Ian McEwan : Solar

Solar
Originalausgabe: Solar Jonathan Cape, London 2010 Solar Übersetzung: Werner Schmitz Diogenes Verlag, Zürich 2010 ISBN: 978-3-257-06765-1, 405 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Physik-Nobelpreisträger Michael Beard, ein gewissenloser Egomane, täuscht sein Interesse für Solarenergie nur vor, um sich durch die Nutzung gestohlener wissenschaftlicher Erkenntnisse bereichern zu können. Seine innere Leere überspielt er durch Unmäßigkeit nicht nur beim Sex, sondern auch beim Essen und Trinken. Obwohl er immer dicker und kränker wird, findet er auch nach dem Scheitern seiner fünften Ehe immer wieder Frauen, die mit ihm ins Bett gehen ...
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Kritik

In einer Satire wie "Solar" sind deftige Überspitzungen erlaubt. Auf ein paar billige Gags hätte Ian McEwan jedoch verzichten sollen. Auch ohne sie würden funkelnder Wortwitz, Situationskomik und gut vorbereitete Slapsticks den Leser gut unterhalten.
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Michael Beard wurde im Juli 1947 als einziges Kind des Börsenmaklers Henry Beard und dessen Ehefrau Angela geboren. 1952 gab sein Vater, der Jura studiert hatte, die Anstellung bei der Londoner Handelsbank auf und wurde Sozius einer alteingesessenen Anwaltskanzlei. Etwa zur gleichen Zeit fing Michaels Mutter an, sich wechselnde Liebhaber zu nehmen. Das tat sie elf Jahre lang, bis sie mit Anfang fünfzig an Brustkrebs erkrankte.

Als Student der Naturwissenschaften in Oxford hörte Michael Beard von einer Kommilitonin am Lady Margaret Hall College, die als verdorben galt. Das interessierte ihn, und er umwarb Maisie Farmer hartnäckig, bis sie mit ihm schlief. Als er eine Doktorandenstelle an der Universität von Sussex bekam, zogen sie nach Brighton und teilten sich die Miete mit Charlie und Amanda Gibson, die Theologie studierten und Eltern gerade erst geborener Zwillinge waren. Michael Beard und Maisie Farmer heirateten standesamtlich in Oxford. Nach ein paar Jahren verließ Maisie ihren Mann und wurde in eine Kommune aufgenommen.

Für Michael Beard folgten die Ehefrauen Ruth, Eleanor und Karen. Keine der kinderlosen Ehen hielt länger als sechs Jahre. Seit 1995 ist er mit Patrice verheiratet, einer neunzehn Jahre jüngeren Lehrerin.

1975 erhielt der nunmehrige Professor für das Beard-Einstein-Theorem den Physik-Nobelpreis. Seither ruht er sich auf seinen Lorbeeren aus.

Inzwischen schreiben wir das Jahr 2000.

Er hatte eine Ehrenprofessur an der Universität Genf inne, lehrte dort aber nicht; er gab seinen Namen, seinen Titel – Professor Beard, Nobelpreisträger – für Briefköpfe und Institute her, unterzeichnete internationale „Initiativen“, saß in einer Königlichen Kommission für Forschungsförderung, hielt populärwissenschaftliche Radiovorträge über Einstein, Photonen und Quantenmechanik, unterstützte Stipendienanträge, war Fachberater bei drei wissenschaftlichen Zeitschriften, schrieb Fachgutachten und Empfehlungen […] half mit, bei ahnungslosen Ministern und Bürokraten unglaubliche Summen für einen weiteren Teilchenbeschleuniger oder für Messplätze auf neuen Satelliten lockerzumachen, trat vor gigantischen Versammlungen in den USA auf – elftausend Physiker auf einem Fleck! –, hörte sich an, was promovierte Nachwuchswissenschaftler über ihre Forschungen zu berichten hatten, hielt mit minimalen Variationen immer wieder dieselbe Vortragsreihe über die Beweisführung für das Beard-Einstein-Theorem, das ihm den Nobelpreis eingebracht hatte, verlieh selbst Preise und Auszeichnungen, nahm Ehrendoktortitel entgegen und hielt Tischreden und die eine oder andere Lobrede auf Kollegen, die in Pension gingen oder zur Einäscherung anstanden.

Einmal pro Woche nimmt Michael Beard den Zug von London-Paddington nach Reading. Dort wird er von einem der wissenschaftlichen Mitarbeiter des nach dem Vorbild des National Renewable Energy Laboratory in Golden, Colorado, eingerichteten Nationalen Instituts für erneuerbare Energien mit dem Wagen abgeholt. Beard fungiert als Direktor des Instituts, aber die eigentliche Arbeit überlässt er einem älteren Beamten namens Jock Braby und einem halben Dutzend schlecht bezahlter promovierter Assistenten, die in vier Wohncontainern untergebracht sind.

Aufgrund einer achtlos fallengelassenen Bemerkung Beards erhielt das Institut den Auftrag, die Form von Windturbinenschaufeln unter turbulenten Bedingungen zu optimieren. Das ärgert vor allem Thomas („Tom“) Aldous, einen der wissenschaftlichen Mitarbeiter, der sich vom Institut anwerben ließ, weil er glaubte, hier etwas zur Nutzung der Solarenergie beitragen zu können.

Tom Aldous stammt aus der Gegend von Swaffham in Norfolk. Der Teilchenphysiker, der am Imperial College in London, in Cambridge und zwei Jahre am Celtech in Pasadena studierte, wohnt im Gartenhäuschen eines Onkels in Hamstead, besucht aber jedes Wochenende seinen kranken Vater in Swaffham. Seine Mutter lebt nicht mehr. Aldous ist überzeugt, dass sich eine Klimakatastrophe nur noch durch künstliche Photosynthese abwenden lässt.

„Wir haben bereits ein extrem zuverlässiges Kraftwerk, das saubere Energie aus der Umwandlung von Wasserstoff in Helium erzeugt, preisgünstig und an guter Lage, nur dreiundneunzig Millionen Meilen von uns entfernt. Wissen Sie, was ich oft denke, Professor Beard? Wenn ein Außerirdischer die Erde besuchte und all dieses Sonnenlicht sähe und dann erfahren würde, dass wir ein Energieproblem zu haben glauben – der würde sich die Augen reiben!“

„Stellen Sie sich vor: Da ist ein Mann im Wald, es regnet, und er ist am Verdursten. Mit seiner Axt beginnt er Bäume zu fällen, um den austretenden Saft zu trinken. Einen Schluck pro Baum. Um ihn herum ist alles wüst und leer, und er weiß, er ist schuld daran, dass der Wald so schnell verschwindet. Warum macht er nicht einfach den Mund auf und trinkt den Regen? Weil er so gut im Bäumefällen ist, weil er es schon immer so gemacht hat, weil er die Leute, die das Regentrinken befürworten, für verrückt hält.“

Beard geht das Gerede über die schlimmen Folgen der angeblichen Erderwärmung und mögliche Lösungsmöglichkeiten auf die Nerven.

Einen Spinner erkannte man erstens daran, dass er glaubte, alle Probleme der Welt ließen sich auf eins zurückführen und lösen. Und zweitens daran, dass er unablässig darüber redete.

Obwohl Aldous die Forschungsarbeit über die optimale Form von Windturbinenschaufeln missbilligt, weil sie von der Entwicklung der künstlichen Photosynthese abhält, entwirft er nebenbei eine Quadrupelhelix-Windturbine, die in Farnborough im Windkanal getestet werden soll.

Als Patrice Beard herausfindet, dass ihr Mann sie mit der Berliner Mathematikerin Suzanne Reuben betrügt, sucht sie sich einen Liebhaber und beginnt eine Affäre mit dem Bauhandwerker Rodney Tarpin, dessen Frau 1999 mit den drei Kindern durchbrannte und jetzt mit einem walisischen Bausachverständigen an der Costa Brava lebt. Die Ehe der Beards steht ebenfalls vor dem Aus. Michael schlief zwar seit der letzten Hochzeit mit insgesamt zwölf Frauen, aber deshalb gesteht er Patrice noch lange nicht das Recht zu, ebenfalls fremdzugehen. Als er im November 2000 im Vorratsraum auf eine gefüllte Werkzeugtasche stößt, rastet er vor Eifersucht beinahe aus. Wütend fährt er nach Cricklewood, um seinen Rivalen zur Rede zu stellen. Rodney Tarpin öffnet die Tür, und Beard will ihn gegen das Schienbein treten, aber bevor er dazu kommt, ohrfeigt ihn der Handwerker. Da zieht es der unsportliche, übergewichtige Professor vor, wieder zu gehen.

In dieser unbefriedigenden Situation kommt es ihm sehr gelegen, dass er im Dezember 2000 eingeladen wird, zusammen mit zwanzig anderen Künstlern und Wissenschaftlern im Frühjahr einige Tage auf einem Schiff zu verbringen, das in einem Fjord nördlich von Longyearbyen auf Spitzbergen eingefroren ist. Die Veranstaltung soll die Öffentlichkeit auf den Klimawandel aufmerksam machen.

Die Stiftung übernahm sämtliche Kosten, und das Kohlendioxid von zwanzig Hin- und Rückflügen, von Schneemobilfahrten sowie sechzig in polarer Kälte zubereiteten warmen Mahlzeiten pro Tag sollte durch dreitausend neugepflanzte Bäume in Venezuela wettgemacht werden – sobald man ein geeignetes Gelände gefunden und die zuständigen Behörden bestochen hatte.

Ende Februar fliegt Beard also von London nach Oslo und von dort weiter über Trondheim nach Longyearbyen. Als er am nächsten Morgen im Hotel geweckt wird, sind die anderen bereits mit dem Frühstück fertig. Er müht sich mit mehreren Lagen Schutzkleidung ab, und immer wenn er glaubt, endlich fertig zu sein, entdeckt er, dass er etwas vergessen hat und muss erst einmal wieder einiges ausziehen. Die anderen sind längst im Freien. Jan, der Führer, holt den Nachzügler und geht mit ihm zu den letzten beiden Schneemobilen. In der Kälte merkt Beard, dass seine Blase noch voll ist. In der Hektik vergaß er zur Toilette zu gehen. Aber jetzt muss er erst einmal aufs Schneemobil und den anderen mit Jan nacheilen. Unterwegs wird der Harndrang unerträglich. Er hält an, öffnet mehrere Lagen Kleidung und erleichtert sich. Aber dabei friert sein Penis am Reißverschluss fest. Mit etwas Schnaps aus dem Flachmann löst er die Verklebung. Es geht weiter.

Etwas Kaltes und Hartes war von Beards Lenden abgefallen und durch die lange Unterhose nach unten gerutscht; jetzt steckte es oberhalb seiner Kniescheibe fest. Er fuhr sich mit der Hand zwischen die Beine – da war nichts. Er legte die Hand aufs Knie, und das entsetzliche, keine fünf Zentimeter lange Ding war steif wie ein Knochen. Es fühlte sich nicht länger an wie ein Teil von ihm […]
Zweifellos wirkte die Kälte sich zu seinem Vorteil aus, sie hielt das Organ am Leben. Aber Mikrochirurgie? In Longyearbyen? Mit fünfzehnhundert Einwohnern?

Auf dem Schiff macht ihn die Künstlerin Stella Polkinghorne darauf aufmerksam, dass ihm etwas aus dem Hosenbein rutschte. Es ist ein Fettstift.

Bei den anderen Teilnehmern handelt es sich ausschließlich um Künstler, beispielsweise einen Bildhauer aus Mallorca, der für seine Eisskulpturen berühmt ist. An den Gesprächen beteiligt Beard sich wenig, denn er interessiert sich weder für Kunst noch für Klimawandel und für Klimawandelkunst schon gar nicht.

Er hasste es, Teil einer Gruppe zu sein, aber das brauchte hier niemand zu wissen.

Im Rahmen einer Exkursion führt Jan den Physiker und die Künstlerinnen und Künstler tiefer in den vereisten Fjord, bis aus etwa eineinhalb Kilometer Entfernung ein Eisbär auf sie zu trabt.

„Er hat Hunger“, sagte Jan nachsichtig. „Auf die Schlitten, Leute.“
[…] [Beard] drückte auf den Starter. Nichts. Auch gut. Mochten ihm die Sehnen von den Knochen genagt werden. Er versuchte es noch einmal und noch einmal. Um ihn herum nichts als blaue Rauchwolken und jaulende Motoren – nun war doch noch Panik ausgebrochen. Schon donnerte die halbe Gruppe in Richtung Schiff davon. Jeder dachte nur noch an sich […] Mittlerweile waren alle anderen weg, auch der Führer […] Die Aufregung schlug sich wie üblich als gefrierender Nebel auf seiner Schutzbrille nieder […] Vernünftigerweise musste er davon ausgehen, dass der Bär immer noch auf ihn zukam, doch offenbar hatte er dessen Schnelligkeit unterschätzt, denn in diesem Augenblick traf ihn ein heftiger Schlag auf die Schulter.
Statt sich umzudrehen und sich das Gesicht zerfetzen zu lassen, zog er in Erwartung des Schlimmsten die Schultern hoch. Sein letzter Gedanke – dass er es in seiner Sorglosigkeit versäumt hatte, sein Testament zu ändern, und nun Patrice alles erben würde, um es mit Tarpin durchzubringen – wäre bedrückend gewesen, aber dann drang die Stimme des Führers zu ihm durch.
„Lass mich mal.“
Der Nobelpreisträger hatte den Schalter für den Scheinwerfer erwischt. Der Motor sprang bei der leisesten Berührung an.

Die Entropie in der Stiefelkammer nimmt von Tag zu Tag zu: Was Beard an Schutzkleidung fehlt, nimmt er sich von einem anderen Haken, und das machen alle so.

Endlich fliegt Beard wieder nach Hause. Er fährt mit dem Zug von Heathrow nach Paddington und nimmt dort ein Taxi. Noch am selben Tag will er seine Sachen packen und das Haus verlassen.

Im Flur wundert er sich über eine Spur von Wassertropfen, die vom Bad ins Wohnzimmer führt. Rodney Tarpin! Statt des Handwerkers sitzt Tom Aldous mit nassen Haaren auf der Couch und trägt einen Morgenmantel des Hausherrn. Patrice ist offenbar bereits zur Arbeit gegangen. Sie hat also auch eine Affäre mit dem Wissenschaftler. Beard versucht Aldous Angst einzujagen, indem er ihm von dem gewalttätigen Rivalen erzählt, aber das ist für den Teilchenphysiker nichts Neues: Er hat Tarpin bereits wegen einiger Drohungen am Telefon und per Post angezeigt. Seit Spätsommer schlafe er mit Patrice, gesteht er auf Beards entsprechende Frage, aber er weist ihn darauf hin, dass die Ehe der Beards ohnehin nicht mehr zu retten gewesen sei und der Professor seine Frau ebenfalls betrogen habe. Auf so eine Diskussion lässt Beard sich nicht ein. Stattdessen kündigt er dem wissenschaftlichen Mitarbeiter die Entlassung an, dreht sich um und schickt sich an, das Wohnzimmer zu verlassen. Aldous springt auf und will ihm nach, um ihn zu besänftigen. Doch als er auf das Eisbärenfell tritt, rutscht es auf dem polierten Parkett weg. Aldous stürzt und schlägt mit dem Hinterkopf gegen die Kante des Glastisches. Er ist sofort tot.

Beard überlegt, ob er den Notarzt und die Polizei rufen soll. Angesichts der Umstände würde ihm niemand glauben, dass es sich um einen Unfall handelte. Für die Medien wäre das ein gefundenes Fressen. Ohne weiter nachzudenken, zieht er Einweghandschuhe an.

Alles, was er jetzt tat, waren lediglich vorbeugende Maßnahmen. Er konnte jederzeit ans Telefon gehen und den Notarzt anrufen. Aber für den Fall, dass er das nicht tat, musste er Vorkehrungen treffen.

Er holt die Werkzeugtasche, stellt sie in den Flur und nimmt einen Hammer heraus. Den beschmiert er mit Blut. Das tut er auch mit einem gebrauchten Papiertaschentuch, das er zwischen dem Werkzeug findet. Schließlich zieht er einige Haare aus einem Kamm des Handwerkers und steckt sie dem Toten zwischen die Finger. Nachdem er die Tischkante saubergewischt hat, wirft er den Hammer ins Gebüsch vor dem Haus. Dann lässt er sich mit seinem Reisegepäck von einem Taxi zum Physikalischen Institut bringen, wo er früher einmal Vizepräsident war, erzählt alten Bekannten, er komme direkt vom Flughafen und wartet in der Bibliothek, bis Patrice ihn auf seinem Handy anruft und ihn auffordert, nach Hause zu kommen: Die Polizei sei da.

Bei den Vernehmungen erwähnt Beard, dass er von Tarpin geschlagen wurde. Die Ermittler finden rasch heraus, dass Patrice Affären mit zwei rivalisierenden Liebhabern hatte, und Tarpins Drohungen gegenüber dem Opfer sind bereits polizeibekannt. Da der Handwerker auch kein Alibi hat, wird er verhaftet.

Die Beards verkaufen das Haus und gehen getrennte Wege.

Der Professor mietet fürs Erste eine möblierte Souterrainwohnung. Dort schaut er nach drei Monaten in einen Ordner mit der Aufschrift „Nur für Prof. Beard“, der nach Tom Aldous‘ Tod in dessen Büro gefunden wurde. Es handelt sich um eine theoretische Beschreibung des Energieaustausches bei der Photosynthese. Das interessiert Beard nicht.

Weitere zwei Monate später beginnt der Prozess gegen Rodney Tarpin. An seiner Schuld gibt es keinen Zweifel. Wegen Mordes wird er zu sechzehn Jahren Haft verurteilt.

Irgendwann blättert Michael Beard noch einmal in der Mappe. Auch wenn er nicht alles versteht, begreift er, dass Tom Aldous‘ Erkenntnisse bahnbrechend sind.

Bald darauf übernimmt er die Leitung eines Forschungsprojekts über künstliche Photosynthese am Imperial College in London.

Bei einer Pressekonferenz in der Royal Society im Jahr 2005 fragt eine Reporterin, warum es so wenige Physikerinnen gebe. In seiner ausufernden Antwort behauptet Beard unter anderem, es sei nachgewiesen, dass Mädchen sich mehr für Menschen, Jungen dagegen für konkrete Gegenstände und abstrakte Regeln interessieren. Die Professorin Nancy Temple, die an der Queens University Sozialanthropologie studiert hatte, und überzeugt ist, dass die Unterschiede im Denken von Frauen und Männern erst durch die Sozialisation hervorgerufen werden, verlässt unter Protest gegen den genetischen Determinismus ihres Kollegen den Saal. Ein Eklat! Am nächsten Tag lautet eine der Schlagzeilen: „Nobel-Prof sagt nein zu Labormiezen“. Nachdem eine Boulevardzeitung Einzelheiten über seine Promiskuität herausgefunden hat, heißt es, der „Betten-Forscher“ verführe reihenweise Frauen und verwehre ihnen zugleich den Zugang zu wissenschaftlichen Karrieren. Einmal wird Beard von einer nicht mehr ganz jungen Demonstrantin mit einer Tomate beworfen. Er klaubt die Reste von seinem Anzug und wirft sie zurück. Daraufhin wird er festgenommen und in Handschellen weggebracht. Man lässt ihn zwar gleich wieder frei, aber im Fernsehen sind Großaufnahmen vom besudelten Gesicht der Demonstrantin zu sehen, und dazu wird erklärt, sie sei einem Anschlag des Professors zum Opfer gefallen.

Den Skandal nutzt Jock Braby dazu, dem Direktor des Nationalen Instituts für erneuerbare Energien zu kündigen. Aber Beard hält weiter Vorträge. Bei den Veranstaltungen interessiert er sich mehr fürs Büffet als fürs Thema. Er war schon als Kind dick, aber die Mengen an fettigem Essen, die er in sich hineinstopft, lassen seinen Bauch von Jahr zu Jahr weiter anschwellen. Dazu kommt noch, dass er immer einen Flachmann bei sich hat und zu viel Alkohol trinkt.

Als er von einer Tagung in Berlin zurückkommt, kauft er sich in Heathrow eine Tüte Kartoffelchips mit Salz-und-Essig-Geschmack und freut sich auf den lang vermissten Genuss. Im Zug nach Paddington wählt er einen Tischplatz gegenüber einem kahlrasierten Mann Mitte dreißig mit Piercings an den Ohren. Der nimmt sich von seinen Chips, ohne ihn auch nur um Erlaubnis zu fragen, und am Ende hält der Kerl ihm die Türe mit den letzten beiden Chips hin. Beard wendet sich verächtlich ab. Der andere drückt die Türe zusammen und wirft sie in den Müllbehälter. Um sich seine Selbstachtung zu bewahren, packt Beard die Wasserflasche seines Gegenübers, trinkt sie aus und wirft die leere Flasche auf den Tisch. In diesem Augenblick fahren sie in den Bahnhof Paddington ein. Der Kahlrasierte steht auf, tritt vor Beard hin, zieht dessen Koffer aus dem Gepäcknetz und stellt ihn vorsichtig auf den Boden. Beard würdigt ihn keines weiteren Blickes. Auf dem Bahnsteig greift er in die Manteltasche – und findet darin die Tüte Chips, die er in Heathrow kaufte.

Beim Anflug musste das Flugzeug mehrere Schleifen drehen, und vor der Passkontrolle stauen sich die Passagiere. Deshalb kommt Beard zu spät zu einer Veranstaltung für Pensionsfondsmanager und andere Anleger, für die er einen Vortrag über die Zukunftsaussichten der künstlichen Photosynthese halten soll. Die Organisatoren haben inzwischen das Programm umgestellt. So verbleibt Beard noch Zeit, rasch neun Wildlachsbrötchen vom Büffet zu verschlingen. Als er ans Rednerpult tritt, wird ihm übel, und er muss gegen den Brechreiz ankämpfen. Mühsam improvisiert er einen Vortrag. Unter anderem sagt er:

„Stellen Sie sich vor, wir begegnen am Waldrand einem Mann. Es regnet in Strömen. Der Mann ist kurz vorm Verdursten. Er hat eine Axt und fällt damit Bäume, um den Saft aus den Stämmen zu saugen. Nur ein paar Schlucke pro Baum. Um ihn her ist alles verwüstet, Bäume liegen am Boden, kein Vogel singt, und er weiß, der Wald wird bald verschwunden sein. Warum legt er nicht einfach den Kopf in den Nacken und trinkt den Regen? Weil er so gut Bäume fällen kann, weil er das schon immer so gemacht hat, weil ihm Leute, die das Regentrinken befürworten, suspekt sind.“

Um das reservierte Publikum mit einer Anekdote für sich zu gewinnen, erzählt er von dem Erlebnis, das er gerade während der Bahnfahrt hatte.

„Im Bahnhof Paddington habe ich zwei Dinge gelernt. Erstens, in einer ernsten Situation, in einer Krise, erkennen wir manchmal zu spät, dass nicht die anderen das Problem sind, nicht das System oder die Natur der Dinge, sondern wir selbst, unsere eigenen Torheiten und ungeprüften Annahmen. Und zweitens gibt es Momente, in denen eine neue Information uns zwingt, unsere Situation vollkommen neu zu überdenken. Unsere Zivilisation befindet sich an so einem Punkt.“

Während die Zuhörer applaudieren, übergibt er sich hinter dem Bühnenvorhang. Jeremy Mellon, ein Dozent für Urbanistik und Folklore, lobt ihn für die Anekdote über das Missverständnis mit den Chips, behauptet aber zugleich, es handele sich dabei um eine altbekannte und in unzähligen Varianten immer wieder erzählte Geschichte, die schon nicht mehr neu gewesen sei, als Douglas Adams sie in einen Roman aufnahm.

Beards aktuelle Lebensgefährtin heißt Melissa Browne. Die Neununddreißigjährige betreibt in London unter dem Firmennamen „Dance Studio“ drei Geschäfte, in denen sie Tanzkleidung verkauft. Als Beard sie besucht und sich sowohl auf das von ihr zubereitete Essen als auch auf den anschließenden Sex freut, eröffnet sie ihm, dass sie schwanger ist. Schon seit ein paar Monaten ließ sie die Pille weg, und weil sie weiß, dass er kein Kind haben möchte und sich geweigert hätte, mit ihr zu schlafen, wenn er es gewusst hätte, verriet sie ihm nichts davon. Er brauche sich nicht um das Kind zu kümmern, versichert Melissa, sie werde es allein großziehen, wenn er nichts damit zu tun haben wolle.

2006 bringt Melissa eine Tochter zur Welt, der sie den Namen Catriona gibt. Beard zahlt von sich aus Unterhalt, lässt sich jedoch nur selten bei den beiden sehen, eigentlich nur dann, wenn er es in seiner eigenen verwahrlosten Wohnung nicht mehr aushält und beispielsweise duschen möchte.

Kurz, er war ein unentschlossener Vater und Liebhaber, der sich auf seine Familie weder festlegte noch sie anständig im Stich ließ.

Mit einem amerikanischen Partner namens Toby Hammer zusammen gründet Beard ein Unternehmen, um seine siebzehn Patente auf dem Gebiet der künstlichen Photosynthese zu verwerten. In Lordsburg, New Mexico, bauen sie eine Versuchsanlage.

Dort beginnt Beard eine Liebschaft mit der Kellnerin Darlene, die in einem Wohnwagen am Ortsrand haust. Sie stammt aus Nebraska, war dreimal verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. Eigentlich heißt sie Janet, aber den Namen legte sie ab, als sie vor Jahren nach New Mexico kam. Die Quartalssäuferin ist elf Jahre jünger als Beard, aber die Krampfadern an ihrem schlaffen, aufgedunsenen Körper sind eher noch stärker ausgeprägt als bei ihm.

Einmal, als Darlene auf seinem Handy anruft und mit ihm spricht, merkt Melissa, dass eine andere Frau am Telefon ist. Zu seiner Verwunderung reagiert sie jedoch nicht eifersüchtig. Hat sie inzwischen einen zweiten Liebhaber? Beard stellt sie zur Rede:

„Du hast einen anderen?“
[…] Du etwa nicht? Michael, natürlich habe ich einen anderen.“
Ach, das war’s also. Die alte Leier von der Gleichberechtigung. Gleiches Recht für alle. Die letzte Flause des Feminismus, bar jeder Vernunft.

Freimütig gibt Melissa zu, seit einiger Zeit mit einem Dirigenten namens Terry zu schlafen.

2009 laden Michael Beard und Toby Hammer zur Inbetriebnahme ihrer Versuchsanlage in Lordsburg ein. Wegen verschiedener Schwierigkeiten ist sie sehr viel kleiner als ursprünglich geplant. Die beiden Geschäftspartner treffen sich in El Paso, Texas, und fahren von dort mit dem Auto los.

Vorher ließ Beard noch eine Biopsie des dunklen Hautflecks machen, der sich auf seinem Handrücken vergrößerte. Als ihm Dr. Eugene Parks die Diagnose mitteilte – Melanom – riet er ihm zugleich dringend zu einer sofortigen Operation. Aber Beard wollte die Einweihung in Lordsburg nicht versäumen und ließ sich einen späteren Termin geben. Der Hautkrebs ist beunruhigend. Dazu kommt, dass die Leber des Zweiundsechzigjährigen aufgrund des Alkoholkonsums vergrößert ist, und er inzwischen 65 Pfund Übergewicht mit sich herumträgt, so viel wie Soldaten bei ihren Übungen als Marschgepäck schleppen müssen.

Während der Fahrt nach New Mexico erhält Beard eine E-Mail von Patrice, die inzwischen mit dem Schönheitszahnarzt Charles Banner verheiratet ist und innerhalb von vier Jahren drei Kinder bekam. Sie teilt ihrem Ex-Mann mit, dass Rodney Tarpin vor fünf Wochen nach der Verbüßung der Hälfte seiner Haftstrafe freigelassen worden sei und nach ihm suche. Beard erschrickt, denn übers Internet ist er leicht aufzuspüren. Selbstverständlich wird auf der Website des Unternehmens auch auf die bevorstehende Inbetriebnahme der Versuchsanlage in Lordsburg hingewiesen.

Dort stehen bereits Fernseh-Übertragungswagen. Die Medien haben sich auf die für den nächsten Tag geplante Show vorbereitet.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Wie befürchtet, ist auch Rodney Tarpin da. Mit der Bemerkung, er habe Tom Aldous nicht umgebracht, eröffnet er das Gespräch mit Beard. Aber er ahnt nicht, was wirklich geschah, sondern nimmt an, dass Patrice den jungen Wissenschaftler mit einem Hammer aus seiner Werkzeugtasche erschlug. Sie hatte ihm zuvor schon versichert, dass sie diesen lästigen Liebhaber loswerden wolle. Bevor Patrice und Tarpin jedoch dazu kamen, Mordpläne zu schmieden, war Aldous tot, und Tarpin konnte seine Aussagen nicht mehr mit seiner Geliebten abstimmen. Er geht davon aus, dass er für sie ihm Gefängnis saß. Patrice habe ihn allerdings kein einziges Mal besucht, klagt er, und von ihrer Wiederverheiratung habe er erst nach seiner Entlassung erfahren. Trotzdem liebt Tarpin sie noch immer, und um über den Liebeskummer hinwegzukommen, will er möglichst weit entfernt von ihr ein neues Leben anfangen. Er bittet den Professor, ihn in der Versuchsanlage zu beschäftigen. Beard, der bis hierhin verblüfft zuhörte, entrüstet sich über die Dreistigkeit seines früheren Nebenbuhlers und lehnt es ab, ihm zu helfen. Damit schafft er sich einen neuen Feind.

Melissa ruft an: Sie und Catriona sind nach El Paso geflogen und mit dem Auto auf dem Weg zu ihm. Melissa erhielt nämlich einen Anruf von Darlene, die ihr erzählte, Michael Beard habe ihr die Ehe versprochen. Und da möchte sie ein Wörtchen mitreden, zumal der Liebhaber Terry gar nicht existiert.

Beard versucht Darlene klarzumachen, dass seine Heiratsanträge beim Liebesspiel nicht ernst gemeint waren.

Er sagte: „Du bist eine Wucht, aber ich werde dich nicht heiraten. und auch sonst keine.“
Sie stand auf und nahm ihre Handtasche: „Gut, aber ich heirate dich.“

Toby Hammer kommt mit Barnard, einem Rechtsanwalt aus Albuquerque, zu seinem Geschäftspartner ins Hotel. Barnard vertritt Jock Braby und das Nationale Institut für erneuerbare Energien in Reeding. Man will Beard wegen der siebzehn Patente verklagen, die er Tom Aldous stahl. Braby kopierte die 327 Seiten aus der Mappe, die der wissenschaftliche Mitarbeiter dem Nobelpreisträger hinterließ. Aldous‘ Manuskript beweist, dass Beard sich die Erkenntnisse des Toten widerrechtlich aneignete. Beard behauptet, sein damaliger Assistent habe nur notiert, was er ihm gewissermaßen diktierte, ahnt jedoch, dass er mit der Lüge nicht durchkommt. Barnard verlangt im Namen seiner Mandanten den Verzicht auf die Inbetriebnahme der Versuchsanlage. Die Technik gehöre nicht ihnen, sondern aufgrund des Dienstvertrags von Tom Aldous dem Nationalen Institut für erneuerbare Energien. Obwohl Barnard offenbar zu einer gütlichen außergerichtlichen Regelung bereit ist, bleibt Beard zum Entsetzen seines Partners stur und uneinsichtig.

Wenn die Öffentlichkeit von dem Rechtsstreit erfährt, wird niemand mehr in das Projekt investieren.

Bald nach der Unterredung mit dem Anwalt erfährt Beard von seinem Geschäftspartner, dass jemand die Versuchsanlage mit einem Vorschlaghammer zerstörte. Außerdem lässt Toby Hammer ihn wissen, dass er sich aus dem Unternehmen zurückziehen und nicht für die 4 Millionen Dollar Schulden aufkommen werde. Er habe sich bereits mit einem Rechtsanwalt in Oregon in Verbindung gesetzt.

Per E-Mail wird Michael Beard eingeladen, auf dem Klimagipfel im Dezember 2009 in Kopenhagen vor den Außenministern einen Vortrag zu halten.

Er sitzt in einem Restaurant beim Essen, als Darlene, Melissa und Catriona zur Tür hereinkommen.

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In seinem Roman „Solar“ konfrontiert uns Ian McEwan damit, dass wir die Erde zerstören und uns auf eine Klimakatastrophe zubewegen, ohne dies wahrhaben zu wollen und wirksam gegenzusteuern. Er setzt sich allerdings nicht ernsthaft mit dem Thema Solarenergie auseinander, sondern verwendet es als Motor für das Räderwerk des Romans.

Der Physik-Nobelpreisträger Michael Beard, ein gewissenloser Egomane, täuscht sein Interesse für Solarenergie nur vor, um sich durch die Nutzung gestohlener wissenschaftlicher Erkenntnisse bereichern zu können. Seine innere Leere überspielt er durch Unmäßigkeit nicht nur beim Sex, sondern auch beim Essen und Trinken [Alkoholkrankheit].

Ian McEwan erzählt die Geschichte zwar in der dritten Person, jedoch konsequent aus der subjektiv gefärbten und eingeschränkten Perspektive des Protagonisten. Dadurch tritt die Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzung und Wirklichkeit, Einbildung und Realität deutlich zutage. Warum es jederzeit Frauen gibt, die mit diesem unsympathischen Menschen ins Bett gehen, erfahren wir nicht, weil Michael Beard sich darüber naturgemäß nicht wundert.

Während er immer dicker und kränker wird, bleibt sein Charakter unverändert. Daraus ergibt sich ein literarisches Problem für „Solar“: Es gibt keine Entwicklung, und die Handlung bewegt sich nicht auf einen Höhepunkt zu, auch wenn das Ende zumindest für eine Figur der Apokalypse gleichkommt.

„Solar“ ist in drei Kapitel gegliedert, die mit den Jahreszahlen 2000, 2005 und 2009 überschrieben sind. Ereignisse, die sich nicht in diesen drei Jahren abspielen, werden durch Rückblenden nachgeholt.

Ian McEwan hat „Solar“ als Satire u.a. auf den Wissenschaftsbetrieb angelegt. Da sind deftige Überspitzungen erlaubt. Allerdings sind einige Szenen auf dem Niveau von Mario Barth, etwa wenn dem Protagonisten beim Urinieren im Freien der Penis am Reißverschluss festfriert oder wenn er noch rasch neun Wildlachsbrötchen vertilgt, bevor er ans Rednerpult tritt und deshalb gegen Brechreiz kämpfen muss. Das ist schade, weil Ian McEwan diese billigen Gags gar nicht nötig gehabt hätte. Auch ohne sie würden funkelnder Wortwitz, Situationskomik und gut vorbereitete Slapsticks den Leser gut unterhalten.

Den Roman „Solar“ von Ian McEwan gibt es auch als Diogenes-Hörbuch, gelesen von Burghart Klaussner (8 CDs, Zürich 2010).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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Bei "Der namenlose Tag" handelt es sich um einen Kriminalroman, aber Friedrich Ani geht es nicht um Action oder Spannung, sondern um die Romanfiguren, ihre Traumata und Albträume. Die Atmosphäre ist bedrückend; glückliche Figuren finden wir keine.
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