Sibylle Berg : Ende gut

Ende gut
Ende gut Originalausgabe: Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2005 ISBN: 978-3-499-23858-1, 335 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im ersten Teil ihres in naher Zukunft spielenden Romans "Ende gut" skizziert Sibylle Berg das nihilistische, misanthropische und trostlose Weltbild der einsamen Ich-Erzählerin. Eine Handlung im engeren Sinne hat "Ende gut" erst einmal nicht. Nach einer originellen Zäsur beginnt eine Odyssee der Protagonistin durch ein von Terroranschlägen und Pandemien verwüstetes Europa. Damit setzt die Handlung eines grotesken Endzeitromans ein ...
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Kritik

Sibylle Berg reichert den Text der Ich-Erzählerin in "Ende gut" durch sogenannte "Infohaufen" und zahlreiche "O-Ton"-Einlagen an. Sie versteht es, ihre guten Beobachtungen und sarkastischen Ansichten mit viel Sprachwitz pointiert zu formulieren.
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„Ich bin so um die 40.“ (Seite 15)

Mit diesem Satz beginnt Sibylle Berg ihren Roman „Ende gut“. Seit sie vor zwanzig Jahren ihre Geburtsstadt Weimar verlassen hat, lebt sie „in einer unattraktiven deutschen Stadt (Wuppertal, Gießen, Hannover, Duisburg, egal)“ (Seite 165).

Meine Wohnung ist auf jeden Fall billig. Nachdem ich den Mietvertrag unterschrieben und angeekelt die dunkle Bude betrachtet hatte, dachte ich, dass ich wenigstens viel Geld für informative, lehrsame Reisen übrig haben würde. Außerdem wäre ich in dem spannenden Leben, das mir bevorstünde, vermutlich sowieso nicht oft zu Hause, denn da wäre die Welt, und die würde ich erforschen mit meinen interessanten Bekannten.
Ich bin dann auch mal auf Mallorca gewesen. Alleine. (Seite 25)

In den ersten Monaten, da ich neu in der Stadt war, stand und saß ich abends in Bars herum, um Leute zu finden, Männer, die große Liebe, will sagen: einen Sinn. Ist man jung, denkt man, es gäbe einen, und das Unglück der Jugend erwächst aus diesem Irrtum. Alle wüssten, so glaubt man, worum es geht. Wie sie liefen, so schnell, so zielgerichtet, die anderen mussten doch etwas gefunden haben, das ihnen eine Rechtfertigung für ihre Geschwindigkeit gab. Dachte man. (Seite 67)

Wenn man isst, schläft, keine Drogen nimmt, sich sauber hält und nicht weiter auffällt, dann passiert es einem so, das Leben, man muss da keine Verrenkungen machen. (Seite 15)

Sie lebt allein.

Ich habe kein Bedürfnis danach, Fremde kennenzulernen. Die Leute, ich bereits kenne, langweilen mich ausreichend. Nicht weil ich sie für weniger wertvoll erachte, ich halte die meisten Menschen für genauso unerheblich und leer wie mich – die Öde entspringt eher der Unverbindlichkeit der Beziehungen […] (Seite 40)

Sex langweilt sie.

Weil wir gerade vom Verkehr reden – ich glaube, dass sich keine Frau wirklich dafür interessiert. Die Sache wurde kompliziert, als die Geschlechtlichkeit wie ALLES erklärt und verstanden werden musste. Auf einmal jagten Frauen nach einem Orgasmus. Verspannten sich, fühlten sich zu kurz gekommen, ausgebeutet. Aber das kann doch nicht sein, dass es um diese kleine halbsekündige Spasmenreaktion geht. Früher war den meisten Frauen der Akt etwas Albernes, sie spielten wie ein Kind mit Puppen, mit der Reizbarkeit der Männer. Zogen sich alberne Strapse an, zeigten die Möse, nach ein paar Sekunden war die Sache vorbei, und alle hatten ihre Ruhe. Selbst schuld, die Damen, die nun stundenlang ungeschickte Liebkosungen ertragen oder sich nach G-Punkten untersuchen. Ihr habt euch keinen Gefallen getan. (Seite 67f)

In ihrer Jugend hatte sie Mannequin werden wollen, und als ihr das nicht gelang, Filmschauspielerin, aber auch daraus war nichts geworden. Stattdessen verdient sie ihren Lebensunterhalt in ständig wechselnden Jobs; lang bleibt sie nirgendwo.

Ich halte mich für etwas BESSERES. Jeder hält sich für etwas Besseres, das ist keine originelle Idee. (Seite 167)

Jeder fühlt sich einmalig, und alle wollen dasselbe […] Einmalig sein. (Seite 206)

Trotz ihrer Misanthropie beobachtet sie die Menschen und registriert beispielsweise, dass sich welche „aufregen, wenn sie erfahren, dass die Brocken, die in ihren Leibern verwesen, von mit Pestizid vollgestopften toten Tieren stammen“ (Seite 21).

Im Zuwanderer-Öko-Sozialhilfeempfänger-Viertel ist es morgens schon sehr umtriebig. Frauen mit Kopftüchern watscheln in Gemüseläden, sie verstehen nach 40 Jahren kein Wort der Sprache des Landes, das sie ernährt, ihnen Moscheen baut und Rente zahlt. (Seite 61)

Ich fand Leute, die ihre Frauen zuhängen, schon immer suspekt, doch es hatte so ausgesehen, als ob sich auch der gemeine Araber dem Fortschritt nicht ewig würde verschließen können. Frauen hatten das Studieren begonnen, sie konnten sich in einigen Ländern sogar von ihren idiotischen Männern trennen. Doch das alles ist jetzt wieder vorbei. Im Schulterschluss gegen die Invasion der westlichen Welt ist die Macht der Männer zurückgekehrt. Mit […] der Dämonisierung von Kunst, dem Verbot von Musik, Cafés, Restaurants, enger Kleidung, Spirituosen, Kino und Baden, der Diskriminierung alleinstehender, allein lebender Frauen, die sich ihre Männer selber wählen. Ein letztes Aufbäumen der Vergangenheit. Globalisierungsgegner mit drolligen Bärten. (Seite 300)

O-TON AISHE – IN HEIMATSPRACHE, SIMULTAN ÜBERSETZT Ich bin da nicht völlig ohne Mitleid. Zwei Frauen gesteinigt, ja sicher, als Menschen tun sie mir leid. Aber sie haben Gesetze gebrochen, heilige Gesetze. Jeder muss sich daran halten, weil die Welt sonst verrückt wird, weil es sonst keine Ordnung gibt. (Seite 61)

Sie beobachtet „Heroin-, Tabletten-, Alkohol– und Opiumverwender“ (Seite 87). In Anbetracht der kaputten Typen, die überall anzutreffen sind, wird die Ich-Erzählerin zu einer Befürworterin der Präimplantationsdiagnostik:

Bereits vor der Geburt werden die Menschen zurechtgebaut in einem Gen-Baukasten. Ich habe nichts dagegen, denn wenn man sieht, was aus freilaufenden Genen entsteht, kann man diese Entwicklung nur begrüßen. (Seite 33)

Einen Mann, der früher wie sie in der DDR lebte, hört sie klagen:

O-TON OSSI HERBERT Mein Hab und Gut – alles dahin. Vierzig Jahre Arbeit, stückweit umsonst. Erst hat uns die DDR betrogen um unseren gerechten Lohn, und dann kamen die Wessis und die Treuhand und der Teuro. Von vorne bis hinten beschissen. Ich bin Frührenter, da, sehn Sie, na, Sie sehen nichts, da ist das Bein weg. Noch mal alles aufbauen, das kann ich vergessen. (Seite 20)

Die Spekulanten, die ihr Geld in der Weltwirtschaftskrise verloren haben, können von ihr kein Mitleid erwarten.

Sie müssen arbeiten, so ein Mist, haben doch auf Reichtum an der Börse gehofft, ihre Bausparverträge gekündigt, alles in T-Aktien oder den Neuen Markt investiert, sich clever und irgendwie reich gefühlt – klar mach ich auch an der Börse, so schwierig ist das gar nicht, wenn man sich informiert, ich telefoniere täglich mit meinem Broker –, und nun ist alles weg, ein Grund mehr, Amerika zu hassen, haben die nicht mit dem Aktiendreck angefangen? (Seite 54)

Obwohl sie Menschen verachtet, „die zu viel Aufhebens um sich machen, die ihre Umwelt belästigen mit […] Eitelkeit oder Selbstmord“ (Seite 88) setzt sie sich bei der Frau, die über ihr wohnt, an den Rand der Badewanne und hilft ihr, sich die Pulsadern aufzuschneiden.

Wer glücklich ist in dieser Welt, muss geisteskrank sein. (Seite 29)

Als die Nachbarin verblutet ist, schaut sie sich in der Wohnung um, einer „Manifestation des Scheiterns auf niedrigstem Niveau“ (Seite 130), und nimmt den Schmuck mit. Sie beschließt, dem Beispiel der Selbstmörderin nicht zu folgen, packt ihren Rucksack, und als sie geht, lässt sie die Wohnungstüre offen.

Vielleicht gibt es nicht nur einen persönlichen Höhepunkt (den man meist nicht mitbekommt), sondern auch einen Tiefpunkt, an dem man sich entscheiden kann: aufgeben oder weitermachen. Ich entscheide mich fürs Weiterleben. Ich glaube nicht, dass ein Wunder auf mich wartet, oder dass die Welt fantastisch wird […], doch ich werde noch einen Anlauf nehmen. Ausprobieren, was passiert, wenn ich alles anders mache. Sterben kann ich nach dem Versuch immer noch. (Seite 139)

Nachdem sie einen Teil des gestohlenen Schmucks verkauft hat, stellt sie sich als Anhalterin an die Autobahn. Erst nach längerer Zeit hält ein großkotziger Immobilienmakler, der nach Hamburg fährt. Das Reiseziel ist ihr recht. Sie steigt ein.

O-TON GERALD Meine Güte, das ist ja nicht zum Aushalten hier. Was, wie, finden Sie auch, nicht? Für Leute wie mich, die auf Flugzeuge angewiesen sind, ist das die reinste Hölle, dieses Terrorzeug. Alle Maschinen ausgefallen heute Morgen. Und die Aktien wieder am Arsch. (Seite 151)

Von Mallorca hält der Makler Gerald nichts:

Mallorca ist ein Haufen Scheiße. Sechzehn Millionen Besucher. Sechzehn Millionen, ich meine, hey! Das ist Ausland für Leute, die Angst vor dem Ausland haben. (Seite 152)

In Hamburg schaut sie sich auf der Reeperbahn und in der Große Freiheit um, bevor sie noch ein Bett für die Nacht hat.

Ich gehe in ein Lokal, weil mich ein heiter uniformierter Herr vor der Tür nett darum bittet. (Seite 158)

Auf der kleinen Bühne haben ein Mann und eine Frau Geschlechtsverkehr.

Beide […] strahlen die tiefe Demütigung jener aus, die sich um ihre Träume betrogen fühlen. (Seite 159)

Sobald das Paar die Bühne verlassen hat, fordert ein dicker Mann, wohl der Geschäftsführer des Etablissements, eine Reihe von Bewerberinnen und Bewerbern auf, sich zu entkleiden, auf die Bühne zu kommen und sich vorzustellen. Es handelt sich um arbeitslose Medienberater, Journalisten, Eventmanager, Webdesigner und Werbegrafikerinnen.

Die Bewerber, vor kurzem noch die Elite unseres Landes, stehen entblößt und schämen sich. (Seite 162)

Der Geschäftsführer fügt sie zu Paaren, verteilt Kondome, und die Nackten sehen sich ratlos an. Zunächst schafft nur einer der Männer eine Erektion, bei den anderen müssen die Frauen nachhelfen. Da verlässt die Ich-Erzählerin das Nachtlokal.

Ein Kranführer vom Hamburger Hafen erzählt:

O-TON KUDDEL Ich steh um zwei in der Nacht auf, wenn die Frühschicht dran ist […] Ich hab Hemmung, zu lange wach zu bleiben, weil das büß ich dann beim Aufstehen um zwei. Also gegen neun hängt bei mir die Hose kalt am Bett. Meine Kleidung wasch ich im Waschbecken. Mich auch, aber nur einmal in der Woche. Bis vor einem Jahr hatte ich ab und zu Sex mit einer Frau, die aber Alkoholikerin war. Das ging immer. Die kam immer mit, wenn ich wollte. Sie hatte einen sehr unansehnlichen Körper. So einen Bruch im Bauch, da war eine riesige harte Beule, und alles voll Narben und blauer Flecke, und keine Zähne hatte sie. Aber wenn ich betrunken war, dann ging es. Die Frau ist dann überfahren worden. (Seite 156f)

In einer Kneipe fällt ihr eine am Tresen stehende Frau auf:

Interessant, wie weit man sich von der Gestalt, mit der man auf die Welt kam, entfernen kann. (Seite 168)

Aufgrund einer Bombendrohung werden alle aufgefordert, einen Schutzraum aufzusuchen. Dort tauchen dann Männer in weißen Schutzanzügen auf. Sie packen die Toten in Säcke, legen die noch Röchelnden auf Tragen und führen die Lebendigen – darunter die Erzählerin – zu einem bereitstehenden Bus, der sie zu einem öffentlichen Gebäude bringt, in dem Pritschen mit Rot-Kreuz-Decken bereitstehen.

Die Menschheit ist schon immer Scheiße gewesen. Und nun ist auch noch die Welt, auf der sie herumläuft, zu einem Haufen Dings geworden […] (Seite 18)

Noch in der Nacht flieht die Erzählerin mit einem etwa vier Jahre alten Mädchen durchs Fenster.

Die Autobahn ist leer. Erst nach Stunden hält ein Lastwagen. Der Fahrer, der sie mitnimmt, heißt Hauke und ist Landwirt.

O-TON HAUKE Ich bin einfach abgehauen. Hatte keine Lust auf das Chaos. Erst gab es Alarm und dann irgendeine Seuchensache. Es hat einen keine Sau informiert. Das totale Chaos. Es sind, glaube ich, einige tausend infiziert mit was auch immer, und ein Haufen Todesfälle. Sie reden von einer Pandemie. So was wie die Hongkong-Grippe. Egal, ich hab nur gedacht: ohne mich. (Seite 193f)

Vom Konkurrenzdruck dazu gezwungen, hatte er in den Neunzigerjahren Tiermehl verfüttert. Daraufhin waren seine Kühe an BSE erkrankt und getötet worden. Mit einem Kredit hatte Hauke sich neue gekauft. Vor ein paar Tagen fing das Vieh an, eigenartig zu brüllen. Daraufhin kamen zehn Männer in Schutzanzügen und töteten die Tiere mit Flammenwerfern. Vierhundert Stück Milchvieh. Hauke musste eine Schweigeverpflichtung unterschreiben. Er ging dann zum nächsten Bauernhof hinüber. Dort fand er auch nur noch verkohlte Tierkadaver vor. Die Leute waren fort. Hauke fährt jetzt zu seinem Bruder Malte. Der studierte Sozialpädagogik, lebte damals in einer Kommune und war auf allen Demos. Jetzt ist er mit einer Lehrerin verheiratet. Eigentlich wohnt er in Berlin-Kreuzberg, aber zur Zeit sind Malte und Frauke in ihrem Ferienhaus in Polen. Hauke lädt die Anhalterin ein, weiter mit nach Polen zu kommen, aber sie zieht es vor, in Berlin auszusteigen. Das Mädchen bleibt dagegen im Wagen.

Sie sieht, wie ein PKW in eine Tankstelle rast und alles in einer riesigen Flammenwolke explodiert.

Plötzlich wird sie von einer Frau am Arm gepackt und in einen Hauseingang gezerrt. Die Fremde, die früher Aufseherin in einem KZ war, warnt sie: Auf der Straße würde man sie aufgreifen und dann in ein Lager bringen:

„Das sind die Juden und die Kommunisten.“
Gnade, denke ich, nicht die Nummer.
„Sie fangen alle Volksdeutschen, Sie sind doch Volksdeutsche?“ (Seite 225)

Ein „Kamerad“, nicht älter als zweiundzwanzig, holt die Erzählerin ab und bringt sie mit einem Armeejeep zur Stadtgrenze, wo bereits ein Krankenwagen auf sie wartet. Der fährt sie nach Weimar.

Vor mehr als 200 Jahren muss es richtig abgegangen sein [Weimarer Klassik]. Weimar, der Monte Verità Thüringens. Musiker, Dichter, Maler und als Puffmutter Goethe. Da wurde gedacht, geredet und Kunst gemacht, was das Zeug hielt. (Seite 230)

Einer der Neonazis meint:

O-TON HEINER […] Mit schwarzen Klamotten warst du halt ein mickriger Grufti. Die Nazis sahen mal um Klassen besser aus […] Ich habe also angefangen, Stiefel zu tragen und die richtige Frisur. So hat es begonnen. Ich merkte, wie die Menschen auf der Straße Angst vor mir hatten, und wie die Weiber mich beachteten, mit einer Mischung aus Grauen und Faszination. Ich habe immer mehr gelesen, Filme geschaut, und langsam füllte sich die Attitüde mit Inhalt […] Ausländer missbrauchen und verachten unsere Frauen, sie schlagen deutsche Homosexuelle zusammen […] Ich sehe die Sache so: Unser Land ist durch unfähige, feige, dumme Sozialdemokraten zu einem Haufen Scheiße geworden. Es fehlt eine Vision. Es fehlt die Besinnung auf Werte. Kein Nachbarland nimmt so viele Gastarbeiter oder Asylanten auf wie wir. Wir Deutschen, die so zittern aus Angst, nicht politisch korrekt zu sein […] Die Menschen trauen sich nicht, stolz auf Deutschland zu sein. (Seite 234)

Bei einer Versammlung der Neonazis wird die Erzählerin als Kameradin aus der Hauptstadt vorgestellt. Sie tritt ans Rednerpult:

O-TON ICH […] Die Bewegung ist nicht Teil der Regierung, geschweige denn ist sie die Regierung. Wir haben nach wie vor weit weniger als eine Million Anhänger und laufen Gefahr, uns lächerlich zu machen. Die Bevölkerung gibt uns in nur wenigen Punkten recht, zum großen Teil werden wir abgelehnt und verachtet. Wir gelten als steinzeitliche Schläger, die das Dritte Reich verherrlichen. Deshalb müssen wir unsere Taktik grundlegend ändern. Wir werden mit den einfachsten Äußerlichkeiten beginnen. Keine Springerstiefel, keine Bomberjacken, keine kurzen Haare mehr. Wir müssen das Vertrauen der Deutschen gewinnen, also hat jeder Kamerad die Aufgabe, sich persönlich um einen Obdachlosen, einen Ausländer oder einen Kommunisten zu kümmern. Sich ihm zu nähern, mit ihm Freundschaft zu schließen, ihm zu helfen. Nur so können wir unsere Feinde zu unseren Freunden machen. Keine Übergriffe mehr, keine Schlägereien. (Seite 236)

Tausend tobende Thüringer ziehen randalierend durch Weimar, werfen Scheiben ein und kippen geparkte Autos um. Sie wollten an diesem Morgen nach Mallorca, Teneriffa oder Gozo in Urlaub fliegen („das hamer uns aber wörglich erorbeided“ – Seite 241), wurden jedoch am Flughafen ohne weitere Erklärungen weggeschickt.

Man kann die Deutschen ihrer Arbeit berauben, kann sie hungern lassen und in den Krieg gegen Länder schicken, von denen sie noch nie gehört haben. Alles in Ordnung. Ihnen aber den Urlaub zu vermiesen, ist eine schlechte Idee. Der Deutsche lebt für seinen Urlaub, überlebt für ihn die unwürdigsten Situationen. (Seite 241)

Überall in Deutschland kommt es zu Unruhen. Der Reichstag wird sechsmal angezündet, bis er niederbrennt. Offiziell wird von 12 000 Toten gesprochen. Gegen die sich rasant ausbreitenden Pocken wird landesweit geimpft, und Dutzende von Islamisten werden festgenommen. Die Börse schließt. Die Deutsche Bank geht pleite, und die Manager fliegen mit je 40 Millionen Dollar Abfindung in die Karibik.

Ein Stummer nimmt die Erzählerin im Auto mit nach Amsterdam. Dort herrscht ebenfalls Ausnahmezustand. In der Nacht hat jemand die Deiche gesprengt. Holland steht unter Wasser. Königin Beatrix wurde nackt durch die Straßen getrieben und aufgehängt. Aus den Nachrichten weiß man, dass Nordkorea sich mit China verbündete und inzwischen bereits die zweite Atombombe auf Japan warf. Ein nuklearer Angriff gegen die USA steht bevor.

Der stumme Mann und seine Begleiterin fahren weiter nach Finnland. Sie stranden zunächst in Tapiola, einem in den Fünfzigerjahren für vierhunderttausend Flüchtlinge aus Karelien gebauten Stadtteil von Espoo. Dort können sie bei einem Finnen wohnen, der seit seiner Entlassung durch Nokia als Hausmeister arbeitet. Als seine beiden Gäste am nächsten Morgen aufwachen, ist er schon unterwegs, hat ihnen jedoch einen Zettel hingelegt mit einem Hinweis auf die Insel Suomenlinna vor Helsinki, auf der es eine Flüchtlingskolonie geben soll und einer Wegbeschreibung zu seinem Wochenendhaus auf den Ålands.

Mit einer Fähre setzen die beiden zur Insel Suomenlinna über. In der Flüchtlingskolonie werden sie von der Österreicherin Hildelore begrüßt. Die Neuankömmlinge müssen zunächst in Quarantäne, doch als bei einer ärztlichen Untersuchung keine Krankheitssymptome entdeckt werden, dürfen sie zu den anderen.

O-TON HILDELORE […] Wir sind eine Gemeinschaft, von der ein Impuls für eine zukünftige Welt ausgehen wird. Wir leben hier in absoluter Demokratie. Keiner macht dem anderen Vorschriften, auch den Kindern nicht […]
Aber wir haben Regeln, denen sich alle unterordnen […] Jeder trägt bei, was er kann, auch die Kinder haben Pflichten […]
Wir leben auch sexuell frei, es gibt keine Besitzansprüche […] Ihr bekommt einen Platz zugewiesen und Arbeit, falls ihr selber keine Ideen habt […] Wir benutzen kein Plastik, tragen keine Markenkleidung, kauen kein Kaugummi und benutzen keine Waren aus den USA. Ihr seid kein Paar, oder?
(Kopfschütteln, eingeschüchtert.)
Fein, fein, dann wirst du bei Lena und Beatrix schlafen, und du wohnst bei Klaus und Peter. So, dann räumen wir den Tisch ab und beginnen den Tag. (Seite 296)

Lena, eine ihrer beiden Zimmergenossinnen, stammt aus der Schweiz.

O-TON LENA […] Ich meine, klar war ich magersüchtig und bulimisch und habe Drogen genommen, also Jugend habe ich reichlich gehabt. (Seite 301f)

Obwohl die Erzählerin nicht gern Mitglied einer Gruppe ist („Schon immer habe ich Gruppen gehasst – und sie mich.“ – Seite 295), beteiligt sie sich an der Friedens-AG. Außerdem arbeitet sie in den Gewächshäusern der Gemeinschaft. Im Lauf der Zeit kommen immer mehr Flüchtlinge. Der Lagerleiter Maik entwickelt sich zum Guru, trägt nur noch weiße Gewänder und beansprucht ein eigenes Haus.

Nachmittags ist Nackt-Satsang in einem Aufenthaltsraum […] kleine Glieder, bleiche Beine, schwere Brüste. Wie albern, das Mensch nackt. Am unansehnlichsten die Knie und die Füße […] Sie tanzen, und ihre Genitalien wackeln, hie und da sinken die ersten Pärchen zu Boden […] Geht es eigentlich bei allen Sekten nur ums schlichte, legitimierte Ficken? (Seite 320)

Als sie Lena nackt auf dem stummen Mann ertappt, verlässt sie die Insel und reist nach Mariehamm auf den Ålands. Mit Hilfe der Wegbeschreibung des Finnen, der sie in Tapiola aufgenommen hatte, findet sie dessen Wochenendhaus in Kökar.

Nachdem sie dort einige Monate gelebt hat, steht eines Tages unerwartet der Stumme in der Tür. Und von da an leben sie zusammen.

Es geschieht kein Wunder. Der stumme Mann beginnt nicht zu reden, wir verlieben uns nicht und beißen uns keine Hautstücke ab in wilder Leidenschaft. Aber wir sind zufriedener, als wir es alleine gewesen wären. (Seite 333)

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Im ersten Teil ihres in naher Zukunft spielenden Romans „Ende gut“ skizziert Sibylle Berg das nihilistische, weltverneinende, misanthropische und trostlose Weltbild der einsamen Ich-Erzählerin. Eine Handlung im engeren Sinne hat „Ende gut“ erst einmal nicht.

Ziemlich genau in der Mitte des Buches macht Sibylle Berg eine Pause.

Pause
Sie haben jetzt die Gelegenheit, sich einen Kaffee zu kochen oder nach Ihren Kindern zu sehen. Das Buch ist doch recht lang geworden, darum machen wir an dieser Stelle eine kleine Pause. (Seite 163)

Nach dieser originellen Zäsur beginnt eine Odyssee der Protagonistin durch ein von Terroranschlägen und Pandemien verwüstetes Europa. Damit setzt die Handlung eines grotesken Endzeitromans ein.

„Ende gut“ ist in achtundvierzig Kapitel gegliedert, die mit komischen Überschriften versehen sind, zum Beispiel: „2 Es ist Sonntag. Die Heldin denkt über die Weltlage nach, dazu läuft der Fernseher, und es regnet“, „33 Es wird eine Spritztour unternommen, und wir lernen einen netten Mann kennen. Unsere Geschichte bewegt sich auf eine völlig neue, emotionale Ebene zu“, „47 Die Heldin bildet ein Paar. Die Sonne geht nicht auf, und kein Wunder geschieht“.

Der Aufbau von „Ende gut“ ist nicht besonders aufregend, auch wenn Sibylle Berg den Text der Ich-Erzählerin durch sogenannte „Infohaufen“ über die Wasserstoffbombe, das hämorrhagische Fieber und viele andere Themen anreichert und durch zahlreiche „O-Ton“-Einlagen eine Polyphonie bewirkt. Lesenswert ist „Ende gut“, weil Sibylle Berg gut beobachtet und ihre sarkastischen Ansichten mit viel Sprachwitz pointiert wiedergibt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Kiepenheuer & Witsch

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