Salman Rushdie : Quichotte

Quichotte
Quichotte Random House, New York 2019 Quichotte Übersetzung: Sabine Herting C. Bertelsmann Verlag, München 2019 ISBN 978-3-570-10399-9, 461 Seiten SIBN 978-3-641-25575-6 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ismael Smile, ein indisch-stämmiger Handelsvertreter Anfang 70, wird von seinem Cousin, einem in den USA mit Opioiden reich gewordenen Pharmafabrikanten, in den Ruhestand geschickt, weil er den Bezug zur Realität verloren und sich in die Talkshow-Gastgeberin Salma R. verliebt hat. Smile fährt mit einem zunächst imaginären, dann materialisierten Sohn von der West- zur Ostküste, um die Dame seines Herzens zu erobern ...
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Kritik

Wie Miguel de Cervantes Saavedra in seinem berühmten Roman spielt Salman Rushdie in seiner Hommage "Quichotte" mit Illusionen. Das virtuose Jonglieren mit fiktiven und pseudorealen Ebenen ist das Besondere an "Quichotte". Daraus ergeben sich kunstvoll verschachtelte Parallelwelten und -wahrheiten.
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Dr. Smile und Quichotte

Ismael Smile, ein aus Indien stammender unverheirateter und kinderloser Immigrant, ist zwar Anfang 70, hat also das Renteneintrittsalter längst überschritten, arbeitet aber noch immer als Verkaufsleiter für Smile Pharmaceuticals Inc. in Atlanta/Georgia. Das Unternehmen trägt denselben Namen, weil es seinem Cousin Dr. med. R. K. Smile gehört, der mit seiner Ehefrau Happy in Atlanta lebt. Mit der Herstellung und dem teilweise illegalen Vertrieb von Opioiden hat es Dr. Smile in den USA zum Milliardär gebracht. Als er den Eindruck gewinnt, dass sein Cousin zu viel ferngesehen und dadurch den Realitätssinn verloren hat, verabschiedet er ihn in den Ruhestand.

Der Autor, der diese Geschichte erfindet, nennt Ismael Smile Quichotte – ausgesprochen wie „key-shot“ −, weil sich der Rentner (wie Don Quijote in Dulcinea) in die Talkshow-Gastgeberin Salma R. verliebt hat. Der Held macht sich auf den Weg zu ihr nach New York und ist überzeugt, dass er sie für sich gewinnen kann.

Salma R.

Salma R. stammt ebenso wie die Smiles aus Indien. Sie vergleicht ihre Großmutter Dina R. mit Greta Garbo und ihre Mutter Anisa R. mit einer Sexbombe wie Marilyn Monroe. Als Salma 19 Jahre alt war, starb ihre Mutter an einer Überdosis Drogen. Sie wurde Schauspielerin wie Dina und Anisa, aber im Gegensatz zu den beiden schaffte sie den Sprung von Mumbai nach Los Angeles, von Bolly- nach Hollywood. Sie spielte die Hauptrolle in einer TV-Serie, von der es wegen des Erfolgs fünf Staffeln gab. Dann zog sie nach New York und wurde Gastgeberin der nach ihr benannten Talkshow „Salma“. Mit ihrem Personal wohnt sie in einem Penthouse in Manhattan. Ihr zwölf Jahre jüngerer Assistent Anderson Thayer bestiehlt sie und nimmt heimlich kompromittierende Videos von ihr auf, um sie bei Bedarf erpressen zu können. Aber er besorgt ihr auch Opioide, die sie benötigt, weil sie bipolar ist wie ihre Mutter und ihre Großmutter.

Als sie einen ersten Brief von Quichotte erhält und glaubt, es handele sich um Fanpost, wundert sie sich über den gepflegten Stil. Beim zweiten Brief befürchtet sie, in den Fokus eines Stalkers geraten zu sein. Dem dritten Brief liegt ein Foto von dem 30 Jahre älteren Mann bei – und sein Gesicht erinnert sie an ihren Großvater, der sie missbrauchte, als sie zwölf Jahre alt war.

Quichotte und Sancho

Quichotte ist unterwegs zu ihr, quer durch die Vereinigten Staaten von der West- zur Ostküste. Der Beifahrersitz in seinem Wagen ist inzwischen nicht mehr leer, denn er hat einen etwa 15 Jahre alten Sohn erfunden. Sancho war anfangs schwarz-weiß und nur für Quichotte sichtbar, aber er hat sich zunehmend materialisiert.

Auf einem Campingplatz am Lake Capote/Colorado sieht Sancho bereits wie ein echter Mensch aus. Er und Quichotte werden von einer rassistischen Lady beschimpft und wegen des Aufruhrs vom Sicherheitspersonal vertrieben. Als die beiden Inder am nächsten Morgen in einem Diner in Tulsa/Oklahoma frühstücken wollen, werden sie dort ebenfalls rassistisch beschimpft und hinausgeworfen. In einer Bar in Beautiful/Kansas treffen sie auf zwei andere Inder, die von einem Betrunkenen als „verfickte Iraner“ und „Terroristen“ beschimpft werden. „Haut ab aus meinem Land,“ schreit er, bevor man ihn hinausdrängt. Aber er kommt mit einer Waffe zurück und erschießt einen der Inder.

Bevor Quichotte mit seinem Sohn Sancho durch den Lincoln Tunnel nach Manhattan fährt, übernachten sie in Berenger/New Jersey. Der Hotelier Jonésco wundert sich darüber, dass sie nicht von Barrikaden aufgehalten wurden. Quichotte und Sancho glauben, Flügelhörner zu hören, aber dann sehen sie mit eigenen Augen, wie trompetende Mammuts durch die Straßen toben und Autos zerstören. Der Hotelier ist verzweifelt über die Verwandlung von immer mehr Bewohnern der Stadt in eine Mammutart, die man längst für ausgestorben hielt, denn woher soll er Ersatz für sein bisheriges Personal nehmen?

Gleich nach der Durchquerung des Lincoln-Tunnels nehmen sich Quichotte und Sancho ein Zimmer im Blue Yorker Hotel, einem Stundenhotel mit sechs kostenfreien Porno-Kanälen.

Um sich seiner Angebeteten würdig zu erweisen, glaubt Quichotte, sich mit seiner fünf Jahre jüngeren, in New York lebenden Schwester aussöhnen zu müssen. Als vor 17 Jahren die Mutter starb und sich der Vater daraufhin das Leben nahm, kümmerte sie sich um die Beerdigung und alle Formalitäten. Ihr Bruder verdächtigte sie dann allerdings, ihn um seinen Erbanteil betrogen zu haben. Seit diesem Streit hatten sie keinen Kontakt mehr.

Er ruft sie an, und sie lädt ihn ein, mit seinem Sohn zu ihr zu kommen. Während Quichotte den Besuch im Stadtteil Tribeca bald wieder beendet, bleibt Sancho bei seiner Tante.

Der Autor

Der indisch-stämmige Autor, der sich das alles ausdenkt, schreibt in New York unter dem Pseudonym Sam DuChamp Kriminalromane. Jetzt hat er sich etwas Anspruchsvolleres vorgenommen.

Er sprach davon, er wolle gegen die zerstörerische, nervtötende Junk-Kultur seiner Zeit anschreiben, so wie auch Cervantes gegen die Junk-Kultur seiner Zeit Krieg geführt habe. Er sagte, er versuche auch, über die unmögliche, obsessive Liebe zu schreiben, über Vater-Sohn-Beziehungen, über Streit unter Geschwistern und, ja, über Unverzeihliches, über indische Immigranten, Rassismus gegen sie, Betrüger unter ihnen, über Cyber-Spione, Science-Fiction, die Verflechtung von fiktionalen und „realen“ Realitäten, den Tod des Autors, das Ende der Welt. Er sagte ihr, er wolle Elemente der Parodie, der Satire und der Persiflage einbauen.

Seinen bürgerlichen Namen erfahren wir nicht. Wenn er von sich in der dritten Personal Singular schreibt, nennt er sich Bruder.

Nach der Scheidung von seiner Frau reißt der gemeinsame Sohn aus. Die Polizei spürt den Vermissten schließlich auf, erklärt aber den Eltern, dass der volljährige Sohn weder mit dem Vater noch mit der Mutter Kontakt haben wolle.

Unvermittelt trifft der Autor in seiner Wohnung in New York einen Fremden, der mit einer Glock in Griffweite vor seinem iMac sitzt. Er heiße Lance Makioka, sei ein japanisch-stämmiger Amerikaner und arbeite für den Geheimdienst, erklärt er. Er sucht nach dem Sohn des Autors, der im World Wide Web unter dem Namen Quix97 berüchtigt ist, aber auch den Namen Marcel DuChamp verwendet und mit einer Quichotte-Maske auftritt. 1997 sei das Geburtsjahr seines Sohnes, bestätigt der Vater.

Die CIA verschleppt Quix97 aus Mumbai. Der Vater soll ihn nun in den USA dazu überreden, für den Geheimdienst zu arbeiten. Falls der Junge nicht kooperiere, so droht Lance Makioka – den Marcel DuCamp unter den Namen Trip Mizoguchi kennt −, müsse er mit einer Anklage wegen Cyberterrorismus rechnen. Übrigens heiße er in Wirklichkeit Kyle Kagemusha, behauptet der Agent.

Als Bruder nach 17 Jahren erstmals wieder Kontakt mit seiner in London lebenden Schwester aufnimmt, erzählt er ihr von seinem Romanprojekt und der Figur des Pharmaunternehmers Dr. Smile. Daraufhin verrät ihm Schwester, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt sei und drängt ihn, ihr in den USA Opioide zu besorgen und sie ihr nach London zu bringen.

Sie wohnt mit ihrem Ehemann – einem mit Vorliebe Frauenkleider tragenden Richter – und der Tochter über dem nach Ignatius Sancho (1729 − 1780) benannten Restaurant Sancho in Notting Hill. Schwester kann kaum noch das Bett verlassen. Das Pflegepersonal verabreicht ihr Morphium gegen die Schmerzen. Nun bringt ihr der Besucher InSmile, einen sublingual anzuwendenden Spray mit dem hundert Mal stärkeren Wirkstoff Fentanyl, ein Produkt von Smile Pharmaceuticals Inc. in Atlanta/Georgia.

Bruder erzählt Schwester weiter von seinem Romanprojekt. Als sie hört, dass die Figur Salma R. vom Großvater missbraucht wurde, wundert sie sich, denn dass sie selbst als fünfjähriges Kind vom Vater vergewaltigt worden war, haben sie und die Mutter verschwiegen. Sie weist Bruder darauf hin, und der denkt:

Nun sind Quichotte und ich nicht mehr zwei verschiedene Wesen, das eine ist kreiert und das andere kreierend, dachte er. Nun bin ich Teil von ihm, ebenso wie er Teil von mir ist.

Die Todkranke und ihr Mann, der Richter, die sich gegenseitig Jack nennen, nutzen das Opioid aus den USA für einen erweiterten Selbstmord. Daraufhin wirft die Tochter den Onkel hinaus, der das tödliche Mittel gebracht hatte.

Zurück in New York, erfährt der Autor, dass sich sein Sohn inzwischen als CIA-Agent bewährt habe. Deshalb werden ihnen  zwei gemeinsame Wochen zugestanden. Die Zeit nutzt der Autor, um mit seinem Sohn zu den Orten zu fahren, an denen der neue Roman spielt.

Und nun verschmolzen die Streams, und Fiktion wurde Faktum, als hätten sie während der Unterbrechung eine Theaterbühne betreten und als hätte der zweite Akt begonnen, dessen Figuren um sie herumwirbelten und mit ihnen umgingen als wären sie Teil der Besetzung. Ein Betrunkener schrie sie an, nannte sie „verfickte Iraner“ und „Terroristen“, fragte sie, ob sie überhaupt einen legalen Aufenthaltsstatus hätten, und brüllte: „Haut ab aus meinem Land.“

Der Betrunkene kehrt mit einer Schusswaffe zurück, aber der CIA-Agent entreißt sie ihm und hält ihn in Schach, bis die Polizei eintrifft und den Mann festnimmt.

Glückliche Fügung?

Anderson Thayer fliegt in die USA, nimmt an einer Konferenz der American Association of Doctors of Indian Origin in Atlanta teil und kehrt mit einem kostenlosen Einführungspaket Dr. Smiles für Salma R. nach London zurück.

[…] entdeckte Salma R., dass InSmile so etwas wie einen Aufstieg in einen Rolls-Royce bedeutete, nachdem man Jahre hinter dem Steuer eines Nissan Qashqai verbracht hatte. Es war Farbe nach einem Leben in Schwarz-Weiß, Monroe nach Mansfield, Margaux nach HobNob, Cervantes nach Avellaneda, Hammert nach Spillane. Es war wie ein erster richtiger Kuss oder ein erster echter Orgasmus, nachdem man jahrelang Meg Ryan in Katz’s Delicatessen gewesen war.

Weil Dr. Smile seine VIP-Kundinnen und -Kunden persönlich kennen möchte, lädt Salma R. ihn und seine Frau Happy zu einer Aufzeichnung ihrer Talkshow in New York ein.

Nach dieser Begegnung verabredet sich Dr. Smile konspirativ mit seinem Cousin in New York. Er übergibt ihm einen Aktenkoffer mit einem InSmile-Vorrat. Ausgerechnet Quichotte soll der persönliche Drogenbote des Unternehmens für Salma R. werden!

Am Telefon meldet sich Anderson Thayer. Der will die angekündigte Ware in Empfang nehmen, aber Quichotte besteht auf einer persönlichen Übergabe an die Lady. Sie erkennt den Mann, der ihr Briefe geschickt hat und sie an ihren Großvater erinnert. Der soll also jetzt für ihren Drogennachschub zuständig sein.

Sancho

Aus den Fernseh-Nachrichten erfährt Quichotte, dass sein Cousin in Atlanta verhaftet wurde. Er soll einen Ring von Ärzten geführt haben, die Opioide ohne Indikation verordneten. Außerdem beschuldigen ihn sieben Frauen, sie sexuell belästigt zu haben. Die nächste Nachricht trifft Quichotte noch heftiger: Salma R. wurde von ihrem Assistenten Anderson Thayer bewusstlos am Boden liegend aufgefunden. Sie hat offenbar eine Überdosis eines Opioids genommen, und nun kämpfen die Ärzte auf der Intensivstation des Mount Sinai Hospitals um ihr Leben. Erst auf Nachfrage berichtet die Nachrichten-Sprecherin dem vor dem Fernsehgerät sitzenden Quichotte, dass seine Schwester in ihrer Wohnung in Tribeca von seinem Sohn ausgeraubt wurde.

Nachdem er das Bargeld seiner Tante geraubt hat, fährt Sancho mit dem Bus nach Beautiful/Kansas zurück, denn dort wohnt die Frau seiner Träume. Ein Busstop wiederholt sich wie der Tag des Murmeltiers in Punxsutawney („… und täglich grüßt das Murmeltier“).

Beim Aussteigen in Beautiful fühlt er sich unwohl.

Sein Verfall nahm zu. Von High Definition verschlechterte er sich zu frühem Analog […].

Er findet das Wohnhaus und klopft. Die Dame seines Herzens öffnet, nimmt ihn jedoch nicht wahr.

„Nein“, sagte sie, als sie jemandem hinten im Haus antwortete. „Da ist niemand. Es hat ganz eindeutig geklopft, aber hier ist niemand.“
Und dann war da niemand.

Evel Cent

In der Talkshow „Salma“ prophezeite Evel Cent, ein Wissenschaftler und Milliardär indischer Herkunft, CEO von CentCorp in Sonoma/Kalifornien, den bevorstehenden Untergang der Welt. Die grassierenden Sehstörungen werden seiner Meinung nach nicht durch Makula-Degenerationen hervorgerufen, sondern durch Risse in der zerbrechenden Umwelt. Er habe deshalb eine NEXT-Maschine entwickelt, die den Durchgang zu einem Paralleluniversum ermögliche.

Die Welt gerät aus den Fugen; Ereignisse gehen ihren Ursachen voraus.

Quichotte, der auch bereits Lichtpunkte vor den Augen sieht, gelingt es, Salma zu überreden, mit ihm nach Kalifornien zu fahren. Das Unternehmen CenCorp in Sonoma ist von Sicherheitskräften abgeriegelt, aber Evel Cent verrät Salma R. am Telefon, wie sie und ihr Begleiter dennoch zu ihm ins Innere kommen können. Indem die beiden auf das strahlende Licht am Ende eines Tunnel zufahren, gelangen sie an ihr Ziel, wo sie von Evel Cent empfangen werden.

Erst in diesem Augenblick erhält er die Nachricht, dass die Verbindung der Welten erstmals stabil sei. Quichotte besteht darauf, dass Evel Cent als Erster durch die völlig normal aussehende und mit einem Drehknauf zu öffnende Tür geht. Dann folgen Salma und er.

Der an seinem Schreibtisch sitzende Autor bemerkt ein Licht, das durch eine nur Bruchteile eines Millimeters große Öffnung ins Arbeitszimmer strahlt. Drei winzige Wesen taumeln herein, aber nach wenigen Schritten brechen sie keuchend zusammen und sterben, denn für sie ist die Welt zu groß und die Luft zu dick.

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Der spanische Nationaldichter Miguel de Cervantes Saavedra (1547 − 1616) veröffentlichte 1605 bzw. 1615 die zwei Teile seines Romans „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha“. „Don Quijote“ heißt die Hauptfigur im Deutschen. Salman Rushdie wählte für seinen Roman die Schreibweise „Quichotte“, die auch bei der Übertragung ins Deutsche beibehalten wurde.

So wie Cervantes‘ Hauptfigur durch die Lektüre von Ritterromanen den Bezug zur Realität verliert, geschieht es in Salman Rushdies Hommage durchs Fernsehen. Bei dem indisch-stämmigen Autor wird aus dem auf seinen Vorteil bedachten Knappen Sancho Panza ein vom Protagonisten erfundener Sohn; der Dulcinea von Toboso entspricht in „Quichotte“ die Talkshow-Gastgeberin Salma R., als Transportmittel dient statt des betagten Reitpferdes Rosinante ein altes Auto, und ebenso wie Miguel Cervantes in „Don Quijote“ spielt Salman Rushdie in der Road Novel „Quichotte“ mit Illusionen.

Das virtuose Jonglieren mit fiktiven und pseudorealen Ebenen ist das Besondere an „Quichotte“: Wir lesen das Buch eines erdachten Autors über fiktive Figuren wie Ismael Smile alias Quichotte, der auch gleich noch einen Sohn namens Sancho erfindet. Daraus ergeben sich kunstvoll verschachtelte Parallelwelten und -wahrheiten. Das ist in Anbetracht allgegenwärtiger Fake News zugleich ein aktuelles Thema.

In einigen Textpassagen treten Romanfiguren wie Sancho und Salma R. als Ich-Erzähler/in auf, aber zumeist lesen wir, was Salman Rushdie den fiktiven Autor schreiben lässt.

Quichotte ist Anfang 70, wie Salman Rushdie und kommt wie dieser aus Mumbai. Seine weibliche Hauptfigur nennt er Salma R.

Wie der fiktive Autor in „Quichotte“ erklärt, handelt der Roman von obsessiver Liebe, einer Vater-Sohn-Beziehung, Konflikten zwischen Geschwistern, Rassismus, Cyber-Kriminalität. Salman Rushdie streift das Thema Kindesmissbrauch und prangert die skrupellose Geschäftemacherei mit Opioiden an.

„Quichotte“ ist überfüllt mit Anspielungen auf Literatur, Kino und Fernsehen. Ein Beispiel: Salmas Mutter Anisa war in den Augen der Tochter eine Sexbombe wie Marilyn Monroe. Ihr Vater heiratete nach der Trennung von der Familie eine englische Fotografin namens Margaret Ellen Arnold. Marilyn Monroes Ehemann Arthur Miller heiratete nach der Scheidung die österreichische Fotografin Inge Morath, und die Standfotografin am Set von „Misfits. Nicht gesellschaftsfähig“ in Reno/Nevada hieß Eve Arnold.

Das Namedropping ist passagenweise unterhaltsam, auf Dauer allerdings auch ein wenig ermüdend. Das gleiche gilt für die orientalisch ausschweifende Erzählweise Salman Rushdies, der er zugleich parodiert:

Ein Einwurf, lieber Leser, wenn Sie erlauben: Man mag anführen, Geschichten sollten nicht so ausufern, sie sollten an dem einen oder anderen Ort angesiedelt sein, Wurzeln schlagen an dem anderen oder einen Ort und in diesem einen Boden erblühen; doch viele er heutigen Geschichten sind und müssen von dieser pluralistischen, ausufernden Art sein, denn im Leben der Menschen und in ihren Beziehungen hat so etwas wie eine nukleare Spaltung stattgefunden, Familien werden getrennt, Millionen und Abermillionen von uns sind in die vier Ecken der (zugegeben kugelförmigen und darum eckenlosen) Erde gereist, entweder aus Notwendigkeit oder aus freien Stücken. Diese zerbrochenen Familien können unsere am besten verfügbaren Linsen sein, durch die man diese zerbrochene Welt betrachtet.

Den Roman „Quichotte“ von Salman Rushdie gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Sascha Rotermund (978-3-8445-3675-1).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © C. Bertelsmann Verlag

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