Siegfried Lenz : Die Phantasie

Die Phantasie
Die Phantasie (1974) Die Erzählungen (2 Bände) Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015 ISBN 978-3-455-01234-7, 1600 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Drei Schriftsteller diskutieren in einer Kneipe über ihr Metier. Gegenteilige Meinungen vertreten zwei von ihnen: Gregor Bromm lässt nichts außer dem Realismus gelten, Dieter Klimke plädiert für die Fantasie. Der Dritte, dessen Namen wir nicht erfahren, nimmt eine mittlere Position ein. Jeder von ihnen denkt sich aus, was es mit dem ebenfalls anwesenden Paar am anderen Tisch auf sich haben könnte und erzählt die Geschichte.
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Kritik

Dass am Ende der Erzählung "Die Phantasie" drei Geschichten über ein unbekanntes Paar nebeneinander stehen, erinnert an die Ringparabel. Vielleicht ist "Die Phantasie" ein wenig zu deutlich ‒ nicht genügend kunstvoll verpackt ‒, aber auf jeden Fall handelt es sich um eine interessante Fragestellung, und es ist beeindruckend, wie Siegfried Lenz mit wenigen Strichen prägnante Szenen veranschaulicht.
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Zum letzten Anker

Der Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, und sein Schriftsteller-Kollege Gregor Bromm suchen nach dem Besuch einer Autorenlesung Dieter Klimkes im Bahnhofsviertel vergeblich nach einer serbischen Kneipe und nehmen schließlich mit „Zum letzten Anker“ vorlieb. Dort sitzt zufällig auch Dieter Klimke, und sie gesellen sich zu ihm an den Tisch.

Der Wirt, er heißt Baas Ruschewey, hat nicht viel zu tun, denn außer den drei Schriftstellern ist nur noch ein Paar da. Der Mann versucht sein Glück an einem der Spielautomaten, während die Frau teilnahmslos trinkt.

Der Bursche – gewürfeltes Sporthemd, eng sitzende Lederjacke – nahm die Handtasche der Frau, stürzte den Inhalt auf den Tisch – unter anderem die Schwungfeder eines größeren Vogels – und suchte sich zwischen Schlüsseln, Ausweisen, Lippenstift die Geldmünzen heraus, während die Frau selbst interesselos in ihr Glas starrte, die Hände unter dem Tisch gegeneinander pressend. Sie war älter als der Bursche, vielleicht zehn oder zwölf Jahre älter, eine Frau mit sehr hellen Augen und harten, ebenmäßigen Gesichtszügen; offenbar hatte sie dem Wirt einen Dauerauftrag erteilt, denn von Zeit zu Zeit füllte er ihr Glas nach.

Dieter Klimke erinnert sich an Gregor Bromms kritische Bemerkungen bei der Veranstaltung.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagte Klimke, nannten Sie meine Arbeiten „beliebige Zeugnisse der Phantasie“. So ungefähr, sagte Gregor, Texte, die zu nichts verpflichten; sie sind nicht durch die Wirklichkeit beglaubigt.

Die Phantasie – für mich hat sie ihre eigene Beweiskraft. Und ihre eigene Wirklichkeit. Aber sie ist nicht zu widerlegen, sagte Gregor, und was nicht widerlegt werden kann, das ist auch nicht wirklich.

Der Ich-Erzähler meint:

Das Phantastische ist keine Republik für sich. Es existiert nicht getrennt von der Wirklichkeit, es gehört zu ihr.

Gregor Bromm schlägt vor, dass jeder von ihnen erzählen solle, was mit dem Paar am anderen Tisch los sei, und die beiden anderen Schriftsteller fordern ihn auf, den Anfang zu machen.

Gregor Bromms Geschichte

Die Frau heißt Belinda. Sie hilft ihren beiden Kindern bei den Hausarbeiten, bis ein Taxi vorfährt und sie hinaus eilt. Ihr Ziel ist eine Laubenkolonie. Dort lässt sie den Taxifahrer warten.

Thomas Niebuhr, so heißt der Mann, den sie aufsucht, hat gerade die Kündigung für die Laube bekommen, in der er haust, und alle Bewerbungen des Arbeitslosen sind gescheitert. Auf Belindas Mitteilung, sie könne ihre Liebesbeziehung nicht weiterführen, weil ihr Ehemann Christian an einen anderen Ort versetzt werde, nimmt Thomas gleichgültig auf.

Ob sie ihn im Taxi mit zum Bahnhof nehme, fragt er sie.

Unterwegs kollidiert ein anderes Auto mit dem Taxi. Zum Glück wird niemand verletzt. Der mit dem Unfallgegner streitende Taxifahrer erwartet von seinen beiden Fahrgästen, dass sie als Zeugen aussagen.

Was ist los, fragt [Thomas], was hast du, Belinda? Er wird mich ja wiederfinden, sagt sie, mein Gott, er wird zu uns nach Hause kommen. Wer, fragt Thomas. Der Taxichauffeur, sagt sie. Ich habe einen anderen Namen in ein Notizbuch geschrieben, eine andere Adresse. Aber das nützt nichts: Er hat mich doch von zu Hause abgeholt. Du hast einen falschen Namen angegeben, fragt der Bursche, und Belinda: Mein Gott, ist mir übel. Lass uns hier reingehn, Thomas, nur einen Augenblick. Lass uns etwas trinken. Mein Gott, ist mir übel.

Die Geschichte des Namenlosen

Der Ich-Erzähler hält die beiden für Geschwister: Karen und Herbert („Hebbi“). Sie besuchten vorhin die verwitwete Mutter, die ihren 65. Geburtstag feiert. Der von Herbert verachtete Vater, Paul Krogmann, starb vor elf Jahren bei einem Unfall als Lokführer.

Nach dem Besuch bei der Mutter beobachten die Geschwister einen Mann auf der Straße, der einem Kind Blumen gibt und es augenscheinlich beauftragt, den Strauß zu einer Adresse zu bringen. Herbert ist überzeugt, dass es sich bei dem Mann um den Vater handelt. Die Blumen seien als Geburtstagsgeschenk für die Mutter gedacht, meint er und lässt sich davon auch nicht abbringen, als ihn die ältere Schwester darauf hinweist, dass der Vater tot sei.

Die beiden folgen dem Mann. Am Türschild steht „P. Ballhausen“. Der Mann öffnet und erklärt den Geschwistern freundlich, er sei nicht ihr Vater. Aber Herbert entdeckt eine gerahmte Fotografie der Mutter. Die gehöre seinem Mitbewohner Paul Zech, behauptet Paul Ballhausen, und der sei voraussichtlich in zwei Stunden wieder da.

Solange warten Karen und Herbert in der Kneipe „Zum letzten Anker“.

Dieter Klimkes Geschichte

Als letzter meldet sich Dieter Klimke zu Wort.

Für ihn heißt die Frau Sophia. Sie hat gerade auf dem Markt eingekauft und will nach Hause gehen, als ein Händler sie heranwinkt. Ohne nach dem Preis zu fragen oder sich darüber zu wundern, woher zu dieser späten Jahreszeit noch Kirschen kommen, kauft sie welche. Während Sophia bezahlt, stößt der Händler lächelnd den Kiel einer grauen Schwungfeder in die Kirschen.

Als Sophia zu Hause mit der Feder die Küchenwand berührt, schmilzt das Mauerwerk an der Stelle, und durch das entstandene Loch beobachtet Sophia das Nachbarehepaar Töpfle. Der Physiklehrer trägt ein Halsband mit einer Hundeleine, und seine Frau im Morgenrock bringt ihn mit einer Peitsche dazu, über Hindernisse zu springen.

[…] die Peitsche treibt ihn schließlich zum Sprung, er stürzt, er verliert seine nickelgefasste Brille, und die Frau gibt in schmerzlicher Enttäuschung die Leine frei, lässt die Peitsche auf ihn fallen, tritt an den Tisch und schenkt sich Kaffee ein.

In der Tiefgarage berührt Sophie mit der Feder einen hinderlichen Grenzstein an ihrem Stellplatz und bringt ihn zum Schmelzen.

Nach drei Wochen Urlaub kehrt die Sekretärin ins Büro zurück. Der gut gelaunte Chef stellt ihr eine neue Kollegin vor, die er eingestellt habe, um Sophia zu entlasten: Irmtraud Driessel. Gleich darauf bittet er die Neue zum Diktat. Sophia wundert sich über das Gekicher nebenan, schafft ein Guckloch – und was sie sieht, veranlasst sie, sogleich ein Versetzungsgesuch zu tippen.

In der Tiefgarage wartet Siebeck auf sie, der hier die Aufsicht hat. Offenbar beobachtete er, wie sie den Grenzstein schmelzen ließ. Er reißt ihr Feder aus der Hand und hält sie gegen Beton, aber bei ihm wirkt sie nicht. Als er begreift, dass die Feder nur in Sophias Hand Stein zum Schmelzen bringt, er nimmt sie mit in schwimmendes Restaurant. Siebeck und der Wirt waren Kommilitonen, brachen aber beide ihr Soziologie-Studium ab.

In langen Gesprächen entdeckten sie ihre gemeinsame Verachtung für die repressive Leistungsgesellschaft.

Während Siebeck ein Taschentuch für Sophia holt, spießt sie mit dem Federkiel eine Maraschino-Kirsche auf, zwängt beides in eine ausgetrunkene Weinflasche und lässt diese aus dem Fenster ins Wasser fallen. Ihr Begleiter ist entsetzt, als sie ihm erklärt, sie habe sich von dem „verruchten Ding“ befreit. Er rennt hinaus, Kellner hasten ihm nach.

Sophia geht zum Bahnhof. Schließlich holt Siebeck sie ein, legt ihr die Feder in die Handtasche und führt sie in die Kneipe „Zum letzten Anker“. Der Wirt des schwimmenden Restaurants habe noch zwei Stunden zu tun, erklärt er, dann erwarte er sie.

Sophia hat den Vorschlag gehört, einen allzu naheliegenden Vorschlag, und sie hat erkannt, was der Besitz der Feder bedeutet. Sie wird sie endgütig vernichten müssen. Ein Streichholz genügt.

Dieter Klimkes Geschichte

Dieter Klimke schwieg, und Gregor und ich blickten zu den Spielautomaten hinüber: die Frau zündete gerade ein Streichholz an, tauchte die Federspitze in die Flamme, und das leichte Graue krümmte sich in einer Stichflamme und verkohlte unter kurzem Prasseln; den Rest der Feder warf sie in den Aschenbecher.

Aber wir haben nichts gewonnen, sagte Gregor, und mit einem Blick zu den Spielautomaten: Was wir vorgelegt haben – drei Entwürfe; was wir gewonnen haben – drei Wahrheiten, die zu nichts verpflichten. Wir können hier sitzen und erzählen, solange wir wollen: Dies Paar da drüben wird seine eigene Geschichte behalten, und dieser werden wir uns nie nähern, auch mit geduldiger Erfindung nicht.
[…] Was wir jetzt einfach brauchen, ist die wirkliche Geschichte dieser beiden, denn sie ist ja bisher nicht erzählt.

Von Gregor Bromm und Dieter Klimke dazu aufgefordert, geht der Ich-Erzähler zu dem Mann am Spielautomaten hinüber. Der vergewissert sich, dass er den Schriftsteller Gregor Bromm richtig erkannt habe und erklärt dann, er sei zufällig hier und habe die Dame am Tisch soeben erst kennengelernt.

Zurück bei seinen beiden Schriftsteller-Kollegen, berichtet der Ich-Erzähler, was er erfahren hat. Gregor Bromm meint:

Na, und? Ich fühle mich keineswegs widerlegt. In der Möglichkeit haben wir recht behalten, und darauf kommt es ja wohl an – für uns.

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In der Erzählung „Die Phantasie“ lässt Siegfried Lenz zwei Schriftsteller auftreten, die gegensätzliche Positionen vertreten: Während Gregor Bromm nichts außer dem Realismus gelten lässt, plädiert Dieter Klimke für die Fantasie. Siegfried Lenz‘ Standpunkt wird vermutlich von dem Ich-Erzähler vertreten, dessen Namen wir nicht erfahren: Er hält sich an das Mögliche, bewegt sich zwischen Realismus und Fantastik und ist überzeugt, dass die Fantasie den guten Schriftsteller nicht ins Beliebige abgleiten lässt.

Dass am Ende der 1974 geschriebenen Erzählung „Die Phantasie“ drei Geschichten über ein unbekanntes Paar nebeneinander stehen, erinnert an die Ringparabel. Vielleicht ist „Die Phantasie“ ein wenig zu deutlich ‒ nicht genügend kunstvoll verpackt ‒, aber auf jeden Fall handelt es sich um eine interessante Fragestellung, und es ist beeindruckend, wie Siegfried Lenz mit wenigen Strichen prägnante Szenen veranschaulicht.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Hoffmann und Campe Verlag

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