Siegfried Lenz : Es waren Habichte in der Luft

Es waren Habichte in der Luft
Es waren Habichte in der Luft Originalausgabe Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1951 Astrid Roffmann (Hg.) Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2016 ISBN 978-3-455-40591-0, 332 Seiten Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021 ISBN 978-3-455-01261-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die nur wenige Tage dauernde Handlung des Romans "Es waren Habichte in der Luft" von Siegfried Lenz spielt kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Finnland. Aber das Thema ist zeitlos: Es geht um den Widerstand machtloser Einzelner gegen ein totalitäres Regime, das Lehrer für gefährlich hält und die Menschen nach eigenen Vorstellungen umerziehen will.
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Kritik

"Es waren Habichte in der Luft" lautet nicht nur der Titel des Romans, sondern auch der erste Satz. Das erzeugt von Anfang an eine bedrohliche Stimmung. Kraftvoll, ruhig und souverän inszeniert Siegfried Lenz die düstere Handlung. Es ist kaum zu glauben, dass es sich bei "Es waren Habichte in der Luft" um einen Debütroman handelt.
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Stenka

Von seinem Einsatz im Ersten Weltkrieg brachte der finnische Wirt Marian Roskow die deutsche Krankenschwester Erna mit, die er im Lazarett in Hamburg kennengelernt und in der Michaeliskirche geheiratet hatte. Inzwischen betreiben die beiden das Gasthaus in Pekö, das während des Kriegs von einem Freund Roskows verwaltet worden war.

Zwei Tage nachdem die Volksmiliz in Karelien alle Lehrer verhaftete, taucht in der Gaststätte in Pekö ein Fremder auf und fragt nach dem Blumenhändler Matowski. Der wurde wegen seiner feindlichen Einstellung gegenüber der durch einen Umsturz an die Macht gekommenen Regierung kürzlich erschossen. Stenka − so nennt sich der Fremde − erfährt außerdem, dass das Blumengeschäft inzwischen von einem Mann namens Leo geführt wird.

Leo kann den Neuankömmling gut als zusätzliche Arbeitskraft gebrauchen, zumal Stenka sich mit Pflanzen auszukennen scheint. Als Quartier weist Leo ihm die Kammer zu, die bisher von seinem Handlanger Erkki allein bewohnt wurde.

Stenka behauptet, in einer Sägemühle die Löhne ausgerechnet zu haben, aber Erkki kennt ihn von früher aus Kalaa. Da war Stenka sein Lehrer. Aber er hat nicht vor, ihn zu denunzieren.

Der Plan des Bürgermeisters

Durch die dünne Wand hört die nebenan wohnende Witwe − Leos frühere Geliebte − die Gespräche der beiden Männer und erfährt auf diese Weise, dass es sich bei Stenka um einen geflohenen Lehrer handelt, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Die Prämie hätte sie gern.

Der ebenso verschlagene wie einflussreiche Parteifunktionär Aati beruft in Leos Scheune eine Konferenz ein. Er will nicht nur den Lehrer ergreifen, sondern auch die auf einer Insel im See lebenden Mönche vertreiben.

„Wer junge Menschen erzieht, nimmt sich selbst zum Vorbild. Seine Gedanken über die Welt, über die Zahlen, über die Geschichte … ich mein, ein einziger Mensch kann fünfzig anderen beibringen, auf seine Art zu denken, die Nachbarschaft zu sehen und einzuschätzen.“

„Wir wollen für die Verwirklichung des menschlichen Wesens kämpfen. Uns liegt etwas daran, die Emanzipation des Menschen schnell und gewissenhaft zu vollenden. Wie der Mensch bisher in der Religion vom Machwerk seines eigenen Kopfes, so wurde er in der kapitalistischen Produktion von dem Machwerk seiner eigenen Hand beherrscht.“

Der Bürgermeister, den alle nur „der Graue“ nennen, gibt zu bedenken, dass man die Mönche nicht ohne Vorwand zwingen könne, die Gegend zu verlassen. Und er schlägt vor, seine politisch zuverlässige Bürokraft Manja für eine Nacht auf die Insel zu bringen, um die Mönche zu kompromittieren.

Manja verspricht ihrem Verlobten Erkki am Abend, das sei der letzte Auftrag, den sie für das Regime ausführt. Danach werde sie im Büro des Bürgermeisters kündigen und Erkki heiraten.

Verhaftung

Erkki drängt Stenka, sich anderswo in Sicherheit zu bringen, denn in Leos Blumenladen droht er aufzufliegen. Zum Abschied gibt er ihm einen Revolver mit, damit er sich notfalls verteidigen kann.

Als Stenka den Wirt Roskow um ein Nachtquartier bitten will, gerät er an einen Korporal der Volksmiliz, der sich in der Gaststätte betrinkt. Später kommt Erkki dazu. Der Korporal hält Stenka für den gesuchten Lehrer und verhaftet ihn. Um Stenka erneut zur Flucht zu verhelfen, schlägt Erkki den betrunkenen Milizionär von hinten nieder und wirft sich dann selbst auf den Boden, als ob er ebenfalls angegriffen worden wäre.

Petruschka

Stenka, der den See zu überqueren beabsichtigt, um über die Landesgrenze zu entkommen, beobachtet eine junge Frau bei den Booten. Manja wartet auf den „Grauen“, der sie zur Insel rudern will. Aber statt des Bürgermeisters nähert sich ein Irrer namens Petruschka.

Der war kurz nach seiner Eheschließung in Karelien zum Arbeitsdienst in Russland rekrutiert worden. Sieben Jahre lang musste er in Petersburg als Schiffszimmermann arbeiten, dann brachte ein Schiff die Zwangsarbeiter nach Port Arthur, wo Petruschka verwundet wurde. Nach der Entlassung aus dem Lazarett kam er wegen seines schlechten Gesundheitszustands vorzeitig frei und kehrte zurück. Als er neben seiner Ehefrau ein kleines Mädchen erblickte, zertrümmerte er die als Geschenk mitgebrachte Schale und verletzte dabei das Kind am Ohr. Die Tochter habe sein Bruder gezeugt, gestand die Frau. Petruschka drehte sich um und machte sich mit einer Axt auf die Suche nach dem Bruder, einem Holzschiffer.

Einige Jahre verbrachte Petruschka bei den Mönchen auf der Insel. Bevor er seinen Bruder − den regierungsfeindlichen Blumenhändler Matowski in Pekö − zur Rechenschaft ziehen konnte, wurde dieser erschossen. Wegen der Narbe am Ohr erkannte Petruschka in Manja die von seinem untreuen Bruder gezeugte inzwischen erwachsene Tochter.

Stenka sieht, wie Petruschka das Mädchen mit der Axt erschlägt. Er stürzt aus seinem Versteck, schießt auf den davonrennenden Mörder und trifft ihn in den Rücken. Entsetzt schleudert er Erkkis Revolver ins Wasser.

Verfolgung

Aati überbringt Leo und Erkki die Nachricht von den beiden Toten und lenkt den Verdacht auf den Lehrer.

Erkki sucht mit einem Bluthund nach Stenka, aber der watete einige Zeit in der Mitte eines Bachs, und das Tier verliert die Fährte.

Stenka, der nicht ahnt, dass Erkki ihn für den Mörder seiner Braut hält, versteckt sich ausgerechnet in dessen Zimmer. Als Stenka begreift, warum Erkki ihn zu erschießen droht, gelingt es ihm, ihn von seiner Unschuld zu überzeugen, und er berichtet, was er beobachtete. Daraufhin verhilft Erkki ihm erneut zur Flucht.


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Das Ende

Von Leo zur Rede gestellt, gibt Erkki offen zu, den gesuchten Lehrer erkannt und unterstützt zu haben. Während Leo versichert, dass er Erkki nicht verraten werde, droht die Witwe, ihren Zimmernachbarn anzuzeigen.

Bevor sie etwas unternehmen kann, taucht Aati auf, und obwohl der Funktionär nicht explizit einen Verdacht gegen Erkki äußert, ahnt dieser, dass er wohl bald verhaftet werden soll. Mit Leos Zustimmung flieht er.

Mit einem Ruderboot überholt er Stenka, der mit Petruschkas Floß auf dem See unterwegs ist. Wieder an Land klärt er den Lehrer darüber auf, dass sie sich nicht am anderen Ufer des Sees befinden, wie dieser glaubt, sondern auf der Insel.

Sie müssen weiter. Mit dem Boot erreichen sie das andere Ufer. Die Grenze ist nicht mehr weit. Aber der längst alarmierte Grenzmilizionär passt auf. Hinter einem Baumstamm versteckt, tötet er Stenka mit einem Kopfschuss und legt dann mit dem Karabiner auch auf Erkki an. Er trifft nur dessen Hand, und Erkki rettet sich über die Grenze.

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Die nur wenige Tage dauernde Handlung des Romans „Es waren Habichte in der Luft“ von Siegfried Lenz spielt kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Finnland. Aber das Thema ist zeitlos: Es geht um den Widerstand machtloser Einzelner gegen ein totalitäres Regime, das Lehrer für gefährlich hält und die Menschen nach eigenen Vorstellungen umerziehen will.

„Es waren Habichte in der Luft“ lautet nicht nur der Titel des Romans, sondern auch der erste Satz. Damit evoziert Siegfried Lenz von Anfang an eine bedrohliche Stimmung und führt zugleich ein Leitmotiv ein, das immer wieder auftaucht: auf Suche nach Beute in der Luft kreisende Habichte. Die Raubvögel stehen für Funktionäre der durch einen Umsturz an die Macht gekommenen Partei wie Aati, der sich seiner Sache so sicher ist, dass er sich Zeit lassen kann, einen geflohenen politischen Häftling zur Strecke zu bringen.

Kraftvoll, ruhig und souverän inszeniert Siegfried Lenz die düstere Handlung. Dabei wechselt er immer wieder die Perspektive: Mal beobachten wir Stenka, dann wieder Erkki, zwischendurch kurz Leo und Roskow. Auch von Petruschkas tragischer Vergangenheit lesen wir. Beinahe wie in einem Kriminalroman dosiert Siegfried Lenz Informationshäppchen, durch die wir nach und nach Zusammenhänge erkennen können.

Es ist kaum zu glauben, dass es sich bei „Es waren Habichte in der Luft“ um den Debütroman des 25-jährigen Schriftstellers Siegfried Lenz handelt. 1951 erschien er zunächst als Fortsetzungsroman in der Zeitung „Die Welt“ und dann als Buch im Hoffmann und Campe Verlag. Dieser Auftakt wurde zu Recht gefeiert.

Unter dem Titel „Die frühen Romane“ bot Hoffmann und Campe 1976 „Es waren Habichte in der Luft“ zusammen mit „Der Mann im Strom“, „Brot und Spiele“ und „Stadtgespräch“ an. Eine von Astrid Roffmann herausgegebene Neuausgabe von „Es waren Habichte in der Luft“ erschien 2016 bei Hoffmann und Campe.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Hoffmann und Campe Verlag

Siegfried Lenz (Kurzbiografie)

Siegfried Lenz: Der Mann im Strom (Verfilmung)
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Joachim Zelter - Die Verabschiebung
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