J. M. Coetzee : Elizabeth Costello

Elizabeth Costello
Originaltitel: Elizabeth Costello Secker & Warburg, London 2003 Übersetzung: Reinhild Böhnke S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2004 ISBN 3-10-010820-5, 285 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die fiktive australische Schriftstellerin Elizabeth Costello beschäftigt sich in ihren öffentlichen Vorträgen mit der Literatur und der Rolle des Schriftstellers, dem Glauben an Gott und der Existenz des Bösen, Tierquälerei, dem Verhältnis zwischen Tier und Mensch, der Bedeutung der Vernunft sowie mit Eros und Nächstenliebe.
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Kritik

"Elizabeth Costello" ist kein Roman, sondern besteht aus "acht Lehrstücken" – so der Untertitel. Im Mittelpunkt stehen denn auch fiktive Vorträge und Diskussionen, die von einer fragmentarischen Rahmenhandlung locker zusammengehalten werden.
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Elizabeth Costello wurde 1928 in Melbourne geboren. Mit einer Unterbrechung von 1951 bis 1963, wo sie in England und Frankreich war, hat sie immer in ihrer Heimatstadt gelebt. Aus jeder ihrer beiden Ehen stammt ein Kind. Unter ihrem Mädchennamen Elizabeth Costello veröffentlichte die inzwischen sechsundsechzig Jahre alte Australierin neun Romane, zwei Gedichtbände, ein Vogelbuch und zahlreiche journalistische Arbeiten. Weltbekannt wurde sie 1969 durch den Roman „The House on Eccles Street“. Dessen Protagonistin ist Marion, die Ehefrau des jüdischen Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom in Dublin, einer der drei Hauptfiguren in „Ulysses“ (1922) von James Joyce.

Im Frühjahr 1995 fliegt Elizabeth Costello nach Williamstown, Pennsylvania, um den alle zwei Jahre verliehenen Stowe-Preis – eine der bedeutendsten Auszeichnungen der USA für Literaten – entgegenzunehmen. Ihr Sohn John Bernard, der am Appleton College in Massachusetts über Physik und Astronomie doziert, aber gerade ein Sabbatjahr genommen hat, begleitet sie zu den Interviews und Feierlichkeiten. Das Thema ihrer Rede anlässlich der Preisverleihung lautet „Was ist Realismus?“ Nach dem höflichen Beifall möchte eine junge Frau eine Frage dazu stellen; weil jedoch eine Diskussion im Programm nicht vorgesehen ist, schaltet Dekan Brautegam das Mikrofon ab.

Sie [Elizabeth Costello] kann mit ihrem intakten wahren Ich heimkehren und lässt ein Bild zurück, das, wie alle Bilder, falsch ist. (Seite 42)

Ein emeritierter Professor der Universität von Queensland, der jetzt auf Kreuzfahrtschiffen Filmklassiker vorführt, verschafft ihr eine Einladung von Scandia Lines, Stockholm, für eine fünfzehntägige Kreuzfahrt auf der „Northern Lights“ von Christchurch zum Ross-Schelfeis und weiter nach Kapstadt. Kabine, Freiflüge und ein Honorar werden ihr für einen Vortrag über „Die Zukunft des Romans“ angeboten.

Zum Team für Bildung und Unterhaltung gehört auch der nigerianische Schriftsteller Emmanuel Egudu, den sie vor vielen Jahren bei einer PEN-Konferenz in Kuala Lumpur kennen lernte. Er schreibt kaum noch und ist die meiste Zeit des Jahres außerhalb von Afrika unterwegs, um Vorträge zu halten. Nach seinem Referat mit dem Titel „Der Roman in Afrika“ trifft er sich mit Elizabeth Costello und dem unverheirateten Paar Steve und Shirley an einer Bar.

„Der englische Roman“, sagt sie [Elizabeth Costello], „wird in erster Linie von Engländern für Engländer geschrieben. Das macht ihn zum englischen Roman. Der russische Roman wird von Russen für Russen geschrieben. Aber der afrikanische Roman wird nicht von Afrikanern für Afrikaner geschrieben. Afrikanische Romanautoren mögen über Afrika, über afrikanische Erfahrungen schreiben, aber ich habe den Eindruck, dass sie dabei die ganze Zeit auf die Ausländer schielen, die sie lesen werden. Sie haben, ob es ihnen nun gefällt oder nicht, die Rolle des Interpreten akzeptiert, der seinen Lesern Afrika interpretiert. Aber wie kann man eine Welt in allen ihren Tiefen erforschen, wenn man sie gleichzeitig Außenstehenden erklären muss?“ (Seite 66f)

Zwei Jahre nach der Verleihung des Stowe-Preises fliegt Elizabeth Costello erneut in die USA, diesmal, um die Gates-Vorlesung am Appleton College in Massachusetts zu halten. Ihren an diesem College dozierenden Sohn John hat sie seit damals nicht mehr gesehen. Er ist inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, mit Norma, einer promovierten Philosophin. Elizabeth wohnt drei Tage lang bei der Familie ihres Sohnes im Vorort Waltham, obwohl sie und Norma sich nicht ausstehen können.

Während John seine Mutter vom Flugplatz abholt, erinnert er sich daran, dass er und seine Halbschwester sie als Kinder beim Schreiben nicht stören durften und sich von ihr vernachlässigt fühlten. Aber er hegt keinen Groll gegen sie, sondern „dient an ihrem Schrein“ (Seite 42).

In ihrer Ansprache warnt Elizabeth Costello die Zuhörer:

„Ich sage, was ich meine. Ich bin eine alte Frau. Ich habe keine Zeit mehr, zu sagen, was ich nicht meine.“ (Seite 81)

Die Vegetarierin spricht von dem Leid der Tiere auf zu „Produktionsstätten“ verkommenen Bauernhöfen, in Schlachthöfen („Todesfabriken“), auf Fischtrawlern, in Versuchslabors, und beschuldigt ihre Mitbürger, nichts gegen dieses mitten in der Gesellschaft stattfindende „Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes“ (Seite 146) zu unternehmen, sondern wegzusehen. Sie versteigt sich zu einem Vergleich von Schlachthöfen und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.

„Ich will es deutlich sagen: Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war […]“ (Seite 85)

„Das Verbrechen des Dritten Reichs, so lautet die Anklage, war, Menschen wie Vieh zu behandeln.“ (Seite 84)

„Es war und ist unvorstellbar, dass Menschen, die von den Lagern nichts gewusst haben […], wahre Menschen sein können […] Sie waren Vieh, nicht ihre Opfer. Weil sie Mitmenschen, nach dem Bild Gottes geschaffene Wesen, wie Vieh behandelten, waren sie selbst zum Vieh geworden.“ (Seite 84f)

Die Zeugen der Judenvernichtung fühlten kein Mitleid, weil sie die Opfer nicht für ihresgleichen hielten. Der gleiche Mechanismus, so führt Elizabeth Costello aus, funktioniere angesichts der Tierquälerei: Die Opfer gehören nicht zu uns. Das Tier hat beispielsweise kein Ichbewusstsein.

„Kein Bewusstsein, das wir als solches erkennen würden. Kein historisches Ichbewusstsein, soweit wir das feststellen können. Was mir nicht gefällt, ist, was sich oft daran anschließt. Sie haben kein Bewusstsein, also. Also was? Also steht es uns frei, sie für unsere eigenen Zwecke zu nutzen? Also steht es uns frei, sie zu töten? Warum? Was ist so Besonderes an der Bewusstseinsform, die wir kennen, dass es ein Verbrechen ist, den Träger eines solchen Bewusstseins zu töten, während das Töten eines Tieres straflos bleibt? Es gibt Augenblicke …“
„Ganz abgesehen von Babys“, unterbricht Wunderlich [ein englischer Diskussionsteilnehmer]. Alle drehen sich um und sehen ihn an. „Babys haben kein Ichbewusstsein, doch wir halten es für ein abscheulicheres Verbrechen, ein Baby zu töten als einen Erwachsenen.“ (Seite 115)

„Ich weiß nicht, was ich denke“, sagt Elizabeth Costello. „Ich frage mich oft, was Denken ist, was Verstehen ist. Verstehen wir das Universum wirklich besser als die Tiere? Das Verständnis, das wir von einer Sache haben, sieht für mich oft so aus, als spiele man mit einem dieser Zauberwürfel. Wenn man es geschafft hat, dass alle Segmente an der richtigen Stelle einrasten – schwupp! –, dann versteht man. Das macht Sinn, wenn man in einem Zauberwürfel lebt, wenn aber nicht …“ (Seite 115f)

Sowohl mein Verstand als auch sieben Jahrzehnte Lebenserfahrung sagen mir, dass die Vernunft weder das Wesen des Universums noch das Wesen Gottes ist. Nein, die Vernunft sieht mir verdächtig nach dem Wesen des menschlichen Denkens aus; schlimmer noch, nach dem Wesen einer bestimmten menschlichen Denkweise. Die Vernunft ist das Wesen einer bestimmten menschlichen Denkart. (Seite 87)

Auf die Frage, was sie veranlasst habe, Vegetarierin zu werden, beruft Elizabeth Costello sich auf Plutarch, den sie aus dem Gedächtnis zitiert:

„Du fragst mich, warum ich kein Fleisch essen will. Ich für mein Teil bin erstaunt, dass du den Leichnam des toten Tieres in den Mund nehmen kannst und es nicht ekelhaft findest, gehacktes Fleisch zu kauen und die Körpersäfte von tödlichen Wunden hinunterzuschlucken.“ (Seite 107)

Einige Stunden später, nachdem Elizabeth Costello zu Bett gegangen ist, äußert Norma sich missbilligend über den Vortrag ihrer Schwiegermutter. John fasst zusammen, was er verstanden hat:

„Vermutlich wollte sie etwas über die Natur des rationalen Denkens sagen. Dass rationale Interpretationen lediglich durch die Struktur des menschlichen Gehirns bedingt sind; dass Tiere ihre eigenen Interpretationen haben, die mit der Struktur ihrer Gehirne harmonieren, zu denen wir keinen Zugang haben, weil wir keine gemeinsame Sprache haben.“ (Seite 117)

Norma hält diese Auffassung für naiv, leichtfertig und oberflächlich; wollte man jedes Weltbild achten, würde das zu geistiger Lähmung führen.

„Man verbringt so viel Zeit damit, vor allem und jedem Achtung zu haben, dass keine Zeit zum Denken übrig bleibt.“ (Seite 118)

Der Dichter Abraham Stern verwahrt sich in einem Brief an Elizabeth Costello dagegen, das Schlachten von Tieren mit dem Holocaust zu vergleichen.

Elizabeth Costellos ältere Schwester, die Altphilologin Bridget („Blanche“) Costello, hatte sich zur medizinischen Missionarin umschulen lassen und war nach Afrika gegangen. Inzwischen leitet sie die Verwaltung des katholischen Krankenhauses zur Jungfrau Maria auf dem Hügel (Marianhill) und versucht, vor allem aidsinfizierten Kindern zu helfen. Sie schrieb ein erfolgreiches Buch („Für die Hoffnung leben“), und „Newsweek“ brachte eine Reportage über sie. Als ihr in ihrer Wahlheimat die Ehrendoktorwürde verliehen werden soll, reist Elizabeth Costello an, um dabeizusein. Seit der Beerdigung ihrer Mutter vor zwölf Jahren in Melbourne haben die beiden Schwestern sich nicht mehr gesehen; ihre Beziehung war nie besonders eng.

Statt sich für die Auszeichnung zu bedanken, attackiert Bridget Costello in ihrer Rede während der Feier die humanistischen Wissenschaften.

„Meine Botschaft ist, dass Sie sich schon lange verirrt haben, vielleicht schon vor fünfhundert Jahren. Die Handvoll Männer, von denen die Bewegung ausging, deren traurige Nachzügler Sie, so fürchte ich, sind – jene Männer wurden, zumindest anfangs, vom Vorhaben beseelt, das Wahre Wort zu finden, worunter sie damals das Wort des Erlösers verstanden, wie ich es auch heute tue.“ (Seite 157)

Obwohl Elizabeth Costello noch immer wegen ihres skandalösen Holocaust-Schlachthof-Vergleichs angegriffen wird und besser daran tun würde, vorerst nicht öffentlich aufzutreten, nimmt sie eine Einladung an, auf einer Konferenz in Amsterdam einen Vortrag über das Böse mit dem Titel „Zeugnis, Schweigen und Zensur“ zu halten.

Mit neunzehn war sie erstmals dem Bösen begegnet. Damals ließ sie sich im Hafenviertel von Melbourne von einem zehn oder fünfzehn Jahre älteren Hafenarbeiter anmachen und folgte ihm in seine Pension. Als sie sich dann doch sträubte, mit ihm ins Bett zu gehen, versuchte er, sie zu vergewaltigen, zerriss ihr die Kleider und zündete die Stofffetzen im Papierkorb an. Sie sträubte sich, aber er schlug so hart zu, dass er ihr den Unterkiefer brach. Nackt sperrte sie sich in der Toilette auf dem Korridor ein, bis sie annahm, dass er schlief und es wagte, die Reste ihrer verkohlten Kleidungsstücke aus seinem Zimmer zu holen.

Den Hauptteil ihres Vortrags bildet ihre Kritik an dem Roman „The Very Rich Hours of Count von Stauffenberg„. Sie findet es obszön, dass der englische Schriftsteller Paul West Hinrichtungen nach dem missglückten Attentat vom 20. Juli 1944 in grausamen Einzelheiten schilderte: Von Schilderungen der Scheiße, die den Erdrosselten an den Beinen herunterläuft, will sie verschont bleiben.

Insbesondere ist sie nicht mehr überzeugt, dass die Menschen durch das, was sie lesen, immer besser werden. Außerdem ist sie nicht überzeugt, dass Schriftsteller, die sich in die eher düsteren Gefilde der Seele vorwagen, stets unversehrt zurückkehren. Sie fragt sich allmählich, ob es einen Wert an sich darstellt, dass man schreiben kann, was man will, und lesen kann, was man will. (Seite 202)

„Wir können uns durch das, was wir schreiben, in Gefahr bringen, glaube ich. Denn wenn das, was wir schreiben, die Kraft hat, aus uns bessere Menschen zu machen, dann hat es gewiss auch die Kraft, uns schlechter zu machen.“ (Seite 215)

In ihrem Vortrag sagt sie:

„Das ist heute meine These: Dass es nicht gut ist, bestimmte Dinge zu lesen oder zu schreiben. Anders formuliert: Ich nehme die Behauptung ernst, dass der Künstler viel riskiert, wenn er zu verbotenen Orten vordringt – dass er insbesondere sich selbst riskiert, vielleicht alles riskiert.“ (Seite 218)

Schließlich steht sie mit ihrem Koffer „vor dem Tor“. Natürlich hat sie Franz Kafkas Parabel gelesen und ahnt, dass dieses Tor nur für sie bestimmt ist. Der Pförtner fordert sie auf, ihre Aussage zu machen und reicht ihr ein Stück Papier, auf dem sie ihre Überzeugung formulieren soll. Sie schreibt:

„Ich bin Schriftstellerin, ich handle mit Fiktionen. Ich lege mir Überzeugungen nur vorläufig zu: Feste Überzeugungen wären mir im Wege. Ich wechsle die Überzeugungen, wie ich meine Wohnung oder meine Kleidung wechsle, je nach Bedarf.“ (Seite 243)

Nachdem der Pförtner den Text überflogen hat, wirft er das Blatt Papier weg und gibt ihr ein neues. Sie soll es noch einmal versuchen. In einer kafkaesken Gerichtsverhandlung sagt Elizabeth Costello:

„Ich bin Schriftstellerin, und ich schreibe, was ich höre. Ich bin eine Sekretärin des Unsichtbaren, eine von vielen Sekretären im Laufe der Jahrhunderte. Das ist mein Beruf: Texte nach Diktat zu schreiben. Es ist nicht an mir, Fragen zu stellen, zu beurteilen, was mir geliefert wird.“ (Seite 249)

„Natürlich behaupte ich nicht, ohne jegliche Überzeugung zu sein, meine Herren. Ich habe, was ich Meinungen und Vorurteile nenne, welche sich nicht wesentlich von dem unterscheiden, was gewöhnlich Überzeugung genannt wird. Wenn ich von mir behaupte, ich sei eine Sekretärin frei von Überzeugungen, beziehe ich mich auf mein ideales Ich, ein Ich, das in der Lage ist, Meinungen und Vorurteile im Zaum zu halten, während das Wort, das sie ihrer Aufgabe gemäß weiterleiten muss, durch sie hindurch geht.“ (Seite 250)

„Um es anders auszudrücken: Ich habe Überzeugungen, aber ich glaube nicht an sie.“ (Seite 250)

Vom Gericht gefragt, ob sie eine Ungläubige sei, antwortet sie:

„Nein. Unglauben ist ein Glauben. Eine Nicht-Gläubige, wenn sie die Unterscheidung akzeptieren, obwohl ich manchmal das Gefühl habe, dass Nicht-Glauben auch zum Credo wird.“ (Seite 251)

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Die Romanfigur „Elizabeth Costello“ führte John M. Coetzee nicht erst in seinem gleichnamigen Roman ein, sondern bereits fünf Jahre früher, in den „Tanner Lectures“ (1997/98) an der Princeton Universität, einem leidenschaftlichen Plädoyer gegen den Missbrauch der Tiere. Handelt es sich bei Elizabeth Costello um ein Alter Ego John M. Coetzees? Immerhin gibt es auffallende Entsprechungen zwischen dem Autor und seiner Protagonistin. Auch wenn die Übereinstimmung nicht eins zu eins ist, hat John M. Coetzee der fiktiven australischen Schriftstellerin unverkennbar eigene Anschauungen in den Mund gelegt.

Elizabeth Costello beschäftigt sich mit der Literatur und der Rolle des Schriftstellers, dem Glauben an Gott und der Existenz des Bösen, Tierquälerei, dem Verhältnis zwischen Tier und Mensch, der Bedeutung der Vernunft sowie mit Eros und Nächstenliebe. Ihre nicht immer stringenten Gedanken gleiten nicht selten ab, hin und wieder scheint sie ratlos zu sein, und sie wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.

Den von Elizabeth Costello angegriffenen englischen Autor Paul West gibt es wirklich. 1980 veröffentlichte er seinen Roman „The Very Rich Hours of Count von Stauffenberg“ (Neuauflage: Juli 1991).

„Elizabeth Costello“ ist kein Roman, sondern besteht aus „acht Lehrstücken“ – so der Untertitel. Im Mittelpunkt stehen denn auch fiktive Vorträge und Diskussionen, die von einer fragmentarischen Rahmenhandlung locker zusammengehalten werden. Die beiden Kapitel über „Das Leben der Tiere“ wurden von John M. Coetzee schon früher unter diesem Titel veröffentlicht (Deutsche Übersetzung: Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag).

Im ersten Lehrstück tut John M. Coetzee, als handele es sich um einen sachlichen Bericht über Elizabeth Costellos USA-Aufenthalt im Frühjahr 1995. Ein halbes Dutzend Mal weist der Autor ausdrücklich auf Sprünge in der Handlung hin – und macht sich auf diese Weise über den Realismus lustig, dem das Kapitel gewidmet ist.

Es folgt eine Szene im Restaurant, hauptsächlich Gespräche, die wir überspringen. (Seite 14)

Die Preisverleihungsszene überspringen wir. (Seite 25)

Wir überspringen den Rest der Foyerszene und begeben uns ins Hotel. (Seite 32)

Zwischendurch reflektiert er darüber:

Es ist nicht gut, wenn man den Erzählfluss zu oft unterbricht, weil das Geschichtenerzählen dadurch funktioniert, dass es den Leser oder Zuhörer in einen traumähnlichen Zustand versetzt, in dem Zeit und Raum der realen Welt verblassen und von Zeit und Raum der Fiktion abgelöst werden. Wenn man in den Traum einbricht, wird die Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit der Geschichte gelenkt und die Illusion von Wirklichkeit empfindlich gestört. Wenn wir aber nicht gewisse Szenen überspringen, sitzen wir den ganzen Nachmittag hier. Die Sprünge gehören nicht zum Text, sie gehören zur Darbietung. (Seite 25)

Auch das achte Lehrstück enthält ein ironisches Element: Elizabeth Costello ärgert sich über die „Kafka-Masche“, der sie „vor dem Tor“ ausgesetzt ist, etwa wenn sie ein Geständnis schreiben soll oder sich vor einem nicht recht greifbaren (Jüngsten) Gericht verantworten muss. „Kafka, auf eine Parodie reduziert und verflacht“, schimpft sie (Seite 261).

Dem achten Lehrstück folgt ein „Nachtrag“, in dem John M. Coetzee wie zu Beginn seines Buches die Ehefrau der Romanfigur eines anderen Schriftstellers einführt: Der Abschnitt besteht nämlich aus einem Brief von Lady Elizabeth Chandos an Francis Bacon (1561 – 1626) vom 11. September 1603. Sie hat eine Abschrift des Briefes gelesen, den ihr Mann Philip dem englischen Philosophen geschrieben hatte. (Dabei handelt es sich um einen fiktiven Brief aus der Feder Hugo von Hofmannsthals.) Lady Chandos bittet Francis Bacon um Hilfe für ihren Mann.

„Retten Sie mich, lieber Herr, retten Sie meinen Mann! Schreiben Sie! Sagen Sie ihm, dass die Zeit noch nicht gekommen ist, die Zeit der Giganten, die Zeit der Engel. Sagen Sie ihm, dass wir uns noch in der Zeit der Flöhe befinden. Worte erreichen ihn nicht mehr, sie zerschellen und zersplittern […] Aber Flöhe wird er verstehen […]
Weder die lateinische Sprache, sagt mein Philip – ich habe die Worte abgeschrieben –, weder die lateinische, noch die englische, noch die spanische oder italienische Sprache werden die Worte meiner Offenbarung gebären. Und so ist es […] Doch er schreibt an Sie, wie ich an Sie schreibe, der Sie vor allen anderen dafür berühmt sind, dass Sie Ihre Worte wählen und an die ihnen bestimmte Stelle rücken und Ihre Urteile bauen, wie ein Maurer mit Ziegelsteinen eine Hauswand baut. Dem Ertrinken nahe, schreiben wir aus unseren verschiedenen Schicksalen heraus. Retten Sie uns.“ (Seite 284f)

Unterschrieben ist der Brief mit „Elizabeth C.“ Das könnte auch Elizabeth Costello heißen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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