Siegfried Lenz : Das Feuerschiff
Inhaltsangabe
Kritik
Neun Jahre war das alte Feuerschiff im Einsatz, und da nun die Minenfelder geräumt und das Fahrwasser als sicher gilt, soll es in vierzehn Tagen endgültig eingezogen werden. Es ist die letzte Wache für Kapitän Freytag.
Er war ein alter Mann mit magerem Hals und hautstraffem Gesicht, seine wäßrigen Augen tränten unaufhörlich […]; obwohl sein untersetzter Körper gekrümmt war, verriet er noch etwas von der Kraft, die einst in ihm gesteckt hatte oder immer noch in ihm steckte. Seine Finger waren knotig, sein Gang säbelbeinig, als hätten sie ihm in seiner Jugend auf einer Tonne reiten lassen. (Seite 171)
Bevor Freytag Kapitän des Feuerschiffs wurde, hatte er sechzehn Jahre ein Schiff auf einer Linie in die Levante geführt. In dieser Zeit hatte sich ein Vorfall ereignet, bei dem einer seiner Männer verletzt worden war. Es heißt, er habe sich um den Mann nicht hinreichend gekümmert.
Dieses angebliche menschliche Versagen ist der Grund, warum Freytags Sohn Fred vor seinem Vater keinen Respekt hat und ihm Feigheit und mangelnde Risikobereitschaft unterstellt. Um seinem Sohn zu demonstrieren, mit welcher Entschlossenheit und Beständigkeit er seine Mannschaft im Griff hat, holt er ihn für die letzten Tage der Wacht an Bord. Gelangweilt lässt sich Fred auf dem Schiff herumführen und schaut durchs Fernglas, das ihm sein Vater gereicht hat.
Dabei entdeckt Fred ein auf dem Meer treibendes Boot mit Männern, die Zeichen geben. Freytag will das Boot zwar einholen lassen, da er sein Schiff aber nicht für geeignet hält, Passagiere zu beherbergen, hat er vor, die Leute dann so schnell wie möglich an Land zu bringen oder sie spätestens dem Versorgungsboot mitzugeben, das in vier Tagen kommen wird.
Drei Männer werden an Bord genommen: Doktor Caspary und dessen Freunde, die Brüder Eugen und Edgar Kuhl. Eugen ist ein Riese mit einer Lippenspalte und „einem Ausdruck blöder Zärtlichkeit“, wohingegen Edgar (Eddie) hinterlistig und mit „geringschätziger Zurückweisung“ auftritt. Als der Kapitän ihnen sagt, dass er sie so bald wie möglich von einem Fischkutter abholen lassen will, protestiert Caspary. Mit Nachdruck fordert er, dass man sein Boot repariere, denn er werde nicht weit von hier, in Faaburg, erwartet, und zwar dringend. – Freytag schickt den Maschinisten Soltow zur Reparatur in Casparys Boot.
Als Freytag in den Funkraum gerufen wird, hält Caspary ihn auf und schärft ihm nochmals ein, kein Boot anzufordern. Zumpe, ein Mitglied der Crew, kommt vom havarierten Schiff und hält dem Kapitän ein Bündel hin. Das habe er unter den Bodenbrettern gefunden: Waffen. Freytag will, dass Zumpe sie zurücklegt; es sei nicht seine Sache. Zumpe gibt die Gefährlichkeit der Männer zu bedenken. Sie müssten an Bord festgehalten werden bis das Versorgungsschiff eintrifft, und dann sollte der Funker die Hafenpolizei verständigen. Davon will der Kapitän nichts wissen. Wie es mit der Reparatur vorangehe, erkundigt er sich. Die Welle sei kaputt, man könne nichts mehr machen, sagt Zumpe und bringt dann auf Anweisung des Kapitäns das Bündel ins Boot zurück.
Nach einem gemeinsamen Essen in der Messe fliegt plötzlich die Tür auf und Zumpe taumelt herein und fällt über den Tisch. Gleich hinter ihm erscheint Eddie und beschwert sich, dass Zumpe ihn geschlagen habe. Gleichzeitig tritt er ihn in die Kniekehle. Eddie behauptet, gesehen zu haben, wie der Maschinist und Zumpe am Boot hantierten und Zumpe irgendetwas losmachte und ins Wasser warf, vermutlich die Zündkerzen. Und dann habe Zumpe ihn mit einem Strick geschlagen.
Als Caspary klar wird, dass das Boot nicht fahrtüchtig gemacht werden kann, wächst seine Ungeduld, weil er befürchtet, seine Verabredung nicht einhalten zu können. Er verlangt das Beiboot. Das lehnt Freytag kategorisch ab. Caspary droht mit der Unberechenbarkeit seiner beiden Begleiter. Auf den Vorwurf des Kapitäns, sie hätten etwas auf dem Kerbholz und wollten daher verschwinden, reagiert er gelassen.
Dann verzichte er eben auf die Boote, sagt Caspary, stattdessen müsse Freytag den Anker einholen und sie mit dem Feuerschiff nach Faaburg bringen. Der Kapitän legt ihm unmissverständlich dar, aus welchen Gründen es nicht möglich sei, dass ein Feuerschiff seine Position verlässt. „Ordnung ist der Triumph der Fantasielosen“, wendet Caspary ein und beschwört den Kapitän nochmals eindringlich, das Boot reparieren und sie bis zur nun wirklich unverzüglichen Behebung des Schadens in der Messe wohnen zu lassen.
Freytag sucht Rethorn, seinen Steuermann, in dessen Kammer auf. Zusammen mit Fred hat dieser gerade Nachrichten gehört. Es wurde vor zwei Männern gewarnt: zwei Brüder, beide bewaffnet und am helllichten Tag aus dem Zuchthaus Celle geflohen. Einer von ihnen hat einen Briefträger erschossen. Die Posttasche wurde noch nicht gefunden. Von einem dritten Mann wurde nichts erwähnt. Rethorn fragt, wann sie die Verbrecher festnehmen sollen. Man sollte sie sich einzeln vornehmen, schlägt Fred vor. Freytag gibt zu bedenken, dass die Männer bewaffnet sind. Er will auf seiner letzten Wacht Ruhe haben. Auf den Einwand Freds, ob er einen Mörder fortlassen wolle, weist sein Vater ihn zurecht, er gehöre nicht zum Schiff und habe deshalb nichts zu sagen. Soltow solle sich mit der Reparatur des Bootes in der Bordwerkstatt nochmals bemühen, und sich damit beeilen, befiehlt der Kapitän. „Ich will, dass keiner von uns beim Einlaufen fehlt.“ (Seite 203)
Da er nicht schlafen kann, wandert Freytag auf dem Schiff herum. Er entdeckt den Funker Philippi, Rethorn und Soltow, die sich an die Wand drücken und Werkzeuge versteckt dabei haben, die sie offenbar als Schlagwaffen verwenden wollen. Die drei Männer sehen eine gute Gelegenheit, sich an die Verbrecher heranzuschleichen, aber Freytag ist entschieden dagegen. Plötzlich macht sich Caspary bemerkbar. Hinter ihm steht Eugen Kuhl mit einer abgesägten Schrotflinte.
Caspary bringt den Kapitän dazu, ihn auf die Brücke zu begleiten. Dort schaut er in das Logbuch und fragt Freytag, ob er die zurückliegenden Ereignisse schon aufgeschrieben habe. Der Kapitän könne sich wohl denken, dass er nicht daran interessiert sei, erwähnt zu werden, mahnt Caspary. Aus der Ferne nähert sich ein Schiff. Ob sie von dort zu sehen seien, erkundigt sich der unliebsame Gast. Das Feuerschiff sei der Ansteuerungspunkt, erklärt ihm Freytag, alle richteten sich nach der von ihm ausgegebenen Kennung. Und was wäre, wenn die Kennung geändert würde, zum Beispiel von seinen Leuten, fragt Caspary, könnte man sie auf eine Sandbank schicken? Das sei richtig, antwortet Freytag, aber solange er und seine Männer an Bord seien, würden die anderen sich auf die Kennung verlassen können.
„Was auf diesem Schiff auch passieren wird, es wird nie seine Position verlassen. Alles andere kann geschehen, aber nicht das. Das Schiff bleibt hier.“
„Sie haben es in der Hand“, sagte Doktor Caspary. (Seite 213)
Durch ein Geräusch wird Freytag darauf aufmerksam, dass Eugen ins Boot geklettert ist, und er sieht Papierstücke in der Strömung treiben. Das seien vermutlich die Briefe, die seine Freunde in einer Tasche mit an Bord brachten und Eugen schicke sie wohl auf diesem Weg ab, spottet Caspary. Freytag kann auch noch sehen, dass Eugen die Umschläge aufreißt und nach Geldscheinen sucht. Caspary unterbricht seinen Kumpan bei der Tätigkeit, denn er befürchtet, dass anhand der an Land gespülten Briefe herausgefunden werden kann, aus welcher Richtung sie kamen.
Gombert taucht mit seiner Krähe auf. Er ist sehr stolz auf sie, denn sie begleitet ihn ständig, und er hat ihr beigebracht zu sprechen. Der Vogel hoppelt zwischen den Beinen der Männer herum und Eugen stupst ihn mit seiner Flinte. Freytag mahnt, vorsichtig zu sein, es sei eine wertvolle Krähe, sie könne nämlich sprechen.
„Der Wert des Sprechens hängt von den Texten ab“, sagte Doktor Caspary (Seite 217)
Als Eugen weiterhin die Krähe neckt, hackt sie mit dem Schnabel in seinen Handballen und beißt sich fest. Der Verletzte sieht auf seine blutende Wunde und schleudert das Tier über Bord. „Sie ruft nicht einmal um Hilfe“, höhnt Caspary und Eugen schießt auf den Vogel im Wasser.
Fred sucht ein Gespräch mit seinem Vater und sagt, er sei inzwischen von der Richtigkeit des Vorwurfs überzeugt, dass dieser damals auf der Levante-Tour einen seiner Leute im Stich gelassen habe, denn er sei heute noch ebenso feige wie damals. Freytag erklärt ihm, dass er damals aufgrund der gegebenen Sachlage nicht anders habe handeln können und fordert ihn auf, ihm, seinem Vater, mehr zu glauben als dem Gerede der Leute. Es stimme, er sei nie ein Held gewesen und wolle auch kein Märtyrer sein.
„Wer keine Waffen hat und keine Gewalt, hat immer noch mehr Möglichkeiten, und manchmal glaube ich, dass hinter diesem Wunsch, sich um jeden Preis den Gewehrmündungen anzubieten, der schlimmste Egoismus steckt.“ (Seite 232)
Deshalb habe er Rethorn und die anderen weggeschickt, als sie versuchten, die drei Fremden zu fassen, erklärt er seinem Sohn, anderenfalls hätte man sie heute in Segeltuch einnähen müssen.
Als Freytag sich über die Reling beugt, kann er wegen des Nebels zunächst nichts erkennen, aber dann sieht er, dass die Leine, an der das havarierte Boot festgemacht war, schlaff im Wasser hängt. Es ist fort. Er verdächtigt Rethorn, die Leine gekappt zu haben.
Das muss er nun Doktor Caspary sagen. Der legt gerade Patience mit Karten, die er sich aus Freytags Schrank genommen hat. Eugen ist ebenfalls anwesend. Freytag informiert ihn über das Fehlen des Bootes, worüber Caspary nicht erstaunt ist. Er habe schon früher damit gerechnet. Jetzt bestehe er darauf, mit dem Beiboot wegzukommen oder man müsse dem Feuerschiff Segel setzen. Das lehnt Freytag weiterhin ab.
Gombert kauert unbemerkt im Beiboot. Er hat einen Marlspieker dabei. Vorher legte er einen Zettel in die Messe, auf dem es heißt, Caspary werde versuchen, allein wegzukommen. Ein bestochener Mann der Besatzung wolle ihm helfen, das Boot ins Wasser zu bringen. Gombert hofft, Eugen oder Eddie damit herbeilocken zu können.
Vier Stunden wartet Gombert, beobachtet wie sich das Gewitter an Land verzieht und steigt dann aus dem Boot, um zur Toilette zu gehen. Caspary stellt sich unerwartet ans Nebenbecken und erwähnt beiläufig, dass man jetzt wohl segeln könnte. Ob Gombert dabei behilflich sein würde, sie nach Faaburg zu bringen. Da müsse er schon den Kapitän fragen, antwortet Gombert. Sie drehen sich gleichzeitig um, und reflexartig schlägt Gombert Caspary seine Fäuste ins Gesicht. Dieser streift mit dem Hinterkopf den Beckenrand und fällt auf den Rücken. Ein Auge hat er geschlossen, das andere starrt Caspary gleichgültig an – es ist ein Glasauge. In der Toilette will Caspary den Verletzten nicht liegenlassen, weil ihn dort die anderen entdecken könnten. Er legt sich den schlaffen Körper über die Schulter, wirft ihn in den Kartenraum und fesselt ihn an einen Stuhl.
Durch die Tür hört Gombert Zumpes Stimme. „Hast du den Blöden erwischt?“, fragt er. „Das ist ja der Überschlaue“, stellt er enttäuscht fest. Rethorn wollen sie nichts sagen, aber der Kapitän muss informiert werden. Caspary schließen sie im Kartenraum ein. Gombert geht zu Freytag, und Zumpe wartet vor dem Kartenraum mit Gomberts Marlspieker in der Hand. Währenddessen hört er drinnen ein polterndes Geräusch. Er sieht nach und wundert sich, dass Caspary sich zwar auf dem Stuhl seitwärts zu bewegen versucht, aber es scheint ihm nicht darauf anzukommen, seine Fessel loszuwerden. Zumpe setzt ihm die Spitze des Marlspiekers ins Genick. Der Gefesselte verlangt, in einen Spiegel sehen zu dürfen; das sei früher zeitweilig eine Lieblingsbeschäftigung von ihm gewesen.
„Ich saß mit einem Revolver vor meinem Spiegelbild und zielte auf das Gesicht, das ich sah: auf diese Stirn, auf diese Augen, zielte auf das Kinn oder zwischen die Lippen; stundenlang konnte ich so sitzen und das Gesicht unter dem Revolver betrachten.“ (Seite 144)
Zumpe stellt den Spiegel auf den Tisch. „Der Revolver wird zu gegebener Zeit nachgeliefert“, raunzt er und schließt den Kartenraum wieder ab. Er hört Schritte von zwei Männern und erwartet Gombert und Freytag. Es sind jedoch die beiden Brüder: Eddie mit einer Maschinenpistole, dahinter Eugen. Sie fragen nach Caspary. Zumpe lügt, der sei in der Messe. Sie wollen aber in den Kartenraum und rütteln an der Tür. Da ihnen nicht aufgeschlossen wird, beugt sich Eugen zum Schlüsselloch hinunter, während Eddie, ebenfalls gebückt, seinem Bruder dabei zusieht. In diesem Augenblick zückt Zumpe seinen Marlspieker, mit dem er Eddie im Rücken verletzen will. Doch Eugen, der den Gefesselten im Kartenraum gesehen hat, ahnt die Absicht Zumpes, und bevor dieser zustechen kann, versetzt er Eddie einen Stoß, sodass dieser gegen das Brückengeländer taumelt. Eddie drückt sich mit dem Rücken vom Geländer wieder ab und schießt. Die Geschosse dringen in Zumpes Körper von der Hüfte bis zum Schlüsselbein.
Die Brüder schließen die Tür zum Kartenraum auf und binden Caspary los. Dann hören sie die Stimmen der Besatzung. Eddie richtet den Lauf seiner Maschinenpistole auf den Kapitän. Freytag sieht Zumpe auf dem Boden liegen. Gombert, Freytag und Rethorn bringen den Toten in eine Kammer, wo er bleiben soll, bis das Versorgungsschiff ihn mitnehmen kann. Es hätte nicht soweit kommen müssen, wenn Zumpe sich an die Abmachungen gehalten hätte, schimpft Freytag. Er wolle nicht ihm die Schuld geben, aber demjenigen, der die Bootsleine abgeschnitten hat, sagt er und sieht dabei Rethorn an. Der bestreitet, das Boot losgemacht zu haben. (Caspary verrät Freytag später, er habe selber die Leine abgeschnitten, weil zu befürchten gewesen sei, dass der Maschinist das Boot so präparieren würde, dass der Motor nach kurzer Zeit wieder ausgesetzt hätte. In diese Falle habe er nicht tappen wollen.)
Der Kapitän trägt im Logbuch die Vorkommnisse der letzten Tage nach. Wo früher für einen Tag zehn Zeilen genügten, muss er der vollgeschriebenen Seite Extrabögen anfügen. Als Freytag ein Geräusch hört, legt er das Logbuch ins Regal zurück. Caspary ist hereingekommen. Er bedaure den Vorfall mit Zumpe, sagt er. Das sei kein Vorfall gewesen, erwidert Freytag, sondern Mord. Caspary verlangt vom Kapitän, unverzüglich nach Faaburg gebracht zu werden und weist darauf hin, dass er etwas in der Hand habe, das im Ernstfall stärker sei als seine bockige Ablehnung.
„… so wie Sie redet man, wenn man einen Revolver in der Tasche hat, aber ich möchte Sie einmal hören, wenn Sie unbewaffnet wären oder wenn wir Waffen hätten.“
„Was Sie feststellen, ist nicht neu, Kapitän: so wie heute ein Revolver den Satzbau verändern kann, so hat schon die erste Schleuder dafür gesorgt, dass sich der Umgangston zwischen Menschen änderte: Wer Waffen hat, findet immer ein anderes Verhältnis zur Sprache als ein Unbewaffneter.“ (Seite 253)
Caspary geht zum Regal und nimmt das Logbuch heraus. Er liest die Einträge und reißt die Seiten heraus. Rethorn meldet währenddessen, dass sich das Versorgungsboot nähert. Um in der Messe von den Besuchern nicht entdeckt zu werden, will Caspary sich auf die Brücke zurückziehen, und er schärft dem Kapitän ein, sich gut zu überlegen, was er bei eventuellen Nachfragen sagen werde. Auf der Brücke sieht Freytag die beiden Brüder mit Waffen hinter der Brüstung stehen.
Zwei Männer des Versorgungsboots kommen an Bord und verlangen augenblicklich nach etwas zu trinken. Freytag führt sie in die Messe und gibt ihnen Tee mit Rum. Die Gespräche drehen sich um Belangloses. Schließlich wollen die Männer noch Kaffee zu der als Abschiedsgeschenk mitgebrachten Torte. Freytag beauftragt Trittel, dafür zu sorgen. Die Runde vertreibt sich inzwischen die Zeit mit einer Flasche Cognac. – Freytag kann sich nicht erinnern, dass sich die Männer in all den Jahren jemals so betrunken hätten wie diesmal. Er bemerkt, dass schlechtes Wetter aufzieht und sieht deshalb zu, dass die schwankenden Männer rechtzeitig zu ihrem Schiff zurückkehren. Es werden Seewarnnachrichten durchgegeben.
Wenigstens kommen sie noch vor dem Wetter nach Hause, spottet Caspary, als er mit dem Kapitän den blinkenden Heckleuchten des Schiffs nachsieht. Freytag glaube doch auch, „dass wir etwas zu erwarten haben“. „Sie haben eine Menge zu erwarten“, antwortet er.
„Ich bin in meinem Leben Männern begegnet, die mir zuwider waren, wenn ich sie nur ansah – Typen, die ich am liebsten als Kielschwein hinter dem Schiff gehabt und durch alle Wasser der Erde geschleift hätte, aber keiner war mir so zuwider wie Sie. Ich frage mich manchmal, ob so etwas wie Sie überhaupt einen Vater gehabt haben kann.“ (Seite 260)
Er habe sehr wohl einen Vater gehabt, sagt Caspary, einen fleißigen und später frommen sogar. Der stellte zunächst an fast allen Bahnhöfen Norddeutschlands Kioske auf, und als er damit ein Vermögen erworben hatte, verpachtete er sie. Sein Interesse galt dann der Bibel und der Familiengeschichte. Er schrieb als Interpret der Heiligen Schrift für Sonntagsblätter, und bei seiner Stammbaumforschung fand er heraus, dass alle vierzig Jahre schwarze Schafe auftauchten, Gewohnheitsdiebe, Betrüger, Mörder. Allerdings handelte es sich dabei um „begabte Querschläger“. Das erzählte er seinen Söhnen am sechzehnten Geburtstag. Jetzt seien gerade wieder vierzig Jahre vorbei, sagte er und blickte dabei Caspary an, aber nicht dessen Zwillingsbruder Ralph. Als Caspary an diesem Abend in den Spiegel sah, entdeckte er einen Fremden. Von da an wollte er nicht mehr mit der armseligen Identität des Wolfram Caspary leben, sondern legte sich systematisch mehrere Leben zu. Leben Nummer eins war ihm gewissermaßen in den Schoß gefallen. Bei einem Segeltörn mit seinem Bruder kenterte das Boot. Ralph konnte er nicht retten („Sie wissen, dass Ertrinkende mit Vorliebe klammern“); er selbst kam ans Ufer, ließ sich dann für tot erklären und übernahm Ralphs Anwaltspraxis. Das zweite Leben ergab sich aus dem ersten. In einer Anwaltspraxis hat man tiefen Einblick in Charaktere jeden Typs. Er spezialisierte sich darauf, die Biografie von besonders angesehenen Leuten nach Schwachstellen zu erforschen und ihnen das Ergebnis seiner Bemühungen mitzuteilen mit der Bitte um Begleichung der beigelegten Rechnung. Die Erpressung funkionierte in allen Fällen. Das dritte Leben finanzierte er mit den Erlösen des zweiten: er wurde Werftunternehmer. Eingedenk des Todes seines Brudes spezialisierte er sich unter anderem auf unsinkbare Rettungsboote. Das Boot, in dem sie aufgefischt wurden, sei „übrigens eigenes Fabrikat, ein älteres Versuchsmodell“, sagt Caspary zum Schluss. Und was es mit den Brüdern Kuhl auf sich habe, will Freytag wissen. Er sei ihnen aus der Zeit seines zweiten Lebens verpflichtet, antwortet der Verbrecher, es sei mehr als eine Freundschaft.
Während Caspary dies alles erzählte, entwickelte sich das Unwetter zu voller Stärke. Freytag bemerkte sehr wohl, dass Caspary ihn absichtlich mit seinem Redeschwall ablenken wollte, weil er misstrauisch geworden war. Mit Soltow hatte Freytag verabredet, die Gangster mit dem Boot abzustoßen, so dass sie wie auf einem Tablett dem Polizeiboot entgegengetrieben wären. Aus diesem Plan wird nun nichts, aber vielleicht können sie im Sturm etwas Anderes versuchen. Soll der Funker die Direktion von der Lage an Bord unterrichten? Dann würde ein Polizeiboot kommen und die Besatzung zur Zusammenarbeit auffordern. Unter den gegebenen Umständen, war dies keine Option.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Eddie kommt auf den Kapitän zugerannt – sein Bruder ist weg! Wahrscheinlich sei Eugen übel geworden, überlegt Freytag und will nachsehen. In der Kombüse sieht er Trittel mit Eugen, dem ein Revolverknauf aus der Tasche lugt, Kaffee trinken.
Freytag schaut bei seinem Sohn vorbei. Nach einer gereizten Auseinandersetzung verlässt Fred verärgert die Kammer. Bald darauf steht Trittel aufgeregt in der Tür. Keuchend erzählt er, dass er mit Eugen zusammensaß und dieser sich erkundigte, ob sie Zumpe auf Eis gelegt hätten. Und plötzlich dachte ich an euch, sagt Trittel, und glaubte, es auch euretwegen tun zu müssen. Das Messer kam wie von selbst in meine Hand – und dann fiel er neben den Hocker. Ich trug ihn raus, eine See nahm ihn mit.
Nach dem Wolkenbruch läßt der Wind nach. Gegen Morgen sieht Gombert eine Mine auf das Schiff zutreiben. Möglicherweise ist sie taub, aber darauf will er sich nicht verlassen. Mit einer Waffe könnte man sie entschärfen. Der Kapitän weckt Caspary und erklärt ihm die Situation. Nachdem er sich mit seinen Freunden (von Eugen weiß er noch nichts) besprochen habe, sagt Caspary, werde man sehen. Gombert ist dagegen, die Hilfe der Verbrecher anzunehmen. Aber man wird es wohl tun müssen.
„Wer wird die Mine abschießen“, fragte Gombert, „der Blöde oder sein Bruder?“
„Sein Bruder“, sagte Freytag, „und das wird das letzte Mal sein, dass er schießt. Ich kann dir nicht mehr sagen als dies.“
„Ist etwas passiert?“
„Ja, es ist etwas passiert, und du wirst es früh genug hören.“ (Seite 277ff)
Eddie und Caspary kommen an Deck. Eddie trifft die Mine erst beim zweiten Versuch an der richtigen Stelle; sie war noch scharf.
Caspary verlangt, dass Freytag ihm nochmals zuhört:
„Ich vermute […], dass ich in Ihnen einen Mann getroffen habe, der mir am nächsten kommt: unsere Nähe ergibt sich nicht aus dem, worin wir übereinstimmen, sondern aus der Vollkommenheit, mit der wir uns in jeder Hinsicht widersprechen. Sie würden erschrecken, wenn Sie wüssten, wie sehr ich Sie verstehe und wie nah wir uns gegenüberstehen, Ihr Leben, Kapitän, wäre das einzige, das ich noch hätte führen können, wenn ich mich nicht für mein Leben entschieden hätte, oder für meine drei Leben.“ (Seite 281)
Caspary zieht den Kapitän zur Seite. Er behauptet, eine große Menge Geldes bar bei sich zu haben. Das könne Freytag bekommen, wenn er ihn und seine Freunde wegbringe. Da das Schiff ohnehin auf der letzten Wache sei, mache ein Umweg doch wohl nichts aus. Freytag lehnt das Angebot kategorisch ab und meint, dass es auch kein anderer auf diesem Schiff annehmen würde. Er wäre sich da nicht so sicher, meint Caspary.
Der Kapitän wird in die Funkerkabine gerufen. Die Direktion wisse Bescheid, sagt Philippi. Er habe es für seine Pflicht gehalten, sie zu unterrichten. Nun wird ein Polizeiboot kommen. Das ist genau das, was Freytag nicht wollte. Er schreibt wieder in sein Logbuch und ersetzt die von Caspary herausgerissenen Einträge.
Dann geht er mit Soltow zum Ankerspill, wo er von der Mannschaft erwartet wird; Fred, Caspary und Eddie sind ebenfalls da. Warum sie nicht auf ihren Posten seien, schilt Freytag seine Männer. Gombert solle sofort auf Ausguck gehen. Der bleibe hier, fährt Caspary dazwischen, und Eddie presst die Maschinenpistole fester an sich. Nochmals fordert der Kapitän seine Crew auf, an ihre Plätze zu gehen. Aber auch seine weiteren Befehle werden ignoriert. Caspary bedeutet ihm, dass die Besatzung den Anker lichten wird und Freytag sodann ihn und Eddie an Land absetzen soll. „Das Schiff bleibt hier“, das sei sein letztes Wort, konstatiert Freytag, und sie sollten nur versuchen, den Anker heraufzuholen. Dann wendet sich Rethorn an den Kapitän: Er solle bedenken, was mit Zumpe geschehen sei. Freytag vermutet, sein Steuermann sei bestochen worden. Aber Rethorn bestreitet das und wendet ein, er denke lediglich an das Wort des Kapitäns, dass beim Einlaufen des Schiffes niemand fehlen solle. Das Schiff bleibe vor Anker, bekräftigt Freytag erneut.
Eddie legt seinen Finger an den Abzug und wandert mit dem Gewehrlauf die Reihe der Männer entlang. Rethorn befiehlt, die Ankerkette einzuholen. Nochmals mischt sich Freytag ein. Er geht auf den Spill zu, aber Eddie stellt sich ihm in den Weg. Trotz dessen Warnung, nicht weiterzugehen, bewegt er sich auf den Bewaffneten zu. Eddie schießt, und bevor Freytag noch zu Boden gefallen ist, zieht Fred den Marlspieker aus seiner Tasche und stößt ihn in Eddies Rücken. Der ist sofort tot. Gombert treibt Caspary in die Messe.
Gerade als Fred und die Männer Freytag in seine Kammer bringen wollen, sehen sie ein Boot auf sich zukommen. Fred kniet sich neben seinen Vater, der noch versucht, eine Hand zu heben. Dann fragt er seinen Sohn:
„Fahren wir, Fred?“
„Nein, Vater“, sagte der Junge.
„Alles in Ordnung?“
„Alles“, sagte der Junge. (Seite 298)
Ein Feuerschiff, dessen Bestimmung es ist, an der Kette zu liegen, dient als Schauplatz für die Auseinandersetzung von zwei grundverschiedenen Männer. Der wortkarge Kapitän ist der Prototyp eines pflichtbewussten, prinzipientreuen, sich dem Wohl seiner Untergebenen verpflichtet fühlenden Mannes. Dies wird ihm teilweise als Sturheit angekreidet oder als Mangel an Risikobereitschaft. Deshalb wirft ihm sein Sohn Passivität und Feigheit vor. Die andere Person ist das pure Gegenteil: Schon in seiner Vergangenheit zeichnete sich Doktor Caspary durch Opportunismus und Skrupellosigkeit aus. Die doppelzüngige Art und Weise, die er um Umgang mit anderen Menschen praktiziert, unterstreicht seine Arroganz und seinen Zynismus. Seine Intelligenz und Sprachgewandtheit erleichtern ihm die Durchführung seiner Gaunereien.
Die gegensätzlichen Charaktere arbeitet Siegfried Lenz in „Das Feuerschiff“ gut beobachtet heraus. Auch am Beispiel kleiner Marotten werden Unterschiede deutlich. So schlingt sich der Kapitän als Verlegenheitsgeste ein Taschentuch um seine Faust, wohingegen Doktor Caspary seinen klotzigen Siegelring (an behaarter Hand) an der Hüfte blank poliert. Selbst das ihn umgebende Personal ist zwielichtig. Seine sogenannten Freunde sind kriminell, der eine ist halbdebil und der andere kaltschnäuzig. Der Kapitän dagegen hat es mit gestandenen Männern zu tun, die er, wenn sie aus seiner Sicht nicht in seinem Sinne handeln, zur Räson ruft.
Nicht nur die Auseinandersetzung der beiden Protagonisten ist interessant, auch die Handlung entwickelt sich mit vielen Wendungen, sodass man bis zum Schluss gespannt dabei bleibt.
„Das Feuerschiff“ erschien zwar in den „Gesammelten Erzählungen“ von Siegfried Lenz, streng genommen handelt es sich jedoch um eine Novelle.
Florian Gärtner verfilmte die Erzählung von Siegfried Lenz: „Das Feuerschiff“.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2009
Textauszüge: © Hoffmann und Campe
Die Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe von 1970.
Florian Gärtner: Das Feuerschiff
Siegfried Lenz (Kurzbiografie)
Siegfried Lenz: Es waren Habichte in der Luft
Siegfried Lenz: Der Mann im Strom (Verfilmung)
Siegfried Lenz: Brot und Spiele
Siegfried Lenz: Deutschstunde
Siegfried Lenz: Die Phantasie
Siegfried Lenz: Das serbische Mädchen
Siegfried Lenz: Fundbüro
Siegfried Lenz: Wasserwelten
Siegfried Lenz: Schweigeminute
Siegfried Lenz: Landesbühne
Siegfried Lenz: Der Überläufer