Salman Rushdie : Shalimar der Narr

Shalimar der Narr
Originalausgabe: Shalimar the Clown Jonathan Cape, London 2005 Shalimar der Narr Übersetzung: Bernhard Robben Rowohlt Verlag, Reinbek 2006 ISBN 3-498-05774-X, 542 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als das Liebesverhältnis der beiden Vierzehnjährigen Shalimar und Boonyi entdeckt wird, müssen sie heiraten. Dass es sich um einen Moslem und eine Hindufrau handelt, hält niemand in dem kaschmirischen Dorf Pachigam für ein Hindernis. Einige Jahre später fällt Boonyi dem neuen US-Botschafter Max Ophuls auf. Da hofft sie auf eine bessere Zukunft und wird in Neu Delhi seine Mätresse – aber Shalimar schwört Rache ...
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Kritik

In Allegorien und Arabesken, verschachtelten Sätzen und gedanklichen Abschweifungen entfaltet Salman Rushdie seine orientalische Fabulierkunst. "Shalimar der Narr" ist ein sarkastisches Plädoyer für mehr Respekt, Rücksicht und Toleranz im Umgang einzelner Menschen und in der Politik.
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Das kaschmirische Dorf Pachigam ist bekannt für seine Köche und Gaukler. Der Dorfvorsteher heißt Abdullah Sher Noman. Er und seine Frau Firdaus haben vier Söhne: die Zwillingsbrüder Hameed und Mahmood, den zweieinhalb Jahre jüngeren Anees und Noman. Als letzterer neun Jahre nach den Zwillingen geboren wurde, kam gerade auch Pamposh („Giri“) Kaul mit einem Mädchen nieder, obwohl sie erst im siebten Monat war. Giri starb dabei, und der Witwer Pyarelal Kaul („Toorpoyn“) musste seine Tochter Bhoomi („Boonyi“) allein aufziehen.

Im Alter von neun Jahren lernt Noman, der sich nun Shalimar der Narr nennt, das Seiltanzen. Er verliebt sich in seine Spielgefährtin Boonyi. Mit vierzehn treffen die beiden sich eines Nachts heimlich auf der Wiese von Khelmarg, denn Boonyi möchte von ihrem Liebsten defloriert werden.

Auch erwachsene Männer erregt der Anblick des lasziven Mädchens: Der einunddreißigjährige in Elasticnagar stationierte indische Colonel Hammirdev Suryavans Kachhwaha lässt seinen Fahrer anhalten, als er Boonyi bemerkt, aber sie weist ihn ab. Gopinath Razdan, der neue Lehrer in Pachigam, ein Spitzel des Colonels, schleicht dem jungen Liebespaar nach und übergibt dem Rat der Dorfgemeinde kompromittierende Fotos. Während der Rat tagt, unterrichtet er Boonyi über seine Vorgehensweise:

Natürlich bist du entehrt […] Immerhin habe ich den Rat wissen lassen, dass ich bereit sei, deine Ehre zu retten, indem ich dich zur Frau nehme. Welche Wahl bleibt deinem Vater? Welch anderer Mann zeigte sich schon so großzügig gegenüber einem gefallenen Weib? […] Mit deinem Liebhaber ist es natürlich aus und vorbei […] (Seite 151)

Aber die Dorfbewohner halten zusammen. Gopinath Razdan wird verjagt, und die beiden betroffenen Familien bereiten die Hochzeit von Shalimar und Boonyi vor. Dass es sich um eine Mischehe zwischen einem Moslem und einer Hindufrau handelt, hält niemand in Pachigam für ein Hindernis.

[…] in ebenjenem Moment, in dem das Dorf beschlossen hatte, sie [Boonyi] und Shalimar den Narren zu schützen und zu ihnen zu halten, indem es sie zur Heirat zwang und somit zu lebenslanger Haft verurteilte, wurde Boonyi von Klaustrophobie überwältigt und sah deutlich vor sich, was sie zuvor, da sie vermutlich zu sehr in Shalimar verliebt gewesen war, einfach nicht begriffen hatte: dass nämlich dieses Leben, das Eheleben, das Dorfleben, das Leben mit ihrem am Muskadoon schwatzenden Vater und ihren gopi-Tänze tanzenden Freundinnen, das Leben mit all den Menschen, unter denen sie bisher jeden einzelnen Tag verbracht hatte, bei weitem nicht genug für sie war, dass es nicht mal ansatzweise ihren Hunger befriedigen konnte, ihr gieriges Verlangen nach etwas, das sie noch nicht zu benennen vermochte, das aber, je älter sie wurde, durch die Unzulänglichkeiten ihres Lebens nur noch härter und schmerzlicher zu ertragen sein würde. (Seite 160)

Einige Jahre später taucht im muslimischen Nachbardorf Shirmal ein hagerer Prediger auf, der behauptet, eine Reinkarnation des Heiligen Bulbul Shah aus dem 14. Jahrhundert zu sein. Der „Eiserne Mullah“, wie man ihn nennt, hetzt die Menschen gegen das tolerante Dorf Pachigam auf. Gerade noch rechtzeitig schreitet ein Bewohner namens Bombur Yambarzal ein und sorgt dafür, dass nichts gegen Pachigam unternommen wird und der Eiserne Mullah Shirmal verlassen muss. Nur die drei Brüder Aurangzeb, Alauddin, Abulkalam Gregroo laufen unbemerkt nach Pachigam und vergewaltigen auf der Wiese von Khelmarg Boonyis Freundin Zoon Misri. Nachdem Zoon sich ihrem Vater anvertraut hat – ihre Mutter starb vor vier Jahren – bricht der hünenhafte Zimmermann auf und belagert mit ein paar anderen Männern die kleine Moschee, in der die Gregroo-Brüder Zuflucht gesucht haben, bis sie glauben, dass die Vergewaltiger tot sind. (Tatsächlich flohen sie unbemerkt durch einen Geheimgang.)

1965 ernennt US-Präsident Lyndon B. Johnson Maximilian („Max“) Ophuls als Nachfolger von John Kenneth Galbraith zum neuen Botschafter in Indien.

Max wurde 1910 in Straßburg geboren. Bei seinem gleichnamigen Vater und seiner Mutter Anya handelte es sich um Aschkenasim. Max studierte in Straßburg zuerst Wirtschaftswissenschaften und internationale Politik, dann auch noch Jura. 1940 schloss er sich der Résistance an und fälschte in der Druckerei seines Vaters Ausweise für Flüchtlinge und Widerstandskämpfer. Im Frühjahr 1941 drängte er seine Eltern zur Flucht, aber sie zögerten, bis es zu spät war: Die Deutschen verschleppten sie in ein Vernichtungslager und missbrauchten sie für medizinische Experimente.

Sie dienten dem Fortschritt auf wertvolle, praktische Weise. Bis zur Gaskammer schafften sie es nie. Die Wissenschaft brachte sie schon vorher um. (Seite 217)

Max gelang es, den Deutschen zu entkommen, und zwar durch einen abenteuerlichen Nachtflug nach Clermont-Ferrand in einem von Ettore Bugatti und Louis D. de Monge konstruierten und bei Kriegsbeginn in Molsheim versteckten Prototyp.

In einer konspirativen Wohnung in Marseille lernte Max die zehn Jahre jüngere Engländerin Margaret („Peggy“) Rhodes kennen, die sich unter dem Decknamen „Graue Maus“ für die Résistance engagierte. Ihr Ehemann, der französische Geschäftsmann Maurice Liota, war ein Jahr nach der Hochzeit von der Gestapo ermordet worden. Max und Peggy wurden schließlich auf der so genannten Pat-Route von Marseille über Barcelona und Madrid nach London in Sicherheit gebracht. Max und Charles de Gaulle – der Führer der Freifranzosen in London – konnten sich allerdings nicht ausstehen. Kurz nach ihrer Eheschließung mit Max sprang Peggy mit dem Fallschirm über der Auvergne ab, um parallel zur geplanten Invasion („D-Day“) in der Normandie einen Aufstand zu organisieren. Am 27. August 1944 reiste sie zu ihrem zweiten Ehemann nach New York.

Einundzwanzig Jahre später fliegt sie mit ihm nach Neu-Delhi.

Während einer Kaschmir-Reise erlebt der neue US-Botschafter in Indien eine Aufführung von Tänzerinnen und Tänzern aus dem Dorf Pachigam. Unter ihnen ist auch Boonyi.

Als Boonyi zum ersten Mal in Maximilian Ophuls‘ Augen blickte, verbeugte sie sich, während er ihr frenetisch Beifall spendete und sie dabei so durchdringend ansah, als wollte er ihr direkt ins Herz schauen. In diesem Moment wusste sie, dass sie gefunden hatte, wonach sie suchte. „Ich habe mir geschworen, dass ich die Gelegenheit beim Schopfe packe, sobald sie sich bietet“, sagte sie sich, „und jetzt ist sie da, starrt mir ins Gesicht und klatscht wie verrückt.“ (Seite 185)

Edgar Wood, ein Mitarbeiter des Botschafters, zu dessen Aufgaben es gehört, die zahlreichen Liebesaffären seines Chefs zu arrangieren, sorgt dafür, dass Boonyi zusammen mit ein paar anderen Künstlerinnen und Künstlern aus Pachigam nach Neu-Delhi eingeladen wird und dort in der US-Botschaft auftritt. In der Nacht schließen Max und Boonyi eine Art Vertrag: Der einflussreiche Diplomat ermöglicht Boonyi, aus ihrem Dorf in die Welt zu springen und erwartet dafür ihre absolute Willfährigkeit und unbegrenzte Verfügbarkeit. Ein Apartment für die Mätresse des Botschafters hat Edgar Wood bereits gemietet. Bei der Abmachung übersieht Max allerdings, dass ihm Boonyis Herz nie gehören wird, denn um ihren Ehemann verlassen zu können, hat sie es sich selbst herausgerissen.

Doch vorläufig wurde der Meisterfälscher noch von der Fälschung getäuscht, die er erstanden hatte, getäuscht und befriedigt, und er war glücklich wie ein Kunstsammler, der verborgen in einem Haufen Gerümpel ein Meisterwerk entdeckt, zufrieden wie ein Sammler, der dem Kauf nicht widerstehen kann, obwohl er weiß, dass die Ware gestohlen wurde und er sie vor den Blicken anderer verbergen muss. (Seite 267)

Im Lauf der Zeit lässt Max sich von Boonyis Klagen über die indischen Unterdrücker in Kaschmir beeinflussen. Während er sich zu Beginn seiner Amtszeit für einen Ausgleich zwischen Indien und Pakistan einsetzte, beginnt er Partei gegen Indira Gandhi zu ergreifen. Als der Botschafter deshalb in Leitartikeln kritisiert wird, hält Edgar Wood es für erforderlich, dass Boonyi aus dem Leben seines Chefs verschwindet.

[…] und er rief die Picadores, vielmehr die Picadoras. Die Schönen, mit denen er auf Max abzielte, waren sorgsam aus den oberen Gesellschaftsschichten von Delhi und Bombay ausgewählt, damit Boonyi unvorteilhaft dagegen abstach. Es waren reiche, kultivierte, gebildete, außergewöhnliche Frauen, die ihn von ferne umkreisten. Dann kamen sie näher. Immer und immer wieder trafen ihn die Lanzen ihrer koketten Bewunderung, ihrer anmutigen Bewegungen, ihrer Berührungen. (Seite 276)

Während Max sich durch die schönen Frauen ablenken lässt, tröstet Boonyi sich mit Kautabak, Opium und viel Essen über ihre Einsamkeit hinweg. Ihre Schönheit geht verloren. Nach einigen Monaten klärt sie Edgar Wood darüber auf, dass sie schwanger ist. Wegen ihrer enormen Gewichtszunahme fiel es nicht auf, und nun ist es für eine Abtreibung bereits zu spät: Sie hat die Männer ausgetrickst.

Rasch verbreitet sich das Gerücht über das kaschmirische, von einem gottlosen Amerikaner geschändete Mädchen. Infolge des Skandals kommt es zu einer diplomatischen Krise zwischen Indien und den USA.

Es gelingt Peggy Ophuls, sich an den Reportern vorbei unbemerkt zu Boonyi zu schleichen. Sie sorgt dafür, dass die Schwangere bis zur Niederkunft in einem Waisenhaus für Straßenmädchen aufgenommen wird und besorgt ihr danach einen Flug ach Kaschmir. Auf ihre Tochter muss Boonyi allerdings verzichten.

Mit dem Neugeborenen fliegt Peggy nach England. Da sie viel Geld für Waisenhäuser spendet, fällt es nicht weiter auf, dass sie ein Mädchen namens India adoptiert. Von ihrem als Botschafter abgelösten und in die USA zurückgekehrten Mann hat sie sich getrennt.

India wird von wechselnden Kindermädchen erzogen. Mit sieben findet sie heraus, dass Peggy nicht ihre richtige Mutter ist. Als sie nach ihren leiblichen Eltern fragt, behauptet Peggy zuerst, nichts darüber zu wissen, aber dann erzählt sie India, wer ihr Vater ist, und kurz darauf kommt Max erstmals zu Besuch, um seine Tochter kennen zu lernen.

Die Hölle schien verlockender als jene Oberwelt lügender Mütter und abwesender Väter, in der sie sich gefangen sah, weshalb sie ihr im Laufe einer verstörten Jugend auf allen nur erdenklichen selbstzerstörerischen Wegen zu entkommen suchte […] Mit fünfzehn war sie eine Schulschwänzerin, eine Lügnerin, eine Betrügerin, eine Aussteigerin, eine Diebin, ein entlaufener Teenager, ein Junkie und kurzzeitig sogar eine Nutte […] (Seite 472)

Nachdem Peggy als Adoptivmutter versagt hat, holt Max seine Tochter aus der Gosse.

Reumütig kehrt Boonyi nach Pachigam zurück und hofft, von ihrem Ehemann, ihren Eltern und der Dorfgemeinschaft wieder aufgenommen zu werden, aber bis auf Zoon Misri spricht niemand mit ihr, denn als sie die Mätresse des amerikanischen Botschafters geworden war, hatte man sie in Pachigam für tot erklärt. Die Nacht verbringt sie im Holzschuppen von Zoons Vater. Am nächsten Morgen muss Boonyi sich allein in die Berghütte zurückziehen, in der vor vielen Jahren die Prophetin Nazarébaddoor einsam gestorben war.

Nur mit Mühe können die beiden Väter, Abdullah Sher Noman und Pyarelal Kaul, den gehörnten Ehemann Shalimar davon abhalten, Boonyi zu ermorden. Shalimar muss ihnen einen Eid leisten, dass er seiner Frau nichts antun werde. Aber er hat sich selbst geschworen, Boonyi, den Amerikaner und ihr Kind zu töten. Den Konflikt kann Shalimar der Narr nur lösen, indem er seine Rache aufschiebt, bis Abdullah Sher Noman und Pyarelal Kaul gestorben sind.

Er sucht nach seinem Bruder Anees, der zu den Freiheitskämpfern gehört, die mit dem pakistanischen Geheimdienst zusammen gegen die Zugehörigkeit Kaschmirs zu Indien kämpfen und schließt sich ebenfalls der Befreiungsfront an.

Er tötete. Er schlug die Zeit tot. Er tötete jeden, den er töten konnte, um die Zeit zu ertragen, die vergehen musste, bis er sie töten durfte. (Seite 404)

Im Sommer 1987 tauchen auch in Shirmal und Pachigam Plakate von muslimischen Fanatikern auf, die verlangen, dass Frauen sich verschleiern und weder Männer und Frauen noch Moslems und Hindu gemeinsam fernsehen. Es kommt zu ethnischen Säuberungen. Obwohl 600 000 indische Soldaten in Kaschmir stehen, verhindern sie die Pogrome nicht und sehen zu, wie 350 000 Hindu fliehen.

Anees kehrt mit ein paar Männern nach Pachigam zurück, um sein Heimatdorf zu beschützen. Drei Wochen später taucht eine Fundamentalistengruppe auf, die von einem fünfzehnjährigen Afghanen angeführt wird. Die Bewohner müssen sich entlang der Straße aufstellen, und die immer noch unverschleierten Frauen werden aufgefordert, sich auszuziehen. Während sie anfangen, die Kleider abzulegen, erschießen Anees und seine Kampfgenossen, die sich auf den Dächern postiert haben, die Fundamentalisten.

Bald darauf wird Anees gefangen genommen und zu Tode gefoltert. Ein Offizier an der Spitze eines indischen Sonderkommandos bringt den Leichnam nach Pachigam und lässt ihn vor Anees Elternhaus werfen. Dann tritt er die Tür ein. Firdaus Noman stolpert über ihren toten Sohn und sieht, dass ihm die Hände abgehackt wurden. Die Soldaten vergewaltigen sie und töten sie ebenso wie ihren Mann. Pachigam machen sie dem Erdboden gleich. Die wenigen Überlebenden, die sich rechtzeitig in der Umgebung verstecken konnten, suchen Zuflucht in Shirmal.

Als Shalimar der Narr erfährt, dass sein Vater und sein Schwiegervater tot sind (Pyarelal Kaul war bereits vor der Zerstörung des Dorfes gestorben), marschiert er nach Shirmal und verlangt dort für seine zwanzig Begleiter ein Quartier, während er allein nach Pachigam weiterreitet. Hasina („Harud“), die Frau von Bombur Yambarzal, schickt Hashim und Hatim, ihre Söhne aus erster Ehe, zu dem inzwischen neunundfünfzig Jahre alten und zum General avancierten Hammirdev Suryavans Kachhwaha. Der Inder rückt mit einer Militäreinheit an. Keiner der in Shirmal übernachtenden Aufständischen überlebt. Nur Shalimar entkommt, weil er zur Zeit des Angriffs bei der Berghütte oberhalb von Pachigam war, um seine Frau mit einem Messer zu köpfen.

Ein Jahr später taucht Shalimar der Narr in Los Angeles auf, gibt sich dem inzwischen achtzig Jahre alten Max Ophuls zu erkennen, beteuert, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken und bittet um eine Anstellung. Der ehemalige Botschafter, der nach seiner Ablösung als Botschafter in Indien die Antiterrorabteilung eines amerikanischen Geheimdienstes leitete, stellt Shalimar arglos als Chauffeur ein.

Anlässlich ihres vierundzwanzigsten Geburtstages will er seine in Santa Monica lebende Tochter India mit einem Besuch überraschen. In der Gegensprechanlage hört sie nur ein Röcheln. Sie findet ihren Vater am Hauseingang mit durchschnittener Kehle vor.

Einige Zeit später erhält India unerwartet Besuch von ihrer Adoptivmutter Peggy, die ihr gesteht, was vor einem Vierteljahrhundert wirklich geschehen war. Auf diese Weise erfährt India, dass der Mörder ihres Vaters auch ihre leibliche Mutter ermordet hatte.

India, die sich nun Kaschmira nennt, fliegt nach Indien und reist mit einem Empfehlungsschreiben von einem Freund ihres toten Vaters nach Kaschmir. Der Adressat Sardar Harbans Singh starb vor wenigen Tagen, aber sein Sohn Yuvraj begleitet Kaschmira nach Shirmal, wo Hasina Yambarzal und alle anderen Frauen inzwischen Burqa tragen. Von Pachigam existieren nur noch Ruinen. Beim Abschied am Flughafen erklärt Yuvraj Kaschmira seine Liebe, aber sie sträubt sich gegen seine und ihre eigenen Gefühle, bewahrt ihre Selbstdisziplin und schüttelt den Kopf.

Sie gab sich diszipliniert, gepflegt, nuanciert, vergeistigt, ungläubig, verhalten und gelassen. Sie sprach mit englischem Akzent, tat nicht heißblütig, sondern kühl. Das war der Charakter, den sie wollte, den sie mit großer Entschlossenheit für sich geschaffen hatte. (Seite 14)

Drei Tage nach ihrer Rückkehr wird Noman Sher Noman alias Shalimar der Narr verhaftet. Kaschmira versteht sich als seine Nemesis und schickt ihm während der eineinhalb Jahre bis zum Beginn des Gerichtsverfahrens fünfhundert Briefe. Nachts erwacht Shalimar oft schreiend und glaubt, Kaschmira habe ihn verhext. William T. Tillerman baut darauf seine Verteidigung auf und versucht, Mitleid für den Angeklagten zu erwecken: Dessen Heimatdorf sei von der indischen Armee zerstört worden, führt er aus, und dabei habe man nicht nur Noman Sher Nomans Eltern und einen seiner Brüder, sondern auch seine geliebte Ehefrau Boonyi ermordet. Wen könne es da wundern, dass der leidgeprüfte Mann irre geworden sei und sich verhext fühle. Kaschmira, die von den Anklagevertretern Janet Mientkiewicz und Larry Tanizaki als Zeugin aufgerufen wird, sagt aus, dass Boonyi nicht von der indischen Armee, sondern von ihrem Ehemann der Kopf abgeschnitten wurde. Aufgrund dieser Aussage wird Shalimar zum Tod verurteilt und in eine der Todeszellen in San Quentin gebracht.

Sechs Jahre später bricht er zusammen mit dreißig anderen Häftlingen aus.

Kaschmira, die inzwischen einen Dokumentarfilm gedreht und sich auf ein interkontinentales Liebesverhältnis mit Yuvraj Singh eingelassen hat, erfährt von dem Ausbruch.

Obwohl sie gut bewacht wird, gelingt es Shalimar, in ihr Haus einzudringen. Kaschmira, die seit Jahren im Boxen und Bogenschießen geübt ist, merkt es rechtzeitig, setzt eine Nachtsichtbrille auf und stellt sich mit Pfeil und Bogen bereit. Als Shalimar der Narr mit einem Messer in der Hand ins dunkle Zimmer kommt, schießt sie.

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Der grandiose Roman „Shalimar der Narr“ handelt von persönlichen Tragödien vor dem Hintergrund des Kaschmir- und des Ost-West-Konflikts. Das Paradies ist zerstört; die Welt ist aus den Fugen geratenen. Es geht um Liebe und Verrat, Chauvinismus, Rache, Hass, Fanatismus und Terrorismus. Salman Rushdie beginnt mit der Ermordung eines früheren US-Botschafters in Indien, erzählt dann die rund dreißig Jahre zurückliegende Vorgeschichte und führt die Handlung am Ende einige Jahre über die Eingangsszene hinaus. Die Überschriften der Abschnitte spiegeln den Wechsel der Perspektiven: „India“, „Boonyi“, „Max“, „Shalimar“, „Kaschmira“. In Allegorien und Arabesken, Schachtelsätzen und Abschweifungen entfaltet Salman Rushdie seine orientalische Fabulierkunst. „Shalimar der Narr“ ist ein sarkastisches Plädoyer für mehr Respekt, Rücksicht und Toleranz im Umgang einzelner Menschen und in der Politik.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.