Siegfried Lenz : Der Überläufer
Inhaltsangabe
Kritik
Als Walter Proska, ein 29 Jahre alter Obergrenadier der Wehrmacht, im Sommer 1944 von einem Heimaturlaub in Sybba bei Lyck in den Masuren zu seiner bei Kiew stationierten Einheit zurückkehren will, beobachtet er während eines Zugaufenthalts in Prowursk eine hübsche junge Frau, die den diensthabenden Soldaten vergeblich darum bittet, mit nach Tamaschgrod fahren zu dürfen. Der Zug ruckt bereits an, da öffnet Walter Proska die Tür seines Abteils und hilft dem schönen Mädchen, von anderen unbemerkt aufzuspringen. Die 27-jährige Polin Wanda erzählt, ihr Vater sei vor zwei Jahren von Gendarmen erschossen worden. In dem Krug, den sie bei sich hat, vermutet Walter zunächst ein Getränk, aber Wanda erklärt ihm, sie bringe die Asche ihres beim Anschlag auf einen Zug ums Leben gekommenen Bruders zu ihrer Schwägerin nach Tamaschgrod.
Bevor der Zug den Ort erreicht, wollen ihn Feldgendarme kontrollieren, und der Lokführer verlangsamt deshalb die Fahrt auf Schritttempo. Walter hilft Wanda, rechtzeitig abzuspringen. Er geht davon aus, dass die junge Polin dem Zug nachläuft und nach der Kontrolle wieder aufspringt, aber sie taucht nicht mehr auf. Neugierig schaut er in den Krug, den sie bei ihm im Abteil zurückgelassen hat. Unter der Asche – angeblich der ihres Bruders – entdeckt er vier Stangen Dynamit. Erschrocken schleudert er den Krug aus dem Fenster, aber die erwartete Explosion bleibt aus.
Der Zug fährt in den Rokitno-Sümpfen auf eine Mine. Walter Proska überlebt den Anschlag als Einziger.
Er kommt zu einem halben Dutzend deutscher Soldaten, die den Befehl haben, die Bahnlinie zu kontrollieren. Ihre Unterkunft trägt den sarkastischen Namen „Waldesruh“. Gottlieb Hoffmann, ein Buchbinder aus Leipzig, hatte sie so getauft, bevor er vor einem halben Jahr von einer Streife nicht zurückkehrte und spurlos verschwunden blieb. Gegen die Übermacht der Partisanen haben die unter dem Kommando des zynischen Korporals Willi Stehauf stehenden Soldaten kaum eine Chance.
Der Unteroffizier erschießt Jan Kowolski, den greisen Pfarrer von Tamaschgrod, von hinten durch ein Fenster und erklärt seinen Männern, der Geistliche habe gewiss Sprengstoff bei sich. Zwei Soldaten durchsuchen die Taschen des Toten, finden aber nichts. Ungerührt meint der Unteroffizier daraufhin, es sei wohl ein Irrtum gewesen, aber es könne auch sein, dass der Pfarrer den Sprengstoff noch schnell verschluckt habe. Willi Stehauf rät den Soldaten, sich vorzusehen, denn die Leiche könne jeder Zeit explodieren.
Walter Proska freundet sich mit dem jüngsten seiner Kameraden an, mit Wolfgang Kürschner, den alle „Milchbrötchen“ nennen. Als die beiden bei einer Streife Wanda sehen, hält Walter den Jungen davon ab, die polnische Partisanin zu erschießen.
Als Walter einige Tage später das von Partisanen durchtrennte Telefonkabel flickt, trifft er erneut auf Wanda. Sie klärt ihn über die Sinnlosigkeit der Reparatur auf: Am anderen Ende wird sich niemand mehr melden, weil die Wehrmacht bereits aus Tamaschgrod abgezogen ist. Im Schilf versteckt, entkleiden sich die beiden und lieben sich.
Auf dem Rückweg sieht Walter einen Partisan mit einer sorglos über die Schulter gehängten Maschinenpistole, der auf ihn zukommt. Walter hofft, dass der Mann vorbeigeht, ohne ihn zu bemerken, aber als er befürchten muss, von dem jungen Mann entdeckt zu werden, erschießt er ihn.
Wolfgang Kürschner entfernt sich während eines Kontrollgangs von Walter Proska und kommt nicht zurück.
Partisanen überfallen die „Waldesruh“ und nehmen den Korporal Willi Stehauf mit seinen verbliebenen Männern gefangen. Wanda, die mit den Partisanen gekommen ist, beschuldigt Walter, ihren Bruder erschossen zu haben. Sie hörte die Schüsse, nachdem sie mit ihm zusammen im Schilf war und fand dann die Leiche ihres Bruders in einer Brombeerhecke. Walter ist entsetzt.
In der Gefangenschaft bietet Walter dem Partisan Bogumil das Du an, aber der schimpft:
Sobald ihr besiegt seid, wollt ihr Brüder sein. Das kennen wir. Erst wenn ihr Gnade braucht, wenn euch das schmutzige Leben teuer wird, wenn ihr Angst bekommt, dann redet ihr von Brüderlichkeit.
Walter trifft Wolfgang wieder, der zu den Partisanen übergelaufen ist. Schon vor einiger Zeit hatte er Walter erklärt:
Man muss die Kraft haben, einer Sache, der man zwanzig Jahre lang nachgelaufen ist, einen Fußtritt zu geben, wenn man einsieht, dass diese nicht nur falsch, sondern gemein, hinterhältig, gefährlich und mörderisch ist.
Nun meint er:
Der untätige, der passive Pazifismus ist ein impotentes Gespenst. Wer nur immer sagt: Ich bin gegen den Krieg und es dabei bewenden lässt und nichts außerdem tut, damit der Krieg ausgerottet wird, der gehört ins pazifistische Museum.
Wenn sie hier in der Gegend aufgewachsen wären, hätten sie von Anfang an zu den Partisanen gehört, gibt Wolfgang zu bedenken. Nach etwas Bedenkzeit wird auch Walter zum Überläufer.
In einer Ruine trifft Wanda sich mit ihm. Sie ist von ihm schwanger. Weil er eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hat, kann er sie nicht auf der Stelle nach Tamaschgrod begleiten, wo sie mit ihrer Familie wohnt. Aber sobald der Krieg zu Ende ist, will er sie mit nach Magdeburg nehmen, wo ein Onkel von ihm lebt.
Bei einem Einsatz kommen Walter und Wolfgang nach Sybba. Walter will die Gelegenheit nutzen, um bei seiner Schwester Maria und seinem Schwager Kurt Rogalski vorbeizuschauen. Doch auf dem Hof wird Wolfgang aus einem Hinterhalt erschossen. Walter sieht einen auf sich gerichteten Gewehrlauf in der einen Spaltbreit geöffneten Türe des Wohnhauses. Ohne nachzudenken schießt er – und tötet seinen Schwager. Maria hat sich in der Scheune versteckt. Sie hörte zwar die Schüsse, weiß aber noch nicht, was geschehen ist. Ihr Bruder drängt sie, den Hof auf der Stelle zu verlassen, und als sie erst noch die bereits gepackten Sachen aus dem Haus holen will, hält er sie davon ab. Dafür sei keine Zeit mehr, lügt er. Unterwegs sehen sie einen Militärlastwagen, der sich festgefahren hat. Walter schickt seine Schwester hin. Die Soldaten, die sich bemühen, den LKW zurück auf die Straße zu bringen, nähmen sie mit, sagt er zum Abschied.
Nach dem Krieg wird Walter Proska von einem Oberst der sowjetischen Besatzung in einer ostdeutschen Ortschaft als Bürgermeister eingesetzt.
Einmal gerät er am Bahnhof unter die Frauen, die auf ihre vermissten Männer warten. Ein Güterzug fährt ein, und aus den Waggons klettern Kriegsheimkehrer. Unter ihnen ist Jan Zwiczosbirski, ein 44-jähriger Oberschlesier aus Gleiwitz, einer von Walters Kameraden in der „Waldesruh“. Walter spricht ihn an, aber Jan Zwiczosbirski hat für den Überläufer kein Wort übrig.
Immer wieder werden Mitarbeiter in seiner Dienststelle ohne sein Zutun ausgetauscht. Nachdem Walter seinen Unmut darüber geäußert hat, wird er vor der ihm drohenden Verhaftung gewarnt. Er setzt sich in den Westen ab.
Sechs Jahre später ringt sich der inzwischen 35-Jährige durch, seiner Schwester in einem Brief zu gestehen, dass er ihren Ehemann erschoss. Aber der Brief kommt mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt verzogen“ zurück.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Im Frühjahr 1951 brachte der Hoffmann und Campe Verlag in Hamburg Siegfried Lenz‘ bereits im Oktober/November 1950 in der Zeitung „Die Welt“ veröffentlichtes Romandebüt „Es waren Habichte in der Luft“ in Buchform heraus. Der Verlagsleiter Rudolf Soelter nahm Siegfried Lenz Ende März 1951 gleich für einen zweiten Roman unter Vertrag, dessen Arbeitstitel „ da gibt’s ein Wiedersehen“ auf ein Soldatenlied von Hugo Zuschneid (1861 – 1932) zurückging. Mitte April schiffte sich Siegfried Lenz mit seiner Ehefrau Liselotte auf der „Lisboa“ in Bremen nach Marokko ein, aber sobald sie im Mai wieder zurück in Hamburg waren, begann er die Arbeit an dem neuen Roman. Im Sommer war die erste Fassung fertig, und der Verlag beauftragte Dr. Otto Görner mit dem Lektorat. Der Germanist und Volkskundler aus Karlsruhe war zunächst von dem Entwurf begeistert, aber nachdem Siegfried Lenz Anfang 1952 eine überarbeitete Fassung mit dem Titel „Der Überläufer“ geschickt hatte, distanziert er sich davon. Einen Deserteur der Wehrmacht wollten weder Görner noch der Verlag den deutschen Lesern zumuten, schon gar nicht einen Überläufer zu Partisanen, denn dieser Begriff war besonders negativ besetzt: Partisanen, das waren heimtückische Feinde, die aus dem Hinterhalt schossen.
Im April 2014 besuchte Siegfried Lenz das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Dieser Einrichtung vertraute er seinen Nachlass an, bevor er am 7. Oktober 2014 starb. Zu dem Material gehörte auch das Manuskript des Romans „Der Überläufer“, von dem nicht einmal sein Lektor und Nachlassverwalter Günter Berg etwas geahnt hatte. Im Frühjahr 2016 veröffentlichte der Hoffmann und Campe Verlag „Der Überläufer“.
Übrigens hatte der Lehrer und Schriftsteller Wilhelm Lehmann (1882 – 1968) bereits 1925 bis 1927 einen Roman mit dem Titel „Der Überläufer“ verfasst, der wegen seiner Thematik aber auch erst 1962 in der ersten Lehmann-Gesamtausgabe veröffentlicht wurde.
Am Beispiel eines Überläufers im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs veranschaulicht Siegfried Lenz die Sinnlosigkeit des Kriegs. Was den Wehrmachtssoldaten Walter Proska dazu motiviert, sich den Partisanen bzw. der Roten Armee anzuschließen, bleibt unklar. Letztlich folgt er dem Beispiel eines deutlich jüngeren, vom Pazifismus überzeugten Kameraden. Gegen Kriegsende erschießt Walter Proska noch zwei Menschen, die er eigentlich nicht hatte töten wollen: Zunächst den Bruder seiner polnischen Geliebten Wanda und dann seinen Schwager Kurt Rogalski. Erst sechs Jahre nach dem Krieg ringt er sich in einem Brief an seine Schwester Maria zu einem Schuldbekenntnis durch.
Siegfried Lenz hat das Kriegsgeschehen in eine 1950 spielende Rahmenhandlung eingebettet: Der 35-jährige Protagonist erinnert sich an die Ereignisse im Sommer 1944 und setzt sich damit auseinander.
Das Personal in „Der Überläufer“ ist großenteils skurril, und obwohl es zu Grausamkeiten kommt, wirken einige Szenen (tragi-)komisch. Damit unterstreicht Siegfried Lenz die Absurdität des Krieges.
Bemerkenswert ist sein Umgang mit der Natur, beispielsweise in folgender Textpassage:
Zwei Männer drangen in den Mischwald ein, in ein übermütig gärendes, verfilztes und verwobenes Fruchtbarkeitsparadies. Die Erlen schlugen nach ihnen und die Birken schlugen nach ihnen, und das Unterholz griff mit gespenstischen Händen nach ihren Schenkeln. Eine satte Finsternis umgab sie, eine Finsternis, die vollgefressen war wie ein Araber nach jenem Schmaus, den er am Ende der Fastenzeit zu halten pflegt; eine Finsternis, die jeden Augenblick hätte rülpsen können; es war eine völlig andere Finsternis als die, welche man unter den grausamen Röcken einer Nonne vermutet: Sie war ölig und warm, die Finsternis in dem Sumpfwald war da, und man hätte sich an ihr den Kopf oder das Schienbein stoßen können.
Den Roman „Der Überläufer“ von Siegfried Lenz gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Burghart Klaußner (ISBN 978-3-455-31032-0).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Hoffmann und Campe Verlag
Siegfried Lenz (kurze Biografie)
Siegfried Lenz: Es waren Habichte in der Luft
Siegfried Lenz: Der Mann im Strom (Verfilmung)
Siegfried Lenz: Brot und Spiele
Siegfried Lenz: Das Feuerschiff (Verfilmung)
Siegfried Lenz: Deutschstunde
Siegfried Lenz: Die Phantasie
Siegfried Lenz: Das serbische Mädchen
Siegfried Lenz: Die Auflehnung (Verfilmung)
Siegfried Lenz: Fundbüro
Siegfried Lenz: Wasserwelten
Siegfried Lenz: Schweigeminute
Siegfried Lenz: Landesbühne