J. M. Coetzee : Leben und Zeit des Michael K.
Inhaltsangabe
Kritik
Michael K. wird mit einer Lippenspalte geboren, kann deshalb nicht gestillt werden und schreit bald vor Hunger. Seine Mutter, Anna K., arbeitet als Putzfrau. Weil er geistig zurückgeblieben ist, wird er aus der Schule genommen und auf Staatskosten ins Huis Norenius in Faure gebracht. Mit 15 verlässt er die Einrichtung und fängt als Gärtner beim Gartenbauamt in Kapstadt zu arbeiten an. Drei Jahre später wechselt er den Arbeitsplatz und wird Nachtwächter in einer Bedürfnisanstalt auf dem Greenmarket Square, aber nachdem er auf dem Heimweg zusammengeschlagen und ausgeraubt wurde, kehrt er zum Gartenbauamt zurück.
Er ist 31 Jahre alt, als er seine Mutter aus dem Krankenhaus abholt, in dem sie wegen Wassersucht behandelt wurde. Acht Jahre lang arbeitete sie als Hausangestellte für einen Strumpfwarenfabrikanten im Ruhestand und seine Frau. In der 5-Zimmer-Wohnung der Buhrmanns im Kapstädter Stadtteil Sea Point schlief Anna K. in einem fensterlosen Raum unter der Treppe, der ursprünglich für die Steuerungsapparatur der Klimaanlage vorgesehen gewesen war, die allerdings nie installiert wurde. Als Anna K. erkrankte, kürzten die Buhrmanns ihren Lohn um ein Drittel und stellten zusätzlich eine jüngere Frau ein. Ihr Zimmer durfte sie behalten.
Anna K. wurde auf einer Farm im Bezirk Prince Albert geboren. Ihre Mutter arbeitete als Wäscherin und Küchenhilfe. Der alkoholkranke Vater wechselte mit der Familie von einer Farm zur anderen. Schließlich kamen sie nach Oudtshoorn, wo Anna eine Weile zur Schule ging. Nach der Geburt ihres ersten Kindes zog sie nach Kapstadt, wo sie ein zweites Kind bekam. Das dritte starb bald nach der Geburt. Michael ist ihr viertes Kind. Von seinem Vater und den Halbgeschwistern weiß er nichts.
Die Buhrmanns wurden nach einer Nacht des Plünders von Freunden weggebracht. Die Wohnung ist verwüstet. Schließlich kommen vier Männer in Overalls und räumen sie aus.
Anna K. schlägt ihrem Sohn vor, beim Gartenbauamt erneut zu kündigen und mit ihr nach Prince Albert zu ziehen. Also geht K. am nächsten Tag statt zur Arbeit zum Bahnhof, um Fahrkarten zu besorgen. Der Schalterbeamte weist ihn darauf hin, dass niemand ohne Platzreservierung und Ausreisegenehmigung das Polizeigebiet von Cape Peninsula verlassen dürfe. K. besorgt sich deshalb die entsprechenden Formulare. Dafür muss er zwei Stunden lang anstehen.
Nachdem er einige Zeit auf die Ausreisegenehmigung gewartet hat, geht K. zur Polizei, um nachzufragen. Als die Reihe endlich an ihm ist, erklärt ihm eine ungeduldige Polizistin, ohne Platzreservierung gebe es keine Ausreisegenehmigung, aber wenn die Behörde sein Antrag bewillige, werde sie ihm auch die Ausreisegenehmigung zuschicken.
Schließlich gibt K. die Hoffnung auf eine Ausreisegenehmigung auf. Und weil deshalb keine Zugfahrt möglich ist, bricht er einen Verschlag der Gartenarbeiter im De Waal-Park auf, holt eine Schubkarre und Werkzeug heraus, und bastelt einen Karren, mit dem er seine Mutter schieben kann.
Während sie am Straßenrand rasten, fährt ein Militärkonvoi vorbei. Ein Motorradfahrer nähert sich K. und seiner Mutter. Er fordert sie auf, sich mit ihrer Ausreisegenehmigung beim nächsten Kontrollpunkt zu melden. Dort schickt man sie allerdings zurück, weil sie keine Ausreisegenehmigung vorweisen können.
Nach zwei Nächten in der Kammer unter der Treppe bricht K. erneut mit seiner Mutter auf. Diesmal meidet er breite Straßen.
Den Überfall von zwei Jugendlichen kann er mit einem Stahlrohr in der Hand abwehren.
Als es Anna immer schlechter geht, bringt ihr Sohn sie in Stellenbosch in ein Krankenhaus. Dort stirbt sie. Ohne mit K. vorher darüber zu reden, lässt man die Leiche kremieren. Mit der Asche seiner Mutter in einer Schachtel zieht K. weiter.
In einem Außenbezirk von Paarl nimmt ihm ein Soldat die beiden Geldbörsen seiner Mutter und eine Brosche ab. Dann wird er mit 50 anderen Menschen zum Rangierbahnhof getrieben und in einen Waggon gepfercht. Unterwegs sind die Schienen durch einen Erdrutsch verschüttet. Die Deportierten müssen hart arbeiten, um die Strecke wieder passierbar zu machen. Ausgeladen werden sie in Touws River.
Schließlich gelangt K. nach Prince Albert. Dort fragt er nach der Farm, auf der seine Mutter geboren wurde, aber einen Farmer namens Vosloo oder Visser gibt es hier nicht, nur eine Familie Visagie, die allerdings weggezogen ist. Das Farmhaus steht leer. Obwohl K. nicht sicher ist, dass es sich um den Geburtsort seiner Mutter handelt, verstreut er dort ihre Asche.
Nur mit einem Taschenmesser bewaffnet, hetzt er eine verwilderte Ziegenherde in Einöde des Karoo, bis er endlich eines der Tiere packen und töten kann. Aber bevor er nennenswerte Teile des Fleisches essen kann, fängt der Kadaver zu stinken kann, und er muss ihn vergraben. Es macht also nur Sinn, kleinere Tiere zu jagen. K. bastelt eine Zwille und erlegt damit Vögel. Als er Kürbis-, Mais- und Bohnensamen findet, setzt er das Windrad einer Wasserpumpe in Betrieb, und mit dem Wasser, das sich in einem Staubecken sammelt, bewässert er ein zuvor umgegrabenes Stück Land, auf dem er das Gemüse anbaut.
Eines Tages taucht ein Mann auf, der etwa zehn Jahre jünger als Michael K. ist. Es handelt sich um einen Enkel des Farmers Visagie. Er desertierte und sucht nun Zuflucht auf der Farm, die er aus seiner Schulzeit kennt. K. hält er für einen Knecht seines Großvaters, aber er fragt ihn nicht, was aus den Großeltern geworden ist. Nach ein paar Tagen schickt er K. mit einer Einkaufsliste nach Prince Albert. K. steckt das Geld, das der Junge ihm mitgab, in eine Konservendose, vergräbt diese und geht fort, obwohl seine Pflanzen ohne Bewässerung verwelken.
Die Polizei greift ihn auf und sperrt ihn mit fünf anderen Männern in eine Zelle. Beim ersten Bissen Maisbrei, den er bekommt, würgt es ihn. K. hat keine Papiere bei sich; niemand weiß, woher er kommt und wer er ist. Er wird beschuldigt, seinen Verwaltungsbezirk ohne Genehmigung verlassen zu haben und keinen Ausweis bei sich zu haben. Weil man seinen Zustand für die Folge einer Alkoholvergiftung hält, bringt man ihn in die Krankenstation des Wiedereingliederungslagers Jakkalsdrif.
Unter den Lagerinsassen befindet sich auch ein Mann namens Robert, der auf einer Farm bei Klaarstroom arbeitete und eine Frau und vier Kinder hat. Der erklärt Michael K., was es mit dem Lager auf sich hat.
„Du fragst, wer hinter dem Lager steht? Werd‘ ich dir sagen. Erstens die Eisenbahn. Die Eisenbahn hätte am liebsten alle zehn Meilen en Jakkalsdrif an der Strecke entlang. Zweitens die Farmer. Das Tagewerk einer Arbeitskolonne von Jakkalsdrif kommt einen Farmer spottbillig, und am Ende des Tages wird die Kolonne von einem Lastwagen abgeholt, und sie ist weg, und er braucht sich keine Sorgen zu machen um sie oder um ihre Familien, ob sie nun hungern oder frieren, er weiß es nicht, es geht ihn nichts an.“
„Soll ich dir sagen, wer dieser Kerl ist?“, murmelte Robert. „Das ist der Schwager des Polizeihauptmanns Oosthuizen. Die Mähmaschine ist ihm kaputtgegangen, also was macht er? Er nimmt den Telefonhörer ab und ruft die Polizeiwache an, und sofort am nächsten Morgen hat er dreißig Paar Hände, die ihm die Luzerne schneiden. So funktioniert das hier, das System.“
Eines Nachts wird eine Polizeiwache niedergebrannt. Im Morgengrauen schlägt die Polizei zurück. Im Lager müssen sich Männer, Frauen und Kinder getrennt aufstellen, während alles durchsucht wird. Es gibt erst einmal nichts mehr zu essen, und die bisherigen Wachposten werden von Polizisten abgelöst.
K. flüchtet über den drei Meter hohen, mit Stacheldraht bewehrten Zaun des Lagers und kehrt zur Visagie-Farm zurück. Der Junge scheint nicht mehr da zu sein, vielleicht hat er sich aber auch gut versteckt. Das Staubecken ist ausgetrocknet, und von den Kürbis-, Mais- und Bohnenpflanzen nichts mehr übrig; die Anbauflächen sind überwuchert.
Aus Angst vor Militär und Polizei richtet K. sich statt im Haus in einer Höhle ein. Die Handvoll Kürbis- und Melonenkerne, die er noch in einem Schuppen findet, setzt er in den Boden. Aber diesmal gräbt er keine Fläche um, sondern setzt jeden Samen einzeln und gießt die Stelle mit Wasser, das er mit einer leeren Farbbüchse aus dem Staubecken schöpft, dessen Windrad er vorsichtshalber nur nachts laufen lässt.
Nach einem Monat tauchen acht Männer mit Gewehren und zwei Eseln auf. Sie kampieren vorübergehend am Staubecken. Offenbar handelt es sich um Guerilleros aus den Bergen. Sie bemerken Michael K. nicht, aber er kann auch nicht verhindern, dass die Esel seine Pflanzen fressen.
Kurz nachdem der Rest der Kürbisse und zwei Melonen reif geworden sind, kommt eine Militäreinheit auf die Farm. Anders als die Aufständischen entdecken die Soldaten K. und die Höhle. Sie durchsuchen daraufhin die Gegend nach Rebellen beziehungsweise deren Nahrungsmittel- und Waffendepots. Einer von ihnen schlägt K. mit der Faust in den Magen. Er wird verdächtigt, Guerilleros aus den Bergen versorgt zu haben. Am nächsten Morgen kommt Polizei aus Prince Albert mit Hunden und sucht noch einmal das ganze Gebiet ab. Jemand gibt K. eine Scheibe Weißbrot, aber er übergibt sich sofort, nachdem er davon gegessen hat. Um sicherzugehen, dass niemand und nichts mehr im Farmhaus versteckt ist, sprengen die Militärs es. Dann verminen sie das Gelände.
K. wiegt weniger als 40 Kilogramm und sieht wie ein Greis aus, obwohl er behauptet, 32 Jahre alt zu ein. In diesem Zustand wird er in die Krankenstation des Lagers in Kenilworth gebracht. Ein Arzt, der nicht weiß, ob der Neuzugang mit Vornamen Michael oder Michaels mit Nachnamen heißt, nimmt sich seiner an.
„Michaels“, sagte ich, „Michael“ – einige von uns sind nicht einmal sicher, dass Sie was mit den Aufständischen zu tun hatten. Wenn Sie uns davon überzeugen können, dass Sie nicht für sie gearbeitet haben, können Sie uns eine Menge Ärger sparen und sich selbst eine Menge Unglück. Also sagen Sie mir, sagen Sie dem Major: Was haben Sie nun wirklich auf dieser Farm gemacht, als Sie gefangengenommen wurden? Alles, was wir nämlich wissen, entnehmen wir diesen Papieren von der Polizei in Prince Albert, und offen gesagt, was da drinsteht, ergibt keinen Sinn.“
Der Arzt rät dem 60-jährigen Lagerkommandanten Major Noël van Rensburg, dessen Tochter bereits verwitwet ist, sich für den Bericht über K.s Aussage etwas auszudenken.
„Versuchen Sie nicht, eine Geschichte aus ihm rauszuquetschen, denn da ist wirklich keine zu holen.“
„Da ist nichts, keine Geschichte von auch nur dem geringsten Interesse für vernünftige Menschen. Ich habe ihn beobachtet, ich weiß es! Er ist nicht von unserer Welt. Er lebt in einer ganz eigenen Welt.“
Als K. sich einigermaßen erholt hat, muss er die Krankenstation verlassen. Auf dem Entlassungsschein vermerkt der Arzt, dass K. noch für mindestens sieben Tage von Leibesübungen freigestellt werden müsse. Aber als er am nächsten Tag durchs Lager geht, sieht er, wie K. mit etwa 40 anderen Gefangenen zusammen auf der Rennstrecke läuft. Er stellt den diensthabenden Offizier zur Rede. Der meint, K. habe dem Arzt etwas vorgemacht. Zwei Tage später kollabiert K. und wird bewusstlos in die Krankenstation zurückgebracht.
Michael K. verweigert jede Nahrungsaufnahme und wiegt schließlich nur noch 35 Kilogramm. Der Arzt zögert mit einer Entscheidung über Zwangsernährung, nicht nur weil sie nach den Dienstvorschriften verboten ist, sondern vor allem, weil er nicht gegen K.s Willen handeln möchte. Er glaubt nicht, dass K. noch länger als zwei, drei Wochen leben werde.
Aber plötzlich ist K. fort. Er muss irgendwie über die Mauer geflohen sein. Major Noël van Rensburg befindet sich in einer schwierigen Lage: Eigentlich müsste er die Flucht der Polizei melden, aber dann käme es zu einer Untersuchung, durch die Nachlässigkeiten in der Lagerführung aufgedeckt würden. Falls er die Flucht jedoch nicht meldet, kann der Lagerkommandant nur hoffen, dass K. nicht von der Polizei aufgegriffen wird.
Der Arzt sinnt über den seltsamen entflohenen Gefangenen nach:
Michaels hat die Därme des Staates unverdaut passiert. Er ist aus seinen Lagern ebenso unversehrt hervorgegangen wie er aus seinen Schulen und Waisenhäusern hervorging.
Mit der Zeit begann ich jedoch langsam, das Eigenständige des Widerstandes zu sehen, den du botest. Du warst kein Held und gabst auch nicht vor, einer zu sein, nicht einmal ein Held des Fastens warst du. Eigentlich hast du gar keinen Widerstand geleistet. Als wir zu dir sagten, spring!, bist du gesprungen. Als wir es noch einmal sagten, bist du noch einmal gesprungen. Als wir es jedoch ein drittes Mal sagten, hast du nicht reagiert, sondern bist zu einem Häufchen zusammengebrochen. Und jeder von uns, selbst der Uneinsichtigste, konnte sehen, dass du deswegen versagtest, weil du durch deinen Gehorsam deine Kraftreserven erschöpft hattest.
K. kehrt nach Sea Point zurück. Nachdem er eine Weile auf einer Bank an der Uferpromenade gesessen hat, sucht er durstig eine öffentliche Toilette am Strand auf, aber dort ist alles voller Sand, und aus der Leitung kommt kein Tropfen Wasser.
Zwei Männer und zwei Frauen, von denen eine einen Säugling bei sich hat, geben K. Wein zu trinken, aber er erbricht sich sofort.
K. begriff, dass nun er an der Reihe war zu sprechen. „Ich war drei Monate in dem Lager in Kenilworth, bis gestern Nacht“, sagte er. „Ich bin mal Gärtner gewesen, für die Stadtverwaltung. Das ist lange her. Dann musste ich fort und meine Mutter aufs Land bringen, wegen ihrer Gesundheit. Meine Mutter hat in Sea Point gearbeitet, sie hat ein Zimmer hier gehabt, wir sind vorhin daran vorbeigekommen.“ Eine Welle von Übelkeit stieg vom Magen her in ihm hoch; mühsam brachte er sie unter Kontrolle. „Sie ist in Stellenbosch gestorben, auf dem Weg ins Landesinnere“, sagte er. Die Welt verschwamm und wurde dann wieder klar. „Ich habe nicht immer genug zu essen gekriegt“, fuhr er fort. Er bemerkte, dass die Frau mit dem Baby flüsternd zu dem Mann sprach. Die andere Frau war aus der Reichweite des flackernden Kerzenlichtes gegangen. Ihm fiel plötzlich auf, dass die zwei Schwestern noch kein Wort miteinander gewechselt hatten. Und ihm fiel auf, dass seine Geschichte unbedeutend war, nicht der Rede wert, voll von denselben alten Lücken, die zu stopfen er nie lernen würde.
Schließlich sucht K. den von seiner Mutter bewohnten Raum in der Wohnung der Buhrmanns auf. Dort hört er die Sirene, die den Beginn der Ausgangssperre anzeigt.
Wenigstens, dachte er, wenigstens bin ich nicht schlau gewesen und bin nach Sea Point zurückgekommen voll mit Geschichten, wie sie mich geschlagen haben in den Lagern, bis ich dünn gewesen bin wie ein Rechen und blöd im Kopf. Blödiane haben sie schon eingesperrt, bevor sie irgendwen andern eingesperrt haben. Jetzt haben sie Lager für Kinder, denen die Eltern weglaufen, Lager für Leute, die treten und Schaum vorm Mund haben, Lager für Leute mit großen Köpfen und Leute mit kleinen Köpfen, Lager für Leute, die keinen sichtbaren Lebensunterhalt haben, Lager für Leute, die vom Land verjagt worden sind, Lager für Leute, die sie in Sturmflutrohren aufstöbern, Lager für Straßenmädchen, Lager für Leute, die nicht zwei und zwei zusammenzählen können, Lager für Leute, die ihren Ausweis zu Hause gelassen haben, Lager für Leute, die in den Bergen leben und nachts Brücken sprengen. Die Wahrheit ist vielleicht, dass es genügt, außerhalb der Lager zu sein, außerhalb aller Lager zugleich. Vielleicht ist eine solche Errungenschaft erst mal genug. Wieviel Leute sind noch übrig, die weder eingesperrt sind, noch am Tor Wache stehen? Den Lagern bin ich entkommen, vielleicht, wenn ich mich nicht muckse, werde ich auch der Nächstenliebe entkommen.
Er stellt sich vor, einen alten Mann in einem Karren zu der zerstörten Farm in der Einöde des Karoo zu schieben. Stellenbosch würde er umgehen, aber unterwegs Saatgut kaufen. Wenn er dann mit dem Greis vor der zerfetzten Pumpe stünde und dieser nicht wüsste, wie sie an Wasser kommen sollen, würde er einen Teelöffel aus der Tasche nehmen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Dann würde er, Michael K., einen Teelöffel aus der Tasche holen, einen Teelöffel und eine dicke Rolle Schnur. Er würde das Geröll von der Mündung des Schachtes entfernen, er würde den Stiel des Löffels einwärts zu einem Haken biegen und die Schnur daran befestigen, er würde den Löffel durch den Schacht tief hinunterlassen in die Erde, und wenn er ihn wieder heraufzöge, würde Wasser sein in der Schale des Löffels; und so, würde er sagen, kann man leben.
John M. Coetzee schrieb den Roman „Leben und Zeit des Michael K.“ Anfang der Achtzigerjahre, also vor dem Ende der Apartheid in Südafrika, aber die Handlung spielt in einer fiktiven nahen Zukunft, in der das Land durch einen Bürgerkrieg gespalten ist.
„Wir führen diesen Krieg“, sagte Noël, „damit Minderheiten ihr Schicksal mitbestimmen können.“
Welche Hautfarbe der Protagonist Michael K. hat, erfahren wir nicht, aber es ist anzunehmen, dass er schwarz ist. Dachte J. M. Coetzee bei dieser skurrilen Figur an das Klischee vom unkultivierten, identitätslosen und außerhalb der Geschichte stehenden Afrikaner?
Der abgekürzte Familienname K. könnte sich auf die Protagonisten in den Romanen „Der Prozess“ und „Das Schloss“ von Franz Kafka beziehen. Das gilt auch für die undurchschaubare Bürokratie, mit der Michael K. sich im ersten Teil des Buches abmüht und die Militärs bzw. Polizisten, deren Vorgehen er weder verstehen noch kontrollieren kann. Außerdem assoziieren wir die ausgemergelte Figur dieses Afrikaners, der die Fähigkeit verliert, sich von normaler Nahrung zu ernähren, mit Kafkas Hungerkünstler. Sowohl in „Der Hungerkünstler“ als auch in „Leben und Zeit des Michael K.“ geht das Hungern mit innerer Freiheit einher.
Der Roman „Leben und Zeit des Michael K.“ ist in einen 150 Seiten langen ersten Teil und zwei deutlich kürzere Abschnitte gegliedert. Während der mittlere Teil aus Aufzeichnungen eines Lagerarztes in der Ich-Form besteht, hat J. M. Coetzee für die beiden anderen Teile die dritte Person Singular gewählt und lässt einen auktorialen Erzähler zu Wort kommen.
Michael K. bleibt nach dem Tod seiner Mutter allein, und im Grunde war er das auch schon vorher. Er entzieht sich der Gesellschaft, wenn es ihm möglich ist. Dementsprechend redet er nicht viel, und Dialoge sind in „Leben und Zeit des Michael K.“ denn auch nur spärlich vorhanden.
Obwohl oder gerade weil John M. Coetzee sich auch formal der Kargheit des Lebens der bescheidenen Hauptfigur anpasst, handelt es sich bei dem Roman „Leben und Zeit des Michael K.“ um einen kraftvollen, durch surreale Züge verstärkten Wurf. Vieles bleibt ungesagt und unerklärt, wirkt jedoch gründlich durchdacht und regt zum eigenen Nachdenken an. Wenn es etwas wie Weltliteratur gibt, gehört „Leben und Zeit des Michael K.“ zweifellos dazu.
Für „Leben und Zeit des Michael K.“ erhielt John M. Coetzee seinen ersten Booker-Prize.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © S. Fischer Verlag
J. M. Coetzee (kurze Biografie / Bibliografie)
John M. Coetzee: Im Herzen des Landes (Verfilmung)
John M. Coetzee: Eiserne Zeit
John M. Coetzee: Der Junge. Eine afrikanische Kindheit
John M. Coetzee: Schande (Verfilmung )
John M. Coetzee: Die jungen Jahre
John M. Coetzee: Elizabeth Costello
John M. Coetzee: Die Kindheit Jesu
John M. Coetzee: Der Pole