Salman Rushdie : Mitternachtskinder

Mitternachtskinder
Midnight's Children Jonathan Cape, London 1981 Mitternachtskinder Übersetzung: Karin Graf Piper Verlag, München / Zürich 1983 ISBN 978-3-492-02773-1, 612 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Am 15. August 1947 um Mitternacht, als Indien unabhängig wird, vertauscht eine Hebamme in Bombay zwei Neugeborene. Der Sohn der hochstehenden Familie wächst deshalb im Slum auf, der uneheliche Sohn von Straßenmusikern wird nicht nur von der vermeintlichen Mutter, sondern auch von einem Kindermädchen umsorgt. Dieser Saleem Sinai erzählt im Alter von 31 Jahren die Geschichte seiner Familie und beginnt 1915, als sein – gar nicht mit ihm verwandter – Großvater vom Medizinstudium in Heidelberg nach Kaschmir zurückkehrt.
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Kritik

Salman Rushdie überlässt dem Mitternachtskind Saleem Sinai die Bühne und spielt schelmisch mit der Rolle dieses allwissenden Ich-Erzählers und seiner Zuhörerin. In "Mitternachtskinder" überlagern sich wie im Magischen Realismus Mythos und Wirklichkeit, Zauber und Poesie. Fantastische Geschichten reflektieren, was wahr ist. Der fantasievolle orientalische Erzähler mit viel Sprachwitz nutzt alle verfügbaren Register und entwickelt die farbige, aberwitzige Handlung mit überbordender Fabulierfreude.
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Der Großvater

Aadam Aziz wird 1890 als Sohn eines Edelsteinhändlers in Kaschmir geboren. Im Alter von 20 Jahren beginnt er, in Heidelberg Medizin zu studieren. Dort entgeht ihm nicht, wie verächtlich „Ingrid, kurze Zeit seine Ingrid“ ihm zuschaut, wenn er, nach Mekka gewandt, seine Gebete verrichtet. Und seine anarchistischen deutschen Freunde Ilse und Oskar Lubin verspotten ihn deshalb sogar.

Als er 1915 promoviert nach Kaschmir zurückkommt, findet er die Ordnung der Familie, die er für unwandelbar hielt, auf den Kopf gestellt: Weil der Vater durch einen Schlaganfall den Verstand verloren hat, sitzt er zu Hause hinter einem Schleier, während Aadams Mutter zur Arbeit geht.

Beim Gebet schlägt er sich die Nase an einem gefrorenen Erdklumpen blutig.

Bei seiner Rückkehr nun sah er alles durch weit gereiste Augen. Anstelle der Schönheit des winzigen, von Riesenzähnen umschlossenen Tals bemerkte er nun die Beschränktheit und unmittelbare Nähe des Horizonts; und er war traurig, zu Hause zu sein und sich so vollkommen eingeschlossen zu fühlen.

Der 25-Jährige fällt vom Glauben ab.

Die Großeltern

Der Fährmann Tai holt den in Deutschland ausgebildeten Mediziner samt seiner Arzttasche zum verwitweten Grundbesitzer Ghani, dessen Tochter Naseem sich unpässlich fühlt.

Für den Fährmann stellt die Tasche das Ausland dar, sie ist das Fremde, der Eindringling, der Fortschritt. Und ja, sie hat in der Tat vom Geist des jungen Doktors Besitz ergriffen, und ja, sie enthält Messer und Heilmittel für Cholera und Malaria und Pocken, und ja, sie steht zwischen Arzt und Fährmann und hat sie zu Widersachern gemacht.

Weil Ghani auf den untadeligen Ruf seiner Tochter achtet, wird sie von „drei muskelstrotzenden Frauen“ beschützt. Zwei von ihnen halten ein Bettlaken vor die stehende Patientin, in dessen Mitte sie ein Loch mit ungefähr 15 Zentimetern Durchmesser geschnitten haben.

„Ghani Sahib, sagen Sie mir, wie ich sie untersuchen soll, ohne sie anzusehen!“
Ghani hörte nicht auf zu lächeln. „Sie werden freundlicherweise im Einzelnen anführen, welcher Teil meiner Tochter der Untersuchung bedarf. Ich werde ihr dann den Befehl erteilen, den verlangten Körperteil gegen das Loch zu halten, das Sie hier sehen. Und auf diese Weise mag die Sache dann durchgeführt werden.“

Weil Naseem über wechselnde Beschwerden klagt und beinahe wöchentlich nach dem Arzt gerufen wird, lernt er ihren Körper portionsweise und wie eine Collage kennen.

1918 war es mit Aadam Aziz so weit gekommen, dass die regelmäßigen Ausflüge über den See zu seinem Lebensinhalt geworden waren. Und nun wurde er sogar noch eifriger, weil klar wurde, dass nach drei Jahren der Grundbesitzer und seine Tochter willens geworden waren, gewisse Schranken zu senken. Nun sagte Ghani zum ersten Mal: „Ein Knoten in der rechten Brust. Ist das beunruhigend, Doktor? Sehen Sie nach. Sehen Sie gut nach!“

Und als er Naseem wegen Kopfschmerzen untersuchen soll, erblickt er erstmals ihr Gesicht.

1918 sterben kurz nach einander zuerst Aadams Vater, dann seine Mutter. Der Grundbesitzer Ghani findet einen Käufer sowohl für das Elternhaus als auch das dazu gehörige Ladenlokal.

„Mein lieber Junge!“ Ghani klopfte Aadam auf den Rücken. „Natürlich musst du sie heiraten. Mit einer erstklassig guten Mitgift! Ich scheue keine Unkosten! Es wird die Hochzeit des Jahres sein, ganz gewiss, ja!“ „Ich kann dich nicht zurücklassen, wenn ich gehe“, sagte Aziz zu Naseem. Ghani sagte: „Schluss mit dem Spektakel! Diesen Zirkus mit dem Laken brauchen wir nicht mehr! Lasst es fallen, ihr Frauen, das ist jetzt ein junges Liebespaar!“

Im März 1919 findet die Hochzeit statt. In der zweiten Nacht bittet Aadam seine Frau im Bett, sich wenigstens ein bisschen zu bewegen.

„Mich wo bewegen?“, fragte sie. „Mich wie bewegen?“ Er wurde verlegen und sagte: „Nur bewegen, ich meine, wie eine Frau …“» Sie schrie vor Entsetzen auf. „Mein Gott, was habe ich geheiratet? Ich kenne euch Europaheimkehrer. Da lernt ihr schreckliche Frauen kennen, und dann versucht ihr uns Mädchen so wie sie zu machen.“

Während in Amritsar am 13. April 1919 britische Soldaten und Gurkhas ein Massaker anrichten, zieht das frisch verheiratete Paar nach Agra, wo Dr. Aadam Aziz an der Universität angestellt wird und ein Haus kauft. Die beiden bekommen fünf Kinder, die Töchter Alia (*1921), Mumtaz (*1923) und Emerald (*1927) sowie die Söhne Hanif (*1924) und Mustapha (*1926).

Weil Mumtaz‘ Haut dunkler ist als die der Eltern und Geschwister, kann Naseem sie nicht ausstehen.

Als Aadam später einmal einen Fotografen beauftragt, alle Familienmitglieder zu porträtieren, zertrümmert Naseem die Kamera auf dem Kopf des armen Mannes.

Glücklicherweise überlebte er, aber nirgendwo auf Erden gab es ein Foto meiner Großmutter. Sie war nicht so eine, die sich in dem kleinen schwarzen Kasten irgendeines Menschen einfangen ließ. Es reichte ihr, dass sie in unverschleierter, bargesichtiger Schamlosigkeit leben musste – das auch noch aufzeichnen zu lassen kam nicht in Frage.
Vielleicht war es die Verpflichtung zu einem nackten Gesicht, gepaart mit Aziz‘ ständigen Bitten, sie solle sich unter ihm bewegen, die sie auf die Barrikaden getrieben hatte.

Die Eltern

Die von Mian Abdullah („Kolibri“) gegründete und geführte Bewegung „Freier Islam“ hält 1942 ihre zweite Jahresversammlung in Agra ab. Finanziert wird das von der politisch engagierten Rani von Cooch Naheen, die mit Aadam Aziz eine Affäre hat. Politische Gegner zerstückeln den Kolibri bei seinem Besuch in Agra mit Messern. Bevor er seinen Geist aufgibt, stößt er mit einen übernatürlichen Laut aus. Daraufhin kommen von allen Seiten die streunenden Hunde angerannt und zerfleischen die Meuchelmörder.

Nadir Khan, der Privatsekretär des Ermordeten, fürchtet nun um sein Leben und sucht Zuflucht bei Aadam Aziz im Keller. Der Hausherr nimmt ihn auf und achtet nicht auf seine sittenstrenge Ehefrau, die ihre Töchter nicht mit einem fremden Mann unter einem Dach wissen möchte. Um bleiben zu können, hält Nadir Khan um Mumtaz Aziz‘ Hand an und wird im Spätsommer 1943 von einem Mullah und einem Rechtsanwalt in einer heimlichen Zeremonie mit der 20-jährigen Studentin verheiratet.

Nach zwei Jahren ist Mumtaz noch immer Jungfrau. Als ihre jüngere Schwester Emerald das erfährt, rennt sie am 9. August 1945 – an dem Tag, an dem über Nagasaki eine Plutonium-Bombe explodiert – zur Kaserne und verrät Major Zulfikar, wo sich Nadir Khan versteckt. Der eilt daraufhin mit 15 Soldaten zum Haus der Familie Aziz, aber der Gesuchte ist bereits geflüchtet.

Aadam Aziz müsste daraufhin mit dem Schlimmsten rechnen, aber Major Zulfikar unternimmt nichts gegen ihn, weil er Emerald heiraten möchte. Im Januar 1946 findet die Hochzeit statt.

Mumtaz, die inzwischen von Nadir Khan geschieden ist, spannt ihrer älteren Schwester Alia den Verehrer Ahmed Sinai aus, heiratet im Juni 1946 ein zweites Mal und ändert ihren Namen in Amina. (Alia Aziz wird „ihre verbitterte Jungfräulichkeit behalten“, bis eine Bombe sie mehr als 18 Jahre später in Stücke reißt.) Major Zulfikar verschafft seinem Schwager, der in Delhi einen Kunstlederhandel betreibt, einen Großauftrag der Armee für Jacken. Aber eine als „Ravana-Bande“ bekannte antimuslimische Bewegung brennt das Lager im Januar 1947 nieder, weil das von Amina Sinai weisungsgemäß am Alten Fort hinterlegte Schutzgeld von einem Affen gestohlen wurde.

Daraufhin verkauft Ahmed Sinai das Büro und die Kundenkartei des Kunstlederhandels und zieht am 4. Juni 1947 mit seiner Frau von Delhi nach Bombay, wo er ins Immobiliengeschäft einsteigt und am 19. Juni von dem Briten William Methwold (einem Nachfahren des gleichnamigen Begründers der Stadt), der Indien verlässt, ein Areal mit vier gleich aussehenden Häusern kauft. Auf „Methwold’s Estate“ wohnen der Filmmagnat Homi Catrack mit seiner schwachsinnigen Tochter Toxy und deren Pflegerin Bi-Appah, der Rechtsanwalt Ismail Ibrahim mit seiner Frau Nussie und den Söhnen Ismail und Ishaq, der Physiker Dubashe mit seiner Frau, der Gynäkologe Dr. Suresh Narlikar sowie der Fregattenkapitän Vinoo Sabarmati mit seiner Frau Lila und den beiden 18 bzw. vier Monate alten Söhnen.

Zwei Geburten

Am 15. August 1947 um Mitternacht wird Indien unabhängig. Exakt zur gleichen Zeit werden in Dr. Narlikars Entbindungsheim in Bombay zwei Kinder geboren.

Genau in dem Augenblick, in dem Indien die Unabhängigkeit erlangte, purzelte ich in die Welt.

Amina Sinai ist eine der beiden Mütter. Die andere, die die Geburt nicht überlebt, heißt Vanita und ist mit einem Hindu verheiratet, nicht mit dem Vater des Kindes, dem Perücke tragenden britischen Straßenmusiker Wee Willie Winkie (der 1956 sterben wird).

Die in den Krankenwärter Joseph D’Costa verliebte Hebamme Mary Pereira glaubt, im Sinne des vor der Polizei geflohenen Revolutionärs zu handeln, als sie unbemerkt die Namensschilder der beiden verschiedenen Kasten angehörenden Neugeborenen Saleem und Shiva vertauscht.

Saleem Sinai und Shiva sind dazu verdammt, ein Leben zu führen, das für den jeweils anderen bestimmt war.

Nach drei Tagen bereut Mary Pereira ihre Tat, kündigt die Stelle im Entbindungsheim und fängt als Ayah (Kindermädchen) für Saleem Sinai zu arbeiten an.

Am 20. August bringt auch Nussie Ibrahim in Dr. Narlikars Entbindungsheim noch ihren dritten Sohn zur Welt, Sonny, der später ein enger Freund Saleems wird.

Kindheit

Weil Saleem mehr Milch verlangt, als seine Mutter trotz ihrer „nicht unbeträchtlichen Brüste“ geben kann, wird eine Amme eingestellt, die aber nach zwei Wochen „ausgetrocknet wie eine Wüste“ aufgibt.

Beschnitten wird Saleem im Alter von zwei Monaten durch einen Barbier mit Hasenscharte aus dem königlichen Frisörgeschäft an der Gowalia Tank Road.

Ahmed Sinai, der sich bei der Geburt seines Sohnes vor Aufregung einen Zeh gebrochen hatte, leidet darunter, dass er zu Hause kaum noch beachtet wird, weil sich alles um den Säugling dreht. „Ehefraulicher Zuwendung beraubt, von seinem Sohn verdrängt“, verfällt er der Welt der Dschinns, also des Alkohols ‒ und das ist in Bombay wegen der Prohibition gar nicht so einfach.

Kurz nach seinem ersten Geburtstag erkrankt Saleem an Typhus. Geheilt wird er durch den 81-jährigen Dr. Schaapsteker mit verdünntem Gift der Königskobra.

Zur gleichen Zeit, am 1. September 1948, wird in Dr. Narlikars Entbindungsheim seine (Halb-)Schwester geboren („Messingäffchen“), die sich als Problemkind erweist und später im Kampf um Aufmerksamkeit alle Schuhe in Brand steckt, die sie in die Hände bekommt.

Die Mitternachtskinder

Im Alter von fast neun Jahren versteckt der Schüler Saleem Sinai sich gern in einer Wäschetruhe.

Außerhalb der Wäschetruhe, umgeben von Menschen, die ein niederschmetternd klares Zielbewusstsein zu besitzen schienen, vergrub ich mich in Märchen.

In der Wäschetruhe war ich, wie Nadir Khan in seiner Unterwelt, sicher vor jedem Druck, den Forderungen von Eltern und Geschichte entzogen.

Er beginnt Stimmen zu hören.

Am Anfang, bevor ich zu dem vordrang, was Mehr-als-Telepathie war, begnügte ich mich mit Zuhören, und bald war ich in der Lage, mein inneres Ohr auf die Stimmen „einzustellen“, die ich verstehen konnte; auch dauerte es nicht lange, bis ich in dem Getöse die Stimmen meiner Familie heraushörte und die von Mary Pereira und die von Freunden, Klassenkameraden, Lehrern.

Am Neujahrstag 1957 zieht Evelyn („Evie“) Lilith Burns mit ihrem verwitweten Vater in eine der Wohnungen auf Methwold’s Estate ein – und ehe Saleem noch seine erste lange Hose trägt, verliebt er sich in die ein halbes Jahr ältere Amerikanerin, die jedoch seinem Freund Sonny Ibrahim schöne Augen macht, der wiederum Saleems Schwester anschmachtet.

Ich liebte Evie Burns ungefähr sechs Monate meines Lebens; zwei Jahre später war sie wieder in Amerika, erstach eine alte Frau und wurde in die Besserungsanstalt geschickt.

Bei einem Unfall mit Evies Fahrrad erleidet Saleem eine Gehirnerschütterung, und was in der Wäschetruhe begann, entwickelt sich nun weiter: Saalem kann die 266 männlichen und 315 weiblichen Überlebenden der 1001 am 15. August 1947 um Mitternacht geborenen Kinder zu einer Konferenz in seinem Kopf versammeln. Alle Mitternachtskinder verfügen wie Saleem über besondere Fähigkeiten.

Je näher der Zeitpunkt unserer Geburt an Mitternacht lag, desto größer waren unsere Gaben.

Aus Kaschmir kam ein blauäugiges Kind, über dessen ursprüngliches Geschlecht ich mir immer im Zweifel war, da er (oder sie) es durch Eintauchen in Wasser ändern konnte, wie er (oder sie) wollte. Manche von uns nannten dieses Kind Narada, andere Markandaya, je nachdem, welche alte Legende wir gehört hatten, die von einer Geschlechtsumwandlung handelte …

Sieben Sekunden nach Mitternacht wurde Parvati-die-Hexe in einem Slum in Alt-Delhi geboren.

Nur zwei der Kinder wurden genau um Mitternacht geboren: Saleem und Shiva. Aus dieser Tatsache leitet Shiva einen Führungsanspruch ab. Während das Straßenkind eine auf Befehl und Gehorsam basierende Bande anstrebt, denkt Saleem an einen lockeren Zusammenschluss von Gleichberechtigten, die ihre Ansichten frei diskutieren können.

Verzweifelt versuchte ich weiterhin, Shiva zu meiner Ansicht zu bekehren: „Die Sache ist, wir müssen doch für einen bestimmten Zweck hier sein, findest du nicht? Ich meine, es muss einen Grund geben, dem musst du doch zustimmen. Also hab‘ ich mir gedacht, dass wir versuchen sollten, herauszufinden, was das ist, und dann, weißt du, dem unser Leben weihen …“ „Reicher Bengel!“, brüllte Shiva. „Du hast doch keinen blassen Schimmer! Was für ein Zweck, Mann? Was in dieser beschissenen Welt hat schon einen Grund, Yara? Aus welchem Grund bist du reich und ich arm? Wo liegt der Grund fürs Hungern, Mann?“

„Nein, kleiner reicher Bengel, es gibt kein drittes Prinzip, es gibt nur Geld-und-Armut und Haben-und-Mangel und Rechts-und-Links, es gibt nur Ich-gegen-die-Welt! Die Welt ist keine Idee, reicher Junge; die Welt ist kein Ort für Träumer und ihre Träume; die Welt, kleine Rotznase, das sind die Dinge. Dinge und ihre Hersteller regieren die Welt […]. Wenn du Dinge hast, dann hast du Zeit zum Träumen, wenn du keine hast, dann kämpfst du.“

Und ich, Saleem, falle in mich zusammen: „Aber … der freie Wille … Hoffnung … die große Seele, auch als Mahatma bekannt, der Menschheit … und was ist mit Dichtung und Kunst und …“ Worauf Shiva den Sieg an sich riss: „Siehst du? Ich wusste, du würdest dich als so was herausstellen. Matschig wie zu lange gekochter Reis. Gefühlsduselig wie eine Großmutter.“

Das erste Exil

Anfang 1958 reißt der peruanische Lehrer Emil Zagallo dem Schüler Saleem Sinai ein Haarbüschel aus und verschafft ihm eine Art Mönchstonsur. Als der Malträtierte kurz darauf von den Mitschülern Glandy Keith Colaco und Fat Perce Fishwala verspottet wird, meint die 14-jährige legendäre Brustschwimmerin Masha Miovic: „Du wirst dir doch so etwas nicht gefallen lassen?“ Da bleibt Saleem nichts anderes übrig, als sein Knie in Glandys Leistengegend zu rammen. „He Mann, nicht schlecht“, kommentiert Masha, aber der Triumph ist von kurzer Dauer. Saleem rennt davon, und als sich Fat Perce mit seinem ganzen Gewicht gegen eine Tür wirft, die der Verfolgte zudrücken will, trennt die Türkante Saleem eine Fingerkuppe ab.

Bei der Analyse der Blutgruppen im Krankenhaus stellt sich heraus, dass Saleem nicht mit seinen Eltern verwandt ist. Ahmed Sinai verdächtigt daraufhin seine Frau, ihn betrogen zu haben, und sie beteuert vergeblich ihre Unschuld.

Die zerstrittenen Eltern schieben Saleem und seine Ayah Mary Pereira zu Aminas Bruder Hanif Aziz und seiner Frau Pia ab, einen Drehbuchautor und eine Filmschauspielerin, deren Erfolge bereits Vergangenheit sind.

Für meinen Onkel ebenso wie für meine theatralische Tante spielte ich (zunehmend perfekter) die Rolle des Ersatzsohnes.

Als Tante Pia dann auch noch von ihrem Liebhaber, dem Filmproduzenten Homi Catrack, verstoßen wird, bricht sie zusammen, und Onkel Hanif fordert den zehnjährigen Neffen auf, sie aufzuheitern.

Klagelaute wie von einer Totenfee ertönen vom Bett her. Tragödinnenarme fliegen hoch und mir entgegen. „Hai! Hai, hai! Ai-hai-hai!“ Ich brauche keine weitere Einladung, sondern fliege diesen Armen entgegen, ich stürze mich zwischen sie, um auf meiner trauernden Tante zu liegen. Die Arme schließen sich um mich, engerenger, Nägel graben sich durch mein weißes Schulhemd, aber das ist mir gleichgültig! – Denn unterhalb meines Gürtels mit der S-Schnalle hat etwas angefangen sich zu regen. Tante Pia wirft sich in ihrer Verzweiflung unter mir hin und her, und ich werfe mich mit ihr hin und her, vergesse aber nicht, meine rechte Hand aus dem Gefecht herauszuhalten. Steif ragt sie über dem Getümmel.

Die beiden Körper bewegen sich im Rhythmus, bis die Tante den Neffen abrupt von sich stößt und ohrfeigt.

Nach einem längeren Getuschel des Onkels am Telefon wird Saleem von seiner Mutter aus dem Exil zurückgeholt.

Seitensprünge

Als Zehnjähriger beobachtete Saleem seine Mutter bei einem heimlichen Rendezvous im Café Pionier mit Nadir Khan, der inzwischen für die Kommunistische Partei Indiens kandidiert.

Als Saleem später auch Lila Sabarmatis bei einem Seitensprung ertappt, schickt er dem gehörnten Ehemann eine anonyme Nachricht.

Indem ich die Untreue entlarvte, hoffte ich, meiner Mutter gleichfalls einen heilsamen Schock zu versetzen.

Der Fregattenkapitän Sabarmati beauftragt daraufhin den Privatdetektiv Dom Minto mit Nachforschungen, und als er die Adresse des Nebenbuhlers erfährt, besorgt er sich eine Pistole und klingelt.

Als Fregattenkapitän Sabarmatis Frau Lila die Tür aufmachte, schoss er ihr aus nächster Nähe zweimal in den Bauch. Sie fiel nach hinten; er marschierte an ihr vorbei und fand Herrn Homi Catrack vor, der sich, ohne sich den Hintern abzuputzen, von der Toilette erhob und wie von Sinnen an seiner Hose zog. Fregattenkapitän Vinoo Sabarmati schoss ihm einmal in die Geschlechtsteile, einmal ins Herz und einmal durch das rechte Auge. Der Revolver war nicht schallgedämpft, und als er aufhörte zu sprechen, herrschte ungeheure Stille in der Wohnung. Herr Catrack setzte sich, nachdem er erschossen worden war, auf die Toilette und schien zu lächeln.

Ich hatte meiner Mutter eine Lehre erteilt, und nach der Sabarmati-Affäre sah sie ihren Nadir-Qasim niemals in Fleisch und Blut wieder.

Das Geständnis

Überall auf Methwold’s Estate werden im August 1958 Schilder „zu verkaufen“ aufgestellt. Die Häuser sollen abgerissen werden, um Platz zu machen für eine 30 Stockwerke hohe Mietskaserne. Ahmed Sinai weigert sich als Einziger, seine Buckingham Villa zu verlassen.

Als Hanif Aziz wegen der Ermordung des Filmmoguls Homi Catrack sein Einkommen ganz verliert, springt der 34-Jährige vom Dach seines Wohnblocks.

Im Fallen erschreckte er die Bettler so sehr, dass sie ihre Blindheit vorzutäuschen vergaßen und schreiend wegliefen … im Leben wie im Tod setzte Hanif Aziz sich für die Sache der Wahrheit ein und schlug Blendwerk in die Flucht. Er war fast vierunddreißig Jahre alt. Mord bringt Tod hervor; indem ich Homi Catrack tötete, hatte ich auch meinen Onkel getötet. Es war meine Schuld, und das Sterben war noch nicht vorüber.

Wegen des Trauerfalls reist die Verwandtschaft an und versammelt sich in der Buckingham Villa. Saleems Großeltern Aadam und Naseem Aziz kommen aus Agra, Onkel Mustapha, seine halb iranische Frau Sonia und die Kinder aus Pakistan, Tante Alia, General Zulfikar, seine Frau Emerald und der Sohn Zafar ebenfalls. Und Amina Sinai überredet ihre verwitwete Schwester Pia, wenigstens für ein paar Wochen bei ihr zu bleiben.

Am 37. Tag der Trauerzeit gesteht Mary Pereira, die beiden am 15. August 1947 um Mitternacht in Dr. Narlikars Entbindungsheim in Bombay geboren Kinder Saleem und Shiva vertauscht zu haben. Dann verlässt sie die Familie Aziz reumütig und fährt zu ihrer uralten Mutter nach Panaji in Goa.

Niemand sucht nach dem leiblichen Sohn. Weder Ahmed noch Amina interessieren sich für einen Straßenjungen, der elf Jahre in der Gosse verbracht hat.

Als die Trauerzeit im Herbst 1958 endet, überreden die Verwandten Amina Sinai, sich scheiden zu lassen, und Tante Emerald Zulfikar holt ihre Schwester Amina, ihre Schwägerin Pia, die Nichte und den Neffen zu sich nach Rawalpindi, wo Saleem und seine Schwester nun mit ihrem Cousin Zafar zur Schule gehen. Ahmed Sinai bleibt mit Marys Schwester Alice Pereira in Bombay zurück.

Mitte 1964, einige Monate nachdem Aadam Aziz nach Kaschmir gefahren war um dort zu sterben, wo die Geschichte begonnen hatte, zieht auch seine Witwe Naseem Aziz nach Pakistan.

Sie und meine Tante Pia zogen in einen bescheidenen Bungalow in der Altstadt; sie legten ihre Ersparnisse zusammen und erwarben eine Konzession für die lang erträumte Zapfsäule.

Die Sechzigerjahre

Als am 1. September 1962 der 14. Geburtstag von Saleems Schwester gefeiert wird, stellt sich heraus, dass sie hervorragend singen kann – und sie erhält deshalb den Namen „Jamila die Sängerin“.

Am 21. November 1962 wird Saleems ständig verstopfte unförmige Nase in Bombay operiert. Daraufhin beginnt er die Wonnen eines in seinem Fall außergewöhnlichen Geruchssinns zu genießen, während er jedoch in seinem Kopf keine Stimmen mehr hören kann.

Im Januar 1965 merkt die 42 Jahre alte Amina Sinai, dass sie nach einer Pause von 17 Jahren wieder schwanger ist. Aber eine Woche vor dem Geburtstermin stirbt fast die ganze Familie bei einem indischen Bombenangriff.

Saleem wird von seinem Onkel Mustapha, einem hohen Beamten, aufgenommen. 420 Tage verbringt er dort und hört beispielsweise, wie Tante Sonia schreit:

„Dieser Straßenkehrer – dieser dreckige Kerl, noch nicht einmal dein Neffe ist er.“

Erst als die Tante Saleem mit Parvati-der-Hexe im Bett erwischt, wendet sich auch sein Onkel von ihm ab:

„Du stammst von Straßenkehrern ab und wirst dein Leben lang ein Dreckskerl bleiben.“

Bangladesch-Krieg

Nach dem Scheitern der Gespräche mit Zulfikar Ali Bhutto und Yahya Khan proklamiert Scheich Mujibur Rahman am 25. März 1971 in Ostpakistan den Staat Bangladesch. Damit beginnt ein Krieg zwischen West- und Ostpakistan (Bangladesch), in den auch Indien eingreift. Saleem Sinai gehört zu den westpakistanischen Soldaten, die nach Bangladesch gebracht werden, und wegen seines außergewöhnlichen Geruchssinns setzt man ihn wie einen Spürhund ein – bis der Hauptmann mit drei Kameraden desertiert.

Erst im Oktober taucht er aus den Sundarbans, den Dschungelsümpfen der Gangesmündung, wieder auf. Als der Krieg am 15. Dezember 1971 mit dem Sieg und der Anerkennung des unabhängigen Staates Bangladesch endet, wird Saleem von Parvati-der-Hexe und dem Schlangenbeschwörer Picture Singh in einem Weidenkorb versteckt, im Laderaum eines Armeelasters zum Militärflughafen gebracht und nach Delhi geflogen.

Am 16. Dezember 1971 purzelte ich aus einem Korb in ein Indien, in dem Frau Gandhis Neue Kongresspartei eine Mehr-als-zwei-Drittel-Mehrheit in der Nationalversammlung besaß.

Der Sohn

Im Mai 1974 testet Indien in der Wüste von Rajasthan eine erste eigene Atombombe. Zur gleichen Zeit kehrt Shiva, der es inzwischen zum Major gebracht hat, mit seinem Regiment nach Delhi zurück – und lässt sich auf eine Affäre mit einem anderen Mitternachtskind ein, mit Parvati-der-Hexe.

Nach 117 Nächten teilt sie ihm mit, dass sie von ihm schwanger sei. Danach entlässt sie ihn aus ihrem Bann – und heiratet am 23. Februar 1975, nach ihrem Übertritt zum Islam, Saleem Sinai. Laylah Sinai, wie sie sich nun nennt, bringt am 25. Juni 1975 um Schlag Mitternacht in einem Slum in Delhi Aadam zur Welt, einen Säugling mit riesigen „ausladend flatterten“ Ohren. Obwohl ihr Ehemann impotent ist und kein einziges Mal mit ihr Geschlechtsverkehr hat, erkennt er Aadam als seinen Sohn an.

Vas-, Tub- und Sperektomie

Im April 1976 reißen Bulldozer den Slum ab, in dem Saleem und Laylah mit dem Kind hausen. Das geschieht im Rahmen eines vom Zentralkomitee der Sanjay-Jugend autorisierten städtischen Verschönerungsprogramms. Vergeblich versuchen die Slum-Bewohner sich dagegen zu wehren. Zu den Angreifern gehören auch Sterilisations- und Soldatentrupps mit einem Vasektomie-Zelt.

Shiva ist einer der Anführer. Während er vom anarchischen Unruhestifter in den Slums zum Major aufgestiegen ist, hat Saleem den umgekehrten Weg genommen. Shiva lässt Saleem von „einem schlecht zusammenpassenden Duo“ foltern.

Später heißt es, Shiva habe sich auf eigenen Wunsch sterilisieren lassen. Allen anderen Mitternachtskindern wird in den ersten 18 Tagen des Jahres 1977 im „Haus der Grünen Witwe“ nicht nur die Möglichkeit zur Vermehrung, sondern auch die Hoffnung herausgeschnitten, also einer Vas- bzw. Tub- und Sperektomie unterzogen.

Sie überließen nichts dem Zufall. Für uns nicht die einfache Vas- und Tubektomie, die an den gebärfreudigen Massen durchgeführt wurde; denn da gab es eine Chance, eine winzige Chance, dass solche Operationen rückgängig gemacht werden konnten … es wurde geschnitten, aber irreversibel: Hoden wurden aus ihren Säcken entfernt, und Gebärmütter verschwanden für immer. Test- und hysterektomisiert, wurde den Kindern der Mitternacht die Möglichkeit verwehrt, sich zu vermehren … aber das war nur ein Nebeneffekt, denn es waren wahrhaft besondere Ärzte, und sie entzogen uns mehr als das: Auch die Hoffnung wurde herausgeschnitten.

Als an vierhundertundzwanzig eine Ektomie durchgeführt war, sorgte eine rächende Göttin dafür, dass aus gewissen ausgeschnittenen Teilen ein Currygericht mit Zwiebeln und grünen Chilis zubereitet und an die Straßenköter von Benares verfüttert wurde. (Vierhunderteinundzwanzig Ektomien wurden durchgeführt, denn einer von uns, den wir Narada oder Markandaya nannten, hatte die Fähigkeit, das Geschlecht zu wechseln; er oder sie musste zweimal operiert werden.)

Schlangenbeschwörer

Als Saleem seinen inzwischen 21 Monate alten Sohn Aadam im Phantomslum der Illusionisten in Delhi wiedersieht, hat das Kind die Tuberkulose überwunden, und von Picture Singh erfährt Saleem, dass dies der Wäscherin Durga zu verdanken sei, die ihn die ganze Zeit gestillt habe. (Laylah kam bei der Stürmung des Slums 1976 ums Leben.)

Als Picture Singh 1978 hört, es gebe in Bombay einen besseren Schlangenbeschwörer als ihn, reist er mit seinem Freund und dessen Sohn hin. In dem von Anand („Andy“) Shroff geführten Mitternachts-Krypto-Klub wird die Herausforderung angenommen, und der Rivale, der Maharadscha von Cooch Naheen, unterliegt bei dem Wettbewerb.

Braganza-Pickles

Als Saleem in Bombay von blinden Kellnerinnen Pickles serviert bekommt, erinnert er sich an die von seiner Ayah Mary Pereira zubereiteten. Auf dem Chutney-Glas steht die Adresse der Firma Braganza-Pickles. Der von dem Wettstreit erschöpfte Schlangenbeschwörer Picture Singh verabschiedet sich, aber Saleem geht mit Aadam zu dem Pickles-Betrieb, fragt eine Mitarbeiterin namens Padma Mangroli nach dem Geschäftsführer und erfährt, dass das Unternehmen von einer Frau geleitet wird.

Genau wie ich geahnt hatte, war die Geschäftsführer Begum von Braganza-Pickles (Privat) GmbH, die sich Frau Braganza nannte, natürlich meine ehemalige Ayah, die Verbrecherin der Mitternacht, Fräulein Mary Pereira, die einzige Mutter, die ich noch auf der Welt hatte.

Mary Pereira heißt jetzt Frau Braganza, und ihre Schwester Alice, die mit ihr zusammen wohnt, ist die Witwe eines Herrn Fernandes, der an Farbenblindheit starb, weil er mit seinem Auto an einer der noch seltenen Verkehrsampeln durcheinander geriet.

Der Tag endet damit, dass Aadam „endlich im Alter von drei Jahren, einem Monat und zwei Wochen“ sein erstes Wort spricht: „Ab … Abba …“ Vater? „… kadabba“.

Abrakadabra! Aber nichts geschieht, wir verwandeln uns nicht in Kröten, keine Engel fliegen durchs Fenster herein.

Abrakadabra: überhaupt kein indisches Wort, eine kabbalistische Formel, die sich vom Namen des obersten Gottes der Basilides-Gnostiker herleitet und die Zahl 365 enthält, die Zahl der Tage des Jahres und der Himmel und der Geister, die von dem Gott Abraxas ausströmen. „Was“, frage ich mich nicht zum ersten Mal, „bildet der Junge sich eigentlich ein, wer er ist?“

Der Erzähler

Anfang August 1978 schreibt Saleem Sinai die Geschichte seiner Familie auf und erzählt zugleich Padma Mangroli davon.

Ich werde bald einunddreißig Jahre alt. Vielleicht.
Wenn mein zerfallender, überbeanspruchter Körper es zulässt. Aber ich kann nicht darauf hoffen, mein Leben zu retten, ich kann nicht einmal damit rechnen, tausendundeine Nacht zu haben. Ich muss schnell arbeiten, schneller als Scheherazade, wenn mein Leben bei meinem Tod einen Sinn – ja, Sinn – gehabt haben soll. Ich gebe es zu: Mehr als alles andere fürchte ich die Sinnlosigkeit.

Bitte glauben Sie, dass ich auseinander falle.
Ich spreche nicht metaphorisch; auch ist dies nicht der Eröffnungszug einer melodramatischen, Rätsel aufgebenden, schmierigen Bitte um Mitgefühl. Ich meine ganz einfach, dass ich angefangen habe, wie ein alter Krug überall rissig zu werden […]. Kurzum, ich löse mich buchstäblich auf, im Augenblick noch langsam, obwohl es Anzeichen für eine Beschleunigung gibt. Ich bitte Sie nur, hinzunehmen (wie ich es hingenommen habe), dass ich letztendlich in (annähernd) sechshundertdreißig Millionen Partikel anonymen und notwendigerweise vergesslichen Staubs zerfallen werde. Deshalb habe ich beschlossen, mich dem Papier anzuvertrauen, ehe ich vergesse. (Wir sind eine Nation von Vergesslichen.)

Padma lebt inzwischen bei ihm.

Sie kann nicht lesen, und wie alle Leute, die Fisch mögen, hat sie es nicht gern, wenn andere etwas wissen, was sie nicht weiß.

Eine ungeduldige Zuhörerin ist sie.

„Bei diesem Tempo“, beschwert sich Padma, „bist du zweihundert Jahre alt, ehe es dir gelingt, von deiner Geburt zu erzählen.“

„Du solltest dich lieber beeilen, sonst stirbst du, ehe du es schaffst, geboren zu werden.“

Obwohl Padma weiß, dass Saleem Sinai entmannt ist, macht sie ihm einen Heiratsantrag und schlägt seinen 31. Geburtstag für die Zeremonie vor. Sie will sich um ihn kümmern, ohne in den Augen der Welt Schande über sich zu bringen. Und der Erzähler ahnt, dass Padma kein Nein als Antwort akzeptieren wird.

Da sieht er den Schwarzen Engel auf sich zukommen.

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Am 15. August 1947 um Mitternacht, als Indien unabhängig wird, vertauscht eine Hebamme in Bombay zwei Neugeborene. Der Sohn der hochstehenden Familie wächst deshalb im Slum auf, der uneheliche Sohn von Straßenmusikern wird nicht nur von der vermeintlichen Mutter, sondern auch von einem Kindermädchen umsorgt. Beim Lesen regt das zu der Überlegung an, was sein könnte, wenn man selbst in einer anderen Familie aufgewachsen wäre. Salman Rushdie demonstriert damit aber auch, dass es nicht nur auf das Genom, sondern auch auf die Lebensumstände ankommt.

„Mitternachtskinder“ beginnt 1915, als der vermeintliche Großvater des Protagonisten sein Medizinstudium in Heidelberg abgeschlossen hat und nach Kaschmir zurückkehrt. Sein Enkel Saleem Sinai – der in Wirklichkeit gar nicht mit ihm verwandt ist – erzählt 1978 kurz vor seinem 31. Geburtstag die Geschichte. Vor dem Hintergrund der Geschichte des indischen Subkontinents, seiner Befreiung von der Kolonialherrschaft und seiner Aufspaltung dreht sich der Familien- und Adoleszenz-Roman „Mitternachtskinder“ um Schicksal und Entwurzelung. Die Handlung spielt in Kaschmir, an verschiedenen Orten Indiens (Amritsar, Agra, Delhi, Bombay bzw. Mumbai), in Pakistan und Bangladesh.

Das Massaker von Amritsar am 13. April 1919 wird ebenso thematisiert wie der Indisch-Chinesische Grenzkrieg vom 20. Oktober bis 20. November 1962 und der Bangladesch-Krieg vom 26. März bis 16. Dezember 1971. Der Verkauf von Methwold’s Estate mit kuriosen Bedingungen steht für die Machtübergabe der Briten in Indien. Die Konflikte und Vorurteile der Mitternachtskinder spiegeln die in der Gesellschaft zwischen hellhäutigeren Indern des Nordens und den Draviden im Süden, zwischen Hindus, Muslimen, Sikhs, Christen und anderen Religionsgemeinschaften. Besonders kritisch stellt Salman Rushdie in „Mitternachtskinder“ die Herrschaft Indira Gandhis dar.

Schon der Großvater fällt durch eine abnorm große Nase auf (die er sich gleich nach seiner Rückkehr aus Deutschland auf dem Gebetsteppich blutig stößt). Beim Lesen denken wir an Cyrano de Bergerac, aber Salman Rushdie spielt mit der Nase vermutlich auf den Hindu-Gott Ganesha in Elefantengestalt an, den Sohn von Shiva und Parvati, der als klug und humorvoll, verspielt und schelmisch gilt. Ganesha steht für Musik und Tanz, Poesie, Literatur und Theater. Trotz fehlender Verwandtschaft wird auch der Enkel Saleem Sinai mit einer unförmigen, ständig verschleimten „Rotznase“ geboren, und als diese operiert wird, endet nicht nur sein ungewöhnliches Körperwachstum, sondern auch seine telepathische Fähigkeit, während er zugleich einen ausgeprägten Geruchssinn entwickelt.

Die Arzttasche und besonders das Stethoskop des aus Deutschland nach Kaschmir zurückgekehrten Arztes symbolisieren im Gegensatz zur Nase den Verlust der Natürlichkeit.

Saleems feine Nase ermöglicht es ihm, auch in der Kochkunst zu reüssieren. Und dabei spiegelt die Herstellung von Pickles, also das Würzen und Konservieren von etwas Verderblichen, den Vorgang des Bewahrens von Vergänglichem durch Sprachkunst.

Salman Rushdie tritt nicht als Autor in Erscheinung, sondern überlässt Saleem Sinai die Bühne. Und dieser allwissende Ich-Erzähler hat eine Zuhörerin: Padma. Saleem Sinai wurde zwar entmannt, aber das Schreiben und Erzählen von Geschichten wirkt wie eine andere, im Schreibstift symbolisierte Art von Potenz.

Zwischendurch kommentiert der fiktive Ich-Erzähler in „Mitternachtskinder“, was er schreibt:

Beim Durchlesen meiner Arbeit habe ich einen Irrtum in der Chronologie entdeckt. Die Ermordung Mahatma Gandhis ereignet sich auf diesen Seiten zum falschen Zeitpunkt. Aber ich kann nun nicht sagen, wie die Ereignisfolge tatsächlich gewesen ist; in meinem Indien wird Gandhi weiterhin zur falschen Zeit sterben.

Und dann fällt mir ein, dass mir ein weiterer Irrtum unterlaufen ist – dass die Wahlen 1957 vor und nicht nach meinem zehnten Geburtstag stattfanden; aber obwohl ich mir das Gehirn zermartert habe, weigert mein Gedächtnis sich hartnäckig, die Ereignisfolge zu ändern. Das ist beunruhigend. Ich weiß nicht, was schief gelaufen ist.

Schelmisch und verschmitzt spielt Salman Rushdie weiter mit der Rolle des Ich-Erzählers und seiner Zuhörerin:

Nein! – Doch, ich muss.
Ich will es nicht erzählen! – Aber ich habe geschworen, alles zu erzählen. — Nein, ich widerrufe, das nicht, bestimmt lässt man manches besser aus …? – Das ist nicht stichhaltig; man muss die Dinge nehmen, wie sie sind! – Aber sicher nichts von den wispernden Wänden und von Verrat und Schnippschnapp und den Frauen mit den blauen Flecken auf der Brust? – Gerade das. – Aber wie kann ich, sehen Sie mich doch an, ich reiße mich in Stücke, kann noch nicht einmal mit mir selbst übereinstimmen, rede, argumentiere wie ein Verrückter, Risse tun sich auf, das Gedächtnis lässt nach, ja, das Gedächtnis stürzt in Abgründe und wird vom Dunkel verschluckt, nur Bruchstücke bleiben, keines davon ergibt mehr einen Sinn! – Aber ich darf mir kein Urteil anmaßen; muss einfach (nachdem ich einmal angefangen habe) bis zum Ende fortfahren; Sinn und Unsinn zu bewerten steht mir nicht mehr zu (und stand mir vielleicht auch nie zu). – Aber das Entsetzliche daran, ich kann nicht will nicht darf nicht will nicht kann nicht! – Hör auf, fang an. – Nein! – Doch.

In „Mitternachtskinder“ überlagern sich wie im Magischen Realismus Mythos und Wirklichkeit, Zauber und Poesie. Fantastische Geschichten reflektieren, was wahr ist.

Wahrheit und Wirklichkeit sind nicht unbedingt dasselbe. Wahrheit war für mich seit meiner frühesten Kindheit etwas, was in den Geschichten verborgen war, die Pereira mir erzählte: Mary; meine Ayah. die gleichzeitig mehr und weniger war als eine Mutter; Mary; die alles über uns wusste. Wahrheit war etwas, was direkt hinter dem Horizont verborgen war […]. Während ich dies nun im Lichtkegel meiner Schwenklampe schreibe, messe ich die Wahrheit an diesen frühen Dingen: Hätte Marie sie so erzählt, frage ich?

Wie in seinen anderen Romanen auch, entwickelt Salman Rushdie die farbige, aberwitzige Handlung in der epischen Groteske „Mitternachtskinder“ mit überbordender Fabulierfreude in unzähligen anschaulichen Episoden. Als fantasievoller orientalischer Erzähler mit viel Sprachwitz nutzt er alle verfügbaren Register. Dazu gehören Abschweifungen ebenso wie ihr Gegenteil: sprachliche Ellipsen.

Für seinen Roman „Midnight’s Children“ / „Mitternachtskinder“ wurde Salman Rushdie 1981 mit dem Booker Prize und 1993 bzw. 2008 mit den Sonderpreisen „Booker of Bookers“ bzw. „Best of the Booker“ ausgezeichnet.

Deepa Mehta verfilmte „Mitternachtskinder“. Dafür schrieb Salman Rushdie selbst das Drehbuch:

Mitternachtskinder – Originaltitel: Midnight’s Children – Regie: Deepa Mehta – Drehbuch: Salman Rushdie nach seinem Roman „Mitternachtskinder“ – Kamera: Giles Nuttgens – Schnitt: Colin Monie – Musik: Nitin Sawhney – Darsteller: Satya Bhabha, Shahana Goswami, Rajat Kapoor, Shabana Azmi, Ronit Roy, Siddharth, Seema Biswas, Shriya Saran u.a. – 2012; 145 Minuten

Es gibt auch eine in der deutschsprachigen Adaptation 2010 vom Theater Trier uraufgeführte Bühnenfassung des Romans „Mitternachtskinder“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © btb Verlag / Karin Graf

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