitgenommenen Fernglas des Vermieters die Mädchen. Marta ist keine Pflegerin wie Peggy, sondern arbeitet nur in den Ferien in dem Heim der Arbeiterwohlfahrt auf Sylt. Ihren 18. Geburtstag feiert Marta mit Peggy. Matthias sieht sie beide nackt und betrunken.

Einmal beobachtet er, wie Peggy zunächst ihrer Freundin und dann sich selbst mit Wachs das Schamhaar und die Härchen auf den Oberschenkeln entfernt. Bei einer anderen Gelegenheit sieht er, wie Marta eine am Rücken verletzte Katze, die ihre Hinterpfoten nicht mehr bewegen kann, aufhebt und ihr mit zwei gegenläufigen Drehungen der Hände das Genick bricht.

Erst nach zwei Tagen dürfen Matthias und seine Mutter zu Carsten, aber er reagiert nicht weiter auf sie. Während niemand ihn sonst berühren darf, lässt Carsten sich von den Mädchen sogar in den Arm nehmen und beruhigen.

Matthias klettert durch ein angelehntes Fenster in die Wohnung, die Marta und Peggy sich teilen und nimmt einen Schlüssel mit, mit dem er dann nachts ins Heim eindringt und die Tür zum Zimmer seines Bruders aufschließt. Er geht mit ihm in einen Aufenthaltsraum und lässt ihn mit Bauklötzen spielen. Dann bringt er ihn wieder zurück. Bevor Matthias geht, holt Carsten etwas unter dem Bett hervor und lässt es auf den Boden fallen. Matthias hebt es auf. Es ist ein fein säuberlich zusammengelegtes und glattgestrichenes Silberpapier, in dem ein Stück Vollmilchschokolade eingewickelt war, das Matthias seinem Bruder nach dem Unfall geschenkt hatte.

Bei einer Party im Speisesaal des Heims ist Matthias der jüngste Gast. Marta küsst ihn. Aber als er ihr später zu ihrer Wohnung nachläuft, ertappt er sie beim Liebesspiel mit Peggy.

Aufgewühlt kehrt Matthias zum Ferienbungalow zurück. Im Dunkeln sieht er seine Mutter am Fenster. Sie stützt sich mit den Fäusten auf die Fensterbank, und ihre aus dem Büstenhalter gerutschten Brüste werden stoßweise gegen die Scheibe gepresst. Von hinten greift ihr der Vermieter ins Haar.

Lange nach Mitternacht schleicht Matthias sich erneut zu seinem Bruder. Diesmal geht er mit ihm zu den Gelegen der Mantel- oder Silbermöwen in den Dünen. Während Matthias sich in einer Betonröhre in Sicherheit bringt, feuert er eine Spielzeugpistole ab und scheucht dadurch die Möwen auf. Sie steigen auf, greifen Carsten im Sturzflug kreischend an, hacken nach ihm und packen die Schokolade, die Matthias ihm gab. Marta und Peggy kommen angerannt. Sie verscheuchen die Möwen und kümmern sich um Carsten, der an einigen Stellen blutet. Während Peggy den kranken Jungen zurückbringt, bleibt Marta sitzen, bis Matthias es in seinem Versteck nicht mehr aushält und er zu ihr geht.

„Ach, Matthias“, sagt sie und beugt sich zu mir und küsst mich lange auf den Mund.

Dreieinhalb Jahre nach den Ferien auf Sylt stirbt die Mutter. Der Vater, der inzwischen neu verheiratet ist, überlässt Matthias seinem Halbbruder Prof. Dr. Dr. Manfred Erich Kastèl, einem sowohl in Medizin als auch in Psychologie promovierten, auf Gehirnoperationen vor allem von Kindern spezialisierten Arzt in Berlin. Matthias hört seinen Onkel sagen: „Es ist besser für ihn, Carl, glaube es mir.“ Seltsamerweise nennt er seinen Halbbruder Carl, obwohl dieser Harald heißt. Nach der von einem Notar besiegelten Abtretung verweigert Matthias dem Vater seiner Kindheit den Handschlag, und von nun an nennt er seinen Onkel Vater.

Fünf Jahre lang hört Matthias nichts von Marta. Er studiert Informatik mit Schwerpunkt Künstliche Intelligenz in Berlin. In einer Vorlesung sieht er zu seiner Überraschung einige Reihen vor sich Marta, die er sogar von hinten sofort erkennt. Sie meldet sich und fragt den Dozenten:

„In Ihren Ausführungen suggerieren Sie, ein großer, ein lernfähiger Rechner, ein Ensemble von Computern könne, obwohl programmiert, Ähnliches ausbilden wie – Bewusstsein?“

Der Dozent, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Informatik, bittet sie, ihre Frage zurückzustellen und reagiert ungehalten, als sie am nächsten Tag noch vor dem Beginn der Vorlesung sagt:

„Entschuldigen Sie, aber ich möchte noch einmal auf meine gestrige Frage und auf Ihre ungenügende Antwort zurückkommen, Herr …“

Als der Dozent sich erneut weigert, darauf einzugehen, meldet sich Matthias und referiert über Marvin Minsky, Hubert Dreyfus und Terry Winograd. Der Dozent meint: „Sind Sie sich sicher, dass Sie wissen, wovon Sie reden?“ Aber Matthias lässt sich nicht bremsen, und schließlich sagt der Dozent:

„Wenn Sie all das wissen, warum sitzen Sie dann hier?“ […]
„Ich …“
„Also“, der Professor wendet sich an sein ehrfürchtig abwartendes Publikum. „Ich möchte Sie nur ungern unterbrechen. Ihr stupendes Wissen nötigt mir Bewunderung ab. Aber am Ende meines heutigen Vortrags …“
„Wir gehen, Matthias!“
Marta drängt sich an den Zuhörern vorbei zum Mittelgang […] „Der werte Herr verträgt es nicht, wenn jemand etwas mehr weiß als er selber.“

Matthias erfährt, dass Marta zwar kein Abitur hat und auch nicht immatrikuliert ist, aber Vorlesungen in Linguistik, Informatik und Soziologie hört. Sie treffen sich von nun an täglich und gehen miteinander des Öfteren ins Kino. Als Marta ihn mit in den Film „Die 120 Tage von Sodom“ von Pier Paolo Pasolini nimmt, ist Matthias entsetzt über die Nacktheit und Demütigung der Männer und Frauen. Er würde Marta gern anfassen und seine Hand unter ihren Pullover schieben, aber dazu fehlt ihm der Mut.

Nach einer Weile lädt Marta ihn ein und stellt ihm die beiden um die 30 Jahre alten Männer vor, mit denen sie sich eine Wohnung in Berlin teilt: Gregor und Georg. Ein Joint wird herumgereicht, aber Matthias weigert sich, ihn zu probieren. Ein Besucher kommt, und Marta zieht sich mit ihm in einen anderen Raum zurück. Georg warnt Matthias vor Marta und meint, sie sei ein echtes Biest. Matthias geht, aber Marta läuft ihm nach. Im Dunkeln nehmen sie ein Boot im Tiergarten und rudern auf den See hinaus. Als Marta sich auszieht, fragt Matthias nach Peggy, und sie antwortet:

„Ach, Peggy. Du solltest nicht so eifersüchtig sein, so schrecklich egoistisch und besitzergreifend.“

Leckt meinen Hals, meine Brust, meinen Bauch. Bedeutet mir, mich zurückzulehnen. Hilft mir, sich ihr zu ergeben. Das Lachen der Alligatoren. Roh die Verrichtung und schnell.

Prof. Manfred Kastèl leitete die Expertenkommission, die in der Frage, ob in Hungerstreik getretene RAF-Mitglieder wie Holger Meins zwangsernährt werden sollten oder nicht, zu Rate gezogen wurde. Bei einem Vortrag Kastèls mit dem Titel „Folgen des Flüssigkeits- und Nahrungsentzugs auf Körper und Psyche des Menschen“ entdeckt Matthias im Publikum nicht nur Marta, Georg und Gregor, sondern auch den Besucher in der Kommune, der etwas mit Marta zu besprechen hatte. Georg erhebt sich:

„Sie erzählen uns hier was über Nahrungs- und Wasserentzug. Tun dabei wissenschaftlich. Wie Sie wissen, findet in bundesdeutschen Haftanstalten grade ein Hungerstreik statt. Wegen …“
„Ja“, sagt mein Vater. „Auch deshalb mein heutiges Thema.“

Da steht Gregor auf:

„Das, was Sie hier trocken theoretisch … ist für die Gefangnen Tortur, brutale Folter!“ […]
„Dies ist ein medizinischer Vortrag. Welche Maßnahmen der Staat aufgrund seiner Fürsorgepflicht ergreift und wie das international diskutiert wird, ist heute nicht mein Thema. Lesen Sie Ihren Text vor“, sagt mein Vater. „Danach gehen Sie bitte.“

Marta ruft:

„Keiner hier hat vor, Ihnen weiter zuzuhören, Herr Professor Dr. Dr. Kastèl.“

Später geht Matthias zu der Kommune. Die Tür steht offen, und die Räume sind voller Menschen. Marta kommt aus ihrem Zimmer. Sie trägt nur eine Pluderhose. Ihr Oberkörper ist nackt. Als sie ihn entdeckt, sagt sie:

„Es gibt, Matthias, Dinge, die wichtiger sind als deine schrecklich romantische Vorstellung von der Liebe.“

Am nächsten Tag reiht Matthias sich bei einem Demonstrationszug ein, der auf Flugblättern der Kommune angekündigt wurde. Als die Polizei sich den Demonstranten entgegenstellt, flüchtet Marta mit Matthias in die Wohnung eines abwesenden Freundes und meint:

„Besser für dich, Matthias, wenn du mich einfach vergisst.“

Aber in den nächsten fünf Tagen schlafen sie miteinander in der Einliegerwohnung in einer Villa im Westend, die Prof. Kastèl für seinen Pflegesohn renovieren lassen will. Marta erzählt, dass Gregors Mutter die Geliebte eines polnischen Zwangsarbeiters gewesen sei und ihren Sohn allein aufgezogen habe. Marta ist Einzelkind, wuchs aber mit dem Mann, mit dem sie sich in der Kommune besprach, wie mit einem Bruder auf. Sie war 16, als sie mit ihm von zu Hause fortging. Wenn sich Matthias nach ihren politischen Aktivitäten erkundigt, weicht sie aus. Einmal nimmt sie Vaseline, fordert ihn zum Analsex auf und ermutigt ihn, grob zu sein.

Prof. Kastèl bricht zu einer dreiwöchigen Vortragsreise in die USA auf, und Matthias wandert allein in den Dolomiten. Seine Wanderstiefel sind noch schmutzig, als er im Haus seines ebenfalls nach Berlin zurückgekehrten Pflegevaters einen Schuss hört. Er rennt los. Die Tür zum Arbeitszimmer steht halb offen. Matthias bleibt auf dem Korridor im Schatten stehen. Niemand achtet auf ihn. Der Professor lehnt an seinem schweren Schreibtisch. Er blutet am Bauch. Gregor krümmt sich vor Schmerzen und hält sein Gesicht mit blutverschmierten Händen. Die Signalpistole, die Manfred Kastèl augenscheinlich auf ihn abfeuerte, liegt auf dem Boden. Georg hat die Waffe, mit der er dem Professor in den Bauch schoss, sinken lassen. Dann sieht Matthias Marta. Ihr rechter Unterarm blutet. Mit der linken Hand wirft sie einen Brieföffner weg, zertritt einen gläsernen Lampenschirm und zischt: „Was für eine Scheiße ist denn das jetzt?“ Georg stiert Marta an: „Was jetzt?“ „Erschieß ihn“, sagt sie. Dann nimmt sie Georg die Pistole weg, hält sie dem Professor an den Kopf und drückt ab.

Ich betrete ich das Zimmer, als mein Vater fällt.
Ich sage nichts. Ich schreie nicht. Ich betrete den Raum.
Gregor bleibt mit sich beschäftigt. Georg zittert und weint. Marta fährt herum.
„Was machst du hier?“
Sie starrt mich an.

Marta richtet die Waffe auf ihn, erschießt ihn aber dann doch nicht, sondern flüchtet mit ihren Komplizen. Es dauert einige Zeit, bis Matthias daran denkt, das Telefon zu benutzen. Aber die Leitung ist tot. Daraufhin schnürt er seine Wanderstiefel und geht zum nächsten Polizeirevier.

Was hätte ich ändern können? Was hätte ich anders machen müssen? Wäre es meine Pflicht gewesen, meinem Vater von Marta zu erzählen?

Dass der Mann, mit dem Marta zusammen aufwuchs, erschossen wurde, erfährt Matthias aus der Zeitung. Er versuchte mit zwei Begleiterinnen, den Vorstandsvorsitzenden einer der größten deutschen Banken zu entführen. Dabei wurden sie überrascht. Die beiden Frauen sind im Gefängnis. Bald darauf werden auch Gregor und Georg in einem Hinterhaus im Westend festgenommen. Marta bleibt verschwunden.

Matthias erfährt, was geschah. Marta hatte sich Nachschlüssel für das Haus seines Pflegevaters beschafft. Das war ihr durch die Beziehung mit ihm nicht schwer gefallen. Als Prof. Kastèl von der USA-Reise nach Berlin zurückkam, warteten Marta, Georg und Gregor im Erdgeschoss auf ihn. Die Aktion sollte parallel zur Entführung des Bankers stattfinden. Als der Mediziner ins Arbeitszimmer hoch ging, folgte ihm Gregor. Manfred Kastèl bemerkte den Eindringling, riss die entsichert in einer Schreibtischschublade liegende Signalpistole hoch und schoss ihm zweimal ins Gesicht. Marta betrat den Raum. Der Professor packte den Brieföffner, der auf dem Stapel ungeöffneter Post lag und rammte ihn der Frau in den rechten Arm. Im nächsten Augenblick schoss Georg auf ihn. Den Rest hat Matthias selbst beobachtet.

Obwohl Matthias sowohl die Villa im Westend als auch das Wochenendhaus in Wolfskehl erbt, zieht er in eine Gartenlaube, die früher ein Geräteschuppen war. Sein leiblicher Vater nimmt Urlaub, kommt nach Berlin und steht ihm bei. Matthias beantragt ein Urlaubssemester, das wird ihm wegen der Umstände ohne Weiteres gewährt wird.

Zu den Hinterlassenschaften des Ermordeten gehört auch ein Bankschließfach. Der Rechtsanwalt, von dem Matthias sich den Schlüssel holen will, gibt ihm zu bedenken:

„Sie sollten sich das genau überlegen. Man muss, glauben Sie mir, nicht alles wissen.“


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Aber Matthias holt die Kladden, Akten, losen Blätter aus dem Schließfach und liest die Dokumente und Aufzeichnungen, aus denen hervorgeht, dass sein Onkel in der NS-Zeit nicht nur die Sterilisierung debiler Menschen propagierte, sondern auch die Euthanasie befürwortete und selbst in KZs medizinische Menschenversuche durchführte.

Marta wird unweit von Hamburg verhaftet und kurz darauf nach Berlin verlegt. Beim Prozess gegen sie vor dem Landgericht Moabit tritt Matthias als Nebenkläger auf, aber sie blickt ihn nicht einmal an. Seine Briefe bleiben unbeantwortet und nach Marthas Verurteilung vergeht einige Zeit, bis sie seinem Besuch in der Frauenhaftanstalt zustimmt.

Eine Aufseherin bewacht die beiden, während sie sich an einem Tisch gegenüber sitzen. Ohne Vorankündigung springt Marta auf, stößt die Wachhabende, die sich fast gleichzeitig erhebt, so grob zurück, dass diese gegen die Wand prallt, beugt sich über den Tisch, umarmt Matthias, und während der Alarm schrillt, flüstert sie ihm ins Ohr: „Besser für dich, Matthias, wenn du mich einfach vergisst.“ – Nach dem Verlassen der Justizvollzugsanstalt öffnet Matthias seine Faust. Marta hat ihm ein Stück von einem hellroten Bauklötzchen zugesteckt, mit dem vermutlich sein Bruder auf Sylt gespielt hatte.

Einige Zeit später entkommt Marta aus dem Gefängnis und taucht unter.

Im Alter von knapp 45 Jahren hält Matthias seine Antrittsvorlesung am neu geschaffenen Institut für Neurowissenschaften in Hamburg. Er ist Professor für Vergleichende Kognitionswissenschaft und wohnt mit seiner Familie in Berlin. Seine Ehefrau Marianne arbeitet als Kostümbildnerin. Sie haben einen Sohn und eine Tochter. Matthias traut seinen Augen nicht, als er im Publikum Marta entdeckt. Später, beim Betreten des Hotels, ist er überzeugt, dass er sich geirrt habe. Eine Terroristin, nach der die Polizei seit mehr als zwei Jahrzehnten erfolglos fahndet, würde sich doch nicht in seine Vorlesung wagen! Aber sie wartet in seiner Suite auf ihn.

„Wie bist du …?“
Marta zieht die Brauen hoch, vollführt eine wegwerfende Handbewegung.
„War eine schöne Vorlesung. Liegen dir alle zu Füßen, Matthias.“

Sie durchquert den Raum, hängt das Schild „Bitte nicht stören“ draußen an den Türknauf, legt die Sperrkette vor, schiebt die Kofferablage gegen die Tür, zieht die Jeans aus und setzt sich mit gespreizten Beinen rittlings auf seinen Schoß. Dann entledigt sie sich ihres Pullovers. Dass er Nasenbluten bekommt und sein Blut auf ihre Brüste tropft, stört sie nicht. Sie hilft ihm aus der Hose und zieht den Steg ihre Slips zur Seite, damit er in sie eindringen kann.

Als er aus dem Bad kommt, ist sie bereits fort. Sein Handy steckt nicht mehr im Ladegerät, sondern liegt auf dem Tisch. Matthias drückt die Wahlwiederholung. Als sich jemand von der Generalbundesanwaltschaft meldet, beendet er verwundert die Verbindung.

Marta erzählte ihm, dass sein Bruder inzwischen in einer kleinen Kirche singt. Matthias war schon seit Jahren nicht mehr auf Sylt. Noch in der Nacht packt er ein paar Sachen, verlässt das Hotel ohne auszuchecken, läuft zum Bahnhof und fährt mit dem ersten Zug am Morgen nach Westerland. Peggy öffnet ihm, aber sie erkennt ihn nicht, und er sagt, er habe sich in der Tür geirrt.

Am Strand entdeckt er Marta. Sie joggt, wie damals, als er sich als Jugendlicher in sie verliebte. Manchmal sei sie hier, sagt sie. Die Polizei fahnde zwar weltweit nach ihr, aber ihre Ergreifung sei keine Toppriorität mehr. „Heute fliegen Flugzeuge in Wolkenkratzer. Meine Zeit ist um.“

In der Kirche hört Matthias seinen Bruder singen. Marta spielt dazu auf der Orgel und trägt aus diesem Anlass ein Jackett. Ein Sondereinsatzkommando besetzt alle Ausgänge. Die maskierten Männer, die in schusssicheren Westen durch den Mittelgang nach vorne gehen, bedeuten den wenigen Zuhörern, sich zu ducken. Marta wird aufgefordert, die Hände von den Tasten zu nehmen und sie über den Kopf zu strecken, sich langsam zu erheben und auf den Boden zu legen. Sie steht auf. Als sie mit der linken Hand ins Jackett greift, erschießt ein SEK-Beamter sie, ohne zu zögern.

Carsten flüchtet zu seinem Bruder und drückt sich Schutz suchend an ihn.

Aufgrund des Anrufs beim Generalbundesanwalt hat man das Handy geortet. Offenbar hat Marta es so gewollt.

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Kaum eine menschliche Beziehung, von der Michael Wildenhain in seinem Roman „Das Lächeln der Alligatoren“ erzählt, ist problemlos: Als der Protagonist Matthias Kastèl noch klein ist, verlässt der Vater die Familie. Zwischen Matthias und seinem geistig behinderten Bruder steht sein Schuldgefühl. Er kommt zwar nach dem Tod seiner Mutter gut mit seinem Pflegevater aus, aber später merkt er, dass er ihn falsch einschätzte. Konfliktreich ist auch seine Liebesbeziehung mit Marta, zumal er lange Zeit nicht ahnt, was sie wirklich umtreibt.

Michael Wildenhain lässt seinen Protagonisten in der Ich-Form zu Wort kommen. Zunächst beobachten wir den knapp 15-jährigen Gymnasiasten Matthias auf Sylt. Im mittleren Teil des Romans „Das Lächeln der Alligatoren“ ist Matthias fünf Jahre älter und studiert in Berlin. Der letzte Teil spielt weitere 25 Jahre später und beginnt mit Matthias‘ Antrittsvorlesung als Kognitionswissenschaftler in Hamburg. Mit dem Alter des Ich-Erzählers wechselt auch seine Sichtweise. Aber in allen drei Phasen ist seine Wahrnehmung wenn nicht falsch, dann zumindest unvollständig.

Vielleicht hat Michael Wildenhain seinen Roman „Das Lächeln der Alligatoren“ ein wenig mit Themen überfrachtet: kindliche Schuld, pubertäre Schwärmerei, erste sexuelle Erfahrungen, Scheidung der Eltern, Tod der Mutter, Pflegevater, geistige Behinderung im Allgemeinen und Autismus im Besonderen, Euthanasie und Menschenversuche, RAF, Zwangsernährung von Häftlingen im Hungerstreik, Kognitionswissenschaft …

Medizin, Museen, Philosophie und Kunst. […] Keine Gebete. Gottesbeweise und ihr Scheitern. Willkür postulierter Prämissen. Fehlende Letztbegründung jeglicher Moral. Geschichtliche Gewordenheit aller Dinge. Ein Pluralismus, der Meinungen verbietet, verbieten muss, um die, vermeintliche, Freiheit nicht zu gefährden. Entdeckungen Gödels oder Gottlob Freges. Die vergebliche Mühe des Wiener Kreises: Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt. Ein Raum mit Büchern. Die verlorene Utopie eines finalen Normativismus.

Auf jeden Fall entwickelt Michael Wildenhain die Geschichte souverän. Er überfordert die Leser mit „Das Lächeln der Alligatoren“ auch nicht, weil er die Zusammenhänge erst nach und nach erkennen lässt. Indem er vieles zunächst nur andeutet, erzeugt er Spannung, denn man möchte wissen, was es damit auf sich hat.

Michael Wildenhain wurde am 20. September 1958 als Sohn eines Schlossers und einer Erzieherin in Westberlin geboren. Nach dem Abitur und einem Praktikum als Maschinenbauer studierte er Philosophie und Wirtschaftsingenieurwesen. Anfang der Achtzigerjahre engagierte er sich in der Hausbesetzerszene in Berlin. 1983 veröffentlichte er seinen Debütroman: „Zum Beispiel K.“

Sein Roman „Das Lächeln der Alligatoren“ steht auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

Michael Wildenhain: Die Erfindung der Null

María Gainza - Schwarzlicht
Kunst, Fälschung, Plagiat, darum dreht sich der Roman "Schwarzlicht" von María Gainza ebenso wie um die Vergeblichkeit der Bemühungen, eine bestimmte Person zu definieren und deren Biografie festzunageln. Das macht den Reiz des Romans aus.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.