Ian McEwan : Honig
Inhaltsangabe
Kritik
Serena Frome, die Tochter eines anglikanischen Bischofs, liest viel und würde gern in Durham oder Aberystwyth Englisch studieren, aber ihre Mutter besteht darauf, dass sie sich stattdessen am Newnham College in Cambridge für Mathematik einschreibt. Unter Verweis auf Serenas gute Schulnoten in Mathematik meint sie, ein Talent verpflichte zu dessen Nutzung.
Während des Studiums hat Serena sechs, sieben oder acht Liebhaber. Einer von ihnen, der Historiker Jeremy Mott, macht die 21-Jährige mit seinem Geschichtstutor Tony Canning bekannt, und Serena beginnt auch mit dem 54 Jahre alten Professor eine Affäre. Um zu promovieren, zieht Jeremy nach Edinburgh. Bald darauf schreibt er Serena, er habe sich in einen jungen Deutschen aus Düsseldorf verliebt. Tony ist mit der Kunsthändlerin Frieda Canning verheiratet, verbringt aber heimlich die Wochenenden des Sommers 1972 mit Serena in seinem abgelegenen Cottage bei Bury St. Edmunds in Suffolk.
Im letzten Studienjahr schreibt Serena für die von ihrer Kommilitonin Rona Kemp neu gegründete Wochenzeitschrift ?Quis?. Nachdem sie ihr Studium mit Ach und Krach abgeschlossen hat, bewirbt sie sich auf Anraten ihres Geliebten beim MI5 in London und führt mit dem Geheimdienstmitarbeiter Harry Tapp ein Vorstellungsgespräch. Er bietet ihr einen Job als Hilfsassistentin in einer Registratur an, in der 300 Sekretärinnen beschäftigt sind. Zu ihren Hauptaufgaben gehören das Archivieren und Katalogisieren von Vorgängen.
Wenige Tage vor dem Vorstellungsgespräch beendete Tony Canning abrupt die Affäre mit Serena.
Später erfährt Serena, dass er sich im September 1972 nach 30 Jahren Ehe auch von seiner Frau trennte. Im Oktober kündigte er seine Stelle am College und zog sich in ein kleines, gemietetes Haus auf der finnischen Ostsee-Insel Kumlinge zurück. Er war todkrank. Im Februar 1973 starb er. In einem Brief vom 28. September 1972, den Serena erst über ein Jahr später erhält, erklärt er ihr, dass er sie von sich gestoßen habe, weil sie ihm sonst nach Kumlinge folgen und sein Siechtum miterleben würde.
Bei einer anderen Gelegenheit hört Serena, dass er von 1948 bis 1952 für den britischen Geheimdienst MI5 arbeitete. 15 Monate lang gab er heimlich Informationen an die Sowjetunion weiter, angeblich um zur Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts der Kräfte – und damit des Weltfriedens – beizutragen. Es gibt aber auch Gerüchte, denen zufolge Tony 1950, drei Monate nach seiner Hochzeit, von einer jungen Frau im Auftrag des KGB verführt und dann vom sowjetischen Geheimdienst erpresst wurde.
Serena teilt sich in London ein Zimmer mit drei Jurastudentinnen aus der Arbeiterklasse: Pauline, Bridget und Tricia. Sie freundet sich mit ihrer Kollegin Shirley Shilling an und verliebt sich in den 32-jährigen Geheimdienstmitarbeiter Maximilian Greatorex, der vom MI6 zum MI5 versetzt wurde. Max bleibt distanziert und erklärt ihr schließlich, dass er mit einer Ärztin namens Ruth verlobt sei.
Immerhin schlägt er die Vielleserin Serena im Sommer 1973 für die Operation „Honig“ vor. Dabei handelt es sich um ein geheimes Förderprogramm des MI5 für zehn Autoren, die in ihren Arbeiten die Propaganda des Ostblocks widerlegen und die Vorzüge der freien Welt aufzeigen. Serena soll einen davon – T. H. Haley, bürgerlich Thomas Haley – für das Programm gewinnen, ohne die wahren Geldgeber aufzudecken. Ihrer Legende zufolge arbeitet Serena für „Word Unpenned“, eine Organisation, die ausgewählten Autoren über die Stiftung „Freedom International“ Fördergelder zukommen lässt. Die Mittel stammen angeblich aus dem Nachlass einer kunstbegeisterten Witwe eines Bulgaren, der in die USA emigriert war und dort ein Vermögen aufgehäuft hatte. Die Stipendiaten sind an keine Auflagen gebunden. Beim MI5 glaubt man sich aufgrund der gründlichen Auswahl darauf verlassen zu können, dass sie die erwünschte Weltsicht vertreten. Vorbilder für die Operatin „Honig“ sind ein ähnliches Programm der CIA und die Arbeit des 1948 gegründeten, aber offiziell gar nicht existierenden Information Research Department.
Serena erklärt sich bereit, bei der Operation „Honig“ mitzumachen, verlangt aber auch eine Beförderung, und Harry Tapp stellt ihr den Aufstieg zur stellvertretenden Führungsbeamtin in Aussicht.
Shirley Shilling gesteht Serena, dass sie vom MI5 beauftragt worden sei, sie zu bespitzeln, in politische Diskussionen zu verwickeln und Meinungsäußerungen zu provozieren. Das tat sie dann zwar, aber am Ende weigerte sie sich, über ihre Beobachtungen zu berichten. Deshalb wurde sie fristlos entlassen. Sie hilft jetzt ihrem Vater, der in Ilford ein Betten- und Sofageschäft betreibt.
Nachdem Serena schriftlich Kontakt mit Tom Haley aufgenommen hat, fährt sie im Oktober 1973 zu ihm nach Brighton. Gegen Ende der Unterredung fasst er seine Lage zusammen:
„Erstens, ich möchte einen Roman schreiben. Zweitens, ich bin pleite. Drittens, ich brauche einen Job. Viertens, der Job wird mir das Schreiben unmöglich machen. Ich sehe keinen Ausweg. Es gibt keinen. Und plötzlich klopft eine nette junge Frau an meine Tür und stellt mir einfach so ein dickes Stipendium in Aussicht, ohne Gegenleistung. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Ich bin misstrauisch.“
Tom bittet sich Bedenkzeit aus, aber bald darauf nimmt er das verlockende Angebot an.
Es dauert nicht lang, bis Serena und Tom ein Paar sind. So oft wie möglich verbringt sie das Wochenende mit ihm in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Brighton. Die Wahrheit wagt sie ihm nicht zu sagen.
Wenn ich ihn nicht verlieren wollte, musste ich bei meinen Lügenmärchen bleiben.
Tom lernt den Dichter Ian Hamilton kennen, der gerade dabei ist, die Literaturzeitschrift „The New Review“ zu gründen. Tom soll ihm Texte schicken. Zur gleichen Zeit zeigt der Verleger Tom Mischler Interesse an Toms halbfertigem Romanmanuskript „Aus dem Tiefland von Somerset“.
Als Serena ihrem Geliebten zu erklären versucht, wie die Wahrscheinlichkeiten in der von Monty Hall moderierten US-Gameshow „Let’s Make a Deal“ auf drei bzw. zwei Kisten verteilt sind, macht Tom eine Erzählung mit dem Titel „Vermutlich Ehebruch“ daraus, bei der ein gehörnter Ehemann seine Frau und den Liebhaber in einem von drei Hotelzimmern vermutet und gerade eine der Türen eintreten will, als aus einer anderen ein indisches Paar mit einem Baby kommt. Aber Tom hat nicht begriffen, dass die Wahrscheinlichkeitsverteilung in „Let’s Make a Deal“ nicht auf diese Situation übertragbar ist, weil die Inder zufällig aus einer der drei Türen kommen, während der Moderator weiß, welche zwei Kisten leer sind und eine davon aus dem Spiel nimmt, also implizit eine zusätzliche Information gibt. Serena muss deshalb seine Geschichte korrigieren. (Im Hotel sind die Trefferwahrscheinlichkeiten am Ende 50% und 50%, in „Let’s Make a Deal“ aber 33,3% und 66,7%.)
Gegen Mitternacht kommt Max Greatorex zu Serena, um ihr mitzuteilen, dass er seine Verlobung mit Ruth wegen ihr gelöst habe. Als er nun erfährt, dass Serena mit einem anderen Mann zusammen ist, noch dazu mit Tom Haley, gerät er außer sich und wirft ihr unprofessionelles Verhalten vor.
Im Februar 1974 ist Serena mit Tom in einem Pub verabredet. Als sie hinkommt, sitzt er mit Shirley Shilling an einem Tisch und hält ihre Hand. Serena ist entsetzt. Später stellt sie ihn unter vier Augen zur Rede. Tom beteuert, keine Affäre mit Shirley zu haben. Er habe sie unlängst bei einer Autorenlesung in Cambridge kennengelernt. Ihr Vater sei kürzlich beim Überqueren einer Straße von einem Motorradfahrer erfasst und getötet worden, sagt er, und er habe die trauernde Tochter getröstet. Schließlich glaubt Serena ihrem Geliebten und versöhnt sich mit ihm.
Tom bittet sie, ihm ein Gespräch mit ihrer jüngeren Schwester Lucy zu vermitteln, die sich wie ein Hippie-Mädchen benimmt, 1972 auf einer Fähre von Calais nach Dover mit Haschisch erwischt und zu einem halben Jahr Haft auf Bewährung verurteilt wurde, während sich dann auch noch herausstellte, dass sie schwanger war. Auf Druck der Eltern ließ sie abtreiben. Tom erklärt Serena, er arbeite an einem längeren Roman und habe da eine Figur wie Lucy vorgesehen. Deshalb wolle er sie näher kennenlernen und mehr über sie erfahren.
Als er auf die Shortlist für den Jane-Austen-Preis 1974 gesetzt wird, empfindet Tom dies eher als Störung, denn er arbeitet wie besessen an seinem neuen Roman, über dessen Inhalt er sich allerdings auch gegenüber Serena ausschweigt.
Kurz nachdem er mit dem Preis ausgezeichnet wurde, liest Serena in „The Guardian“ die Schlagzeile: „Austen-Preisträger vom MI5 finanziert“. Ihr Name wird in dem Artikel nicht genannt, aber es heißt, Tom Haley habe über die Stiftung „Freedom International“ Gelder vom MI5 bekommen.
[…] leidenschaftlich antikommunistische Artikel über den Aufstand in Ostdeutschland, über das Schweigen westdeutscher Schriftsteller zur Berliner Mauer und zuletzt über die staatlichen Repressionsmaßnahmen gegen Dichter in Rumänien. Vielleicht ist er genau die Art von Mann, den unsere Geheimdienste als Gleichgesinnten betrachten und dem sie hierzulange Erfolg wünschen: ein rechter Autor, der die allgemeine Linkslastigkeit seiner Kollegen mit Skepsis betrachtet und daraus keinen Hehl macht. Aber eine so gravierende heimliche Einmischung in die Kultur wirft Fragen auf, Fragen nach der Freiheit der Kunst in unserer vom Kalten Krieg geprägten Welt.
Serena legt Tom die aufgeschlagene Zeitung hin. Woher hätte er wissen sollen, dass ihm das Geld auf Umwegen vom Geheimdienst zufloss, fragt er aufgebracht. Er halte das für einen Wahnsinn. Statt die Zusammenhänge aufzudecken, empfiehlt Serena ihm, eine Presseerklärung abzugeben. Die formulieren sie gemeinsam, aber sie kann Tom nicht davon abhalten, den fertigen Text um einen Satz zu ergänzen: „Ich möchte klarstellen, dass ich niemals schriftlichen oder persönlichen Kontakt mit Mitarbeitern des MI5 gehabt habe.“
Harry Tapp stellt Serena wegen des Artikels zur Rede. Sie muss zugeben, ein Verhältnis mit Tom Haley zu haben, versichert jedoch, der Schriftsteller ahne nichts von ihrer wahren Rolle. Das beruhigt Tapp nicht wirklich. Er fordert sie auf, ein letztes Mal zu Tom Haley nach Brighton zu fahren, um ihm die Streichung des Stipendiums anzukündigen. Anschließend müsse sie den Kontakt zu ihm vollständig abbrechen.
Tapp, der eine Zigarette nach der anderen rauchte, ließ schon wieder sein Feuerzeug aufflammen. Er sagte: „Wir haben uns massivem Druck und modischen Argumenten gebeugt und Frauen an Bord genommen. Und herausgekommen ist ungefähr das, was wir erwartet haben.“
Weil Tom das Telefon nicht abnimmt, macht Serena sich auf den Weg nach Brighton. An der Victoria Station entdeckt sie ihr eigenes Foto in einer Zeitung. Sie ist mit Tom zusammen abgebildet. Darunter steht „Haleys sexy Spionin“. Der Oppositionsführer Edward Heath, so heißt es in den Artikel, werfe der Regierung vor, vom Kurs abgekommen zu sein und verlange eine lückenlose Aufklärung des Skandals.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
In Brighton schließt Serena mit ihrem Schlüssel Toms Zwei-Zimmer-Wohnung auf. Auf den ersten Blick fällt ihr auf, wie aufgeräumt und sauber alles ist. Auf dem Küchentisch liegen ein in Packpapier eingeschlagener Stapel Papier und ein an sie adressierter Brief. Seit letzter Woche stehe ihr Name statt des seinen im Mietvertrag, schreibt Tom. Er berichtet, dass er an Weihnachten in Bristol von Max Greatorex angesprochen wurde. Der gab sich als MI5-Mitarbeiter zu erkennen und klärte ihn sowohl über die Operation „Honig“ im Allgemeinen als auch über Serenas Rolle im Besonderen auf. Tom fährt fort, das habe ihn endlich auf eine Idee für einen neuen Roman gebracht: Er wollte die Wahrheit über sich und Serena erzählen. Dazu brauchte er nur die Ereignisse wiederzugeben, Serena zu beobachten und sich über Nebenfiguren und deren Rollen zu informieren. Zu diesem Zweck traf er sich nicht nur mit Lucy und ihrem Freund Luke, sondern auch mit Jeremy Mott und ein weiteres Mal mit Max Greatorex. Von Shirley Shilling, mit der er ebenfalls sprach, erfuhr er, dass Max darauf aus war, Serena zu zerstören und ihre Liebesbeziehung mit Tom zu torpedieren.
Du hast mich nicht gefragt, ob ich bei Honig mitmachen will, und ich habe Dich nicht gefragt, ob Du in meiner Geschichte mitspielen willst.
Du denkst vielleicht, wir stecken zu tief im Sumpf der Täuschung, wir haben einander genug Lügen für ein ganzes Leben erzählt und unsere Betrügereien und Demütigungen haben die Gründe, die für eine Trennung sprechen, verdoppelt. Ich stelle mir lieber vor, das alles hebt sich gegenseitig auf, und wir sind zu sehr in wechselseitiger Beobachtung miteinander verflochten, als dass wir voneinander lassen könnten. […] Worauf ich mit alldem hinauswill, ist eine Liebeserklärung und ein Heiratsantrag.
Mit Serenas Erlaubnis möchte Tom das Manuskript veröffentlichen, auch wenn dies erst nach Ablauf jahrzehntelanger Fristen möglich sein wird. Er habe eine Stelle am Londoner University College in Aussicht, schreibt Tom, und Shirley sei gern bereit, Serena in dem von ihr übernommenen Bettengeschäft ihres Vaters zu beschäftigen. Von dem auf dem Küchentisch liegenden Manuskript, versichert Tom, gebe es keinen Durchschlag. Er überlasse es ihr, ob sie es aufbewahren oder verbrennen wolle.
Liebst Du mich noch und Deine Antwort ist Ja, beginnt ab jetzt unsere Zusammenarbeit, und wenn Du einverstanden bist, wird dieser Brief das letzte Kapitel von Honig sein.
Liebste Serena, es liegt bei Dir.
Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges entwickelt Ian McEwan in seinem Roman „Honig“ eine Geschichte über Aspekte des Kulturkampfes, den Ost und West gegeneinander führten. Tangiert werden auch innenpolitische Themen des Vereinigten Königreichs, zum Beispiel Arbeitskämpfe, Inflation, Energiekrise, IRA-Anschläge. Außerdem geht es in „Honig“ um Liebe und Täuschung, Verrat und Verletzung.
Beim Lesen der ersten Seiten erwartet man einen Agententhriller. Immerhin fängt die Protagonistin Serena Frome nach dem Studium beim MI5 an, dem Inlandsgeheimdienst des Vereinigten Königreichs. Aber die Geschichte wird im Rückblick erzählt, und wir erfahren bereits im dritten Satz des Romans, dass Serena nach 18 Monaten vom MI5 entlassen wird. Bald wissen wir auch, dass sie in der Hierarchie ganz unten steht. Serena ist vorwiegend in der Registratur beschäftigt und hat nichts mit Spionage zu tun. Immerhin soll sie dafür sorgen, dass der Schriftsteller T. H. Haley eine Art Stipendium bekommt, ohne zu ahnen, dass die Fördermittel vom Geheimdienst stammen.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der weiblichen Hauptfigur, und zwar in der Ich-Form.
Dass Serena keine doppelbödigen Romane mag, in der es verschiedene Realitäts- und Erzählebenen gibt, ist amüsant, denn das Beste an „Honig“ ist die metafiktionale Ebene, die sich dem Leser gegen Ende zu erschließt. Dieser unerwartete Schluss stellt einen raffinierten Twist dar.
Der Mittelteil ist nicht frei von Längen, aber insgesamt sorgt Ian McEwan mit „Honig“ für gute Unterhaltung.
Den Roman „Honig“ von Ian McEwan gibt es auch als Hörbuch (Diogenes, Zürich 2013, 655 Minuten, ISBN 978-3-257-80137-8).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Diogenes Verlag
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