Arthur Schnitzler : Reigen

Reigen
Reigen. Zehn Dialoge Manuskript: 1896/97 Privatdruck: 1900 Erstausgabe: Wiener Verlag, Wien / Leipzig 1903 Uraufführung (Szenen 4 bis 6): München 1903 Uraufführung (komplett): Kleines Schauspielhaus, Berlin, 23. Dezember 1920 Neuausgabe: dtv, München 2004 ISBN 3-423-02657-X, 246 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Fünf Männer und fünf Frauen begegnen sich paarweise in zehn Szenen. Einer der beiden Partner drängt jeweils den anderen zum Koitus. Dann hat man es meistens eilig, fortzukommen. Die Reigenstruktur ergibt sich, weil jede der Figuren in zwei aufeinander folgenden Szenen auftritt – bis auf die Dirne, die im ersten und im letzten Bild eine Rolle spielt.
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Kritik

Die Dialoge verraten, dass die Paare nur durch die sexuelle Begierde vorübergehend verbunden werden, nicht aber durch gegenseitiges Verständnis oder gar eine tiefer gehende menschliche Beziehung. Schnitzler zeigt auch, wie die Wiener Gesellschaft um 1900 von den Männern geprägt ist.
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Die Dirne und der Soldat

Spät abends an der Augartenbrücke in Wien spricht die Dirne Leocadia den Soldaten Franz an, der auf dem Weg in die Kaserne ist. Weil es ihm bis zu ihrem Zimmer zu weit ist, treiben sie es in einer dunklen Ecke am Donauufer. Danach hat der Soldat es noch eiliger als zuvor, in seine Kaserne zu kommen.

Dirne: Du!
Soldat: Na, was willst denn?
Dirne: Geh, ein Sechserl für’n Hausmeister gib mir wenigstens!
Soldat: Ha! … Glaubst, ich bin deine Wurzen … Servus! Leocadia …
Dirne: Strizzi! Fallott!
(Seite 17f – Wurzen: einer, der sich ausnützen lässt)

 

Der Soldat und das Stubenmädchen

An einem Sonntagabend zieht der Soldat Franz das Stubenmädchen Marie vom Wurstelprater weg in eine dunkle Allee.

Stubenmädchen: Jetzt sagen S‘ mir aber, warum S‘ durchaus schon haben fortgehen müssen. (Seite 21)

Stubenmädchen: So gehen wir zurück, wo Leut sein.
Soldat: Wir brauchen keine Leut, was, Marie, wir brauchen …. dazu …. haha.
Stubenmädchen: Aber, Herr Franz, bitt‘ Sie, um Gotteswillen, schaun S‘, wenn ich das …. gewusst …. oh …. oh …. komm! ….
Soldat (selig): Herrgott noch einmal …. ah ….
Stubenmädchen: …. Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn.
Soldat: A was – G’sicht …..
– – – – – – – – – – – – – –
Soldat: Ja, Sie, Fräul’n Marie, da im Gras können S‘ nicht liegen bleiben.
(Seite 26)

Nach dem Koitus will er Soldat rasch zurück zum Prater, obwohl das Stubenmädchen nach Hause muss.

Soldat: Na ja, geh‘ halt zu Hause.
Stubenmädchen: Ich hab‘ halt ‚dacht, Herr Franz, Sie werden mich z’haus führen.
Soldat: Z’haus führen? Ah!
Stubenmädchen: Geh’n S‘, es ist so traurig, allein z’haus geh’n.
(Seite 29)

 

Das Stubenmädchen und der junge Herr

Der junge Herr Alfred liegt rauchend auf dem Diwan. Seine Eltern sind aufs Land gefahren, die Köchin hat Ausgang; nur das Stubenmädchen Marie ist im Haus. Er zieht sie zu sich herab und knöpft ihr die Bluse auf …

 

Der junge Herr und die junge Frau

Am Abend erwartet der junge Herr Alfred im Salon eine junge Frau namens Emma. Sie kommt angeblich nur für einen Sprung vorbei und erinnert ihn mehrmals daran, dass er versprach, „brav“ zu sein. Immer wieder betont sie, dass sie schon wieder fort sein müsste – doch sie bleibt.

Die junge Frau: Oh nein, es ist schändlich … von mir. Ich begreife mich selber nicht. Adieu, Alfred, lassen Sie mich. (Seite 54)

Die junge Frau (schwächer): Schauen Sie Alfred, und Sie haben doch versprochen, brav …. Und es ist so hell … (Seite 60)

Der junge Herr trägt die junge Frau ins Schlafzimmer. Nach dem zweiten Beischlaf beteuert sie erneut: „Aber jetzt muss ich wirklich fort.“

 

Die junge Frau und der Ehemann

Spät abends unterhalten sich die junge Frau Emma und ihr Ehemann Karl.

Der Gatte: […] Du bist ja das klügste und entzückendste Wesen, das es gibt. Ich bin sehr glücklich, dass ich dich gefunden habe.
Die junge Frau: Das ist aber nett, wie du den Hof machen kannst – von Zeit zu Zeit.
Der Gatte […]: Für einen Mann, der sich ein bisschen in der Welt umgesehen hat – geh‘, leg den Kopf an meine Schulter – der sich in der Welt umgesehen hat, bedeutet die Ehe eigentlich etwas viel geheimnisvolleres als für euch junge Mädchen aus guter Familie. Ihr tretet uns rein und …. wenigstens bis zu einem gewissen Grad unwissend entgegen, und darum habt ihr eigentlich einen viel klareren Blick für das Wesen der Liebe als wir.
Die junge Frau (lachend): Oh!
Der Gatte: Gewiss. Denn wir sind ganz verwirrt und unsicher geworden durch die vielfachen Erlebnisse, die wir notgedrungen vor der Ehe durchzumachen haben. […] Uns wird das, was man so gemeinhin Liebe nennt, recht gründlich widerwärtig gemacht; denn was sind das schließlich für Geschöpfe, auf die wir angewiesen sind!
Die junge Frau: Ja, was sind das für Geschöpfe?
Der Gatte (küsst sie auf die Stirn): Sei froh, mein Kind, dass du nie einen Einblick in diese Verhältnisse erhalten hast. Es sind übrigens meist recht bedauernswerte Wesen – werfen wir keinen Stein auf sie.
Die junge Frau: Bitt‘ dich – dieses Mitleid – Das kommt mir da gar nicht recht angebracht vor.
Der Gatte (mit schöner Milde): Sie verdienen es. Ihr, die ihr junge Mädchen aus guter Familie wart, die ruhig unter Obhut euerer Eltern auf den Ehrenmann warten konntet, der euch zur Ehe begehrt; – ihr kennt ja das Elend nicht, das die meisten von diesen armen Geschöpfen der Sünde in die Arme treibt.
(Seite 82ff)

Der Gatte […]: […] Ich denke doch, dass es gerade für euch, anständige Frauen, nichts Widerwärtigeres geben kann, als alle diejenigen, die es nicht sind.
(Seite 85)

Der Gatte: Versprich mir etwas, Emma.
Die junge Frau: Nun.
Der Gatte: Dass du nie mit einer Frau verkehren wirst, bei der du auch den leisesten Verdacht hast, dass sie …… kein ganz tadelloses Leben führt.
(Seite 89)

 

Der Gatte und das süße Mädel

Das süße, neunzehnjährige Mädel wohnt noch mit ihren Geschwistern bei der Mutter. Jetzt sitzt es mit dem Ehebrecher Karl in einem Chambre separée des Riedhofs.

Das süße Mädel: Was machst denn? (Sie küsst seine Haare.) …. Du in dem Wein muss ‚was drin gewesen sein – so schläfrig …. du, was g’schieht denn, wenn ich nimmer aufsteh’n kann? Aber, aber, schau, aber Karl …. und wenn wer hereinkommt …. ich bitt‘ dich …. der Kellner.
Der Gatte: Da …. kommt sein Lebtag …. kein Kellner …. herein ….
– – – – – – – – – – – – – –
Das süße Mädel (lehnt mit geschlossenen Augen in der Divanecke)
(Seite 118)

 

Das süße Mädel und der Dichter

Das süße Mädel betritt mit dem Dichter Robert dessen Zimmer.

Der Dichter: Freilich bist du so dumm. Aber gerade darum hab‘ ich dich lieb. Ah, das ist so schön, wenn ihr dumm seid. Ich mein‘ in der Art wie du. (Seite 134)

Obwohl das süße Mädel versichert, gleich wieder fort zu müssen, lässt es sich überreden, Hut und Mantel abzulegen. Während es das Mieder auszieht, mahnt es den Dichter:

Aber du darfst deswegen nicht schlimm werden. (Seite 140)

 

Der Dichter und die Schauspielerin

Der Dichter betritt zusammen mit einer selbstbewussten Schauspielerin ein Zimmer in einem Gasthof auf dem Land. Nach einer Weile schickt sie ihn hinaus, und er geht vor dem Fenster spazieren, während sie sich entkleidet. Dann ruft sie ihn wieder herein, schlüpft ins Bett und fordert ihn auf, sich an den Bettrand zu setzen.

Schauspielerin: Nun, wem bist du in diesem Moment untreu?
Dichter: Ich bin es ja leider noch nicht.
(Seite 160)

 

Die Schauspielerin und der Graf

Der Graf macht der Schauspielerin, die noch im Bett liegt, einen Anstandsbesuch. Sie fordert ihn auf, sich etwas von ihr zu wünschen und ist enttäuscht, als er lediglich um die Erlaubnis bittet, am Abend nach der Theatervorstellung mit ihr zusammen sein zu dürfen. Er erläutert ihr, es sei nicht stilvoll, sich schon vor dem Frühstück zu lieben („aber Frauen wie du …. nimmt man nicht vor dem Frühstück zu sich“); er bevorzuge es, zuerst zu soupieren und sich in Stimmung zu versetzen.

Schauspielerin (zieht ihn an sich)
Graf: Es ist wirklich heiß.
Schauspielerin: Findest du? Und so dunkel, wie wenn’s Abend wär‘ ….. (reißt ihn an sich) Es ist Abend …. es ist Nacht …. Mach‘ die Augen zu, wenn’s dir zu licht ist. Komm! … Komm! ….
Graf (wehrt sich nicht mehr)
– – – – – – – – – – – – – –
Schauspielerin: Nun, wie ist das jetzt mit der Stimmung, du Poseur?
(Seite 190)

 

Der Graf und die Dirne

Morgens um 6 Uhr erwacht der Graf im Zimmer der Dirne Leocadia. So betrunken wie in dieser Nacht war er schon seit zehn Jahren nicht mehr: Er weiß zwar noch, wie er mit seinem Freund Lulu in das Hurenkaffeehaus hineinging, aber er kann sich nicht erinnern, wie er hierher gekommen ist. Jetzt will er schleunigst fort.

Graf: […] Also das ist doch das Höchste … ich bin bei so einer und hab‘ nichts getan, als ihr die Augen geküsst, weil sie mich an wen erinnert hat … (Seite 207)

Die Dirne erwacht und klärt ihn darüber auf, dass er nach dem Betreten des Zimmers zusammen mit ihr auf den Diwan hingefallen und nach dem Beischlaf sofort eingeschlafen sei.

Graf: […] Also … Es wär‘ doch schön gewesen, wenn ich sie nur auf die Augen geküsst hätt‘. Das wäre beinahe ein Abenteuer gewesen … Es war mir halt nicht bestimmt. […] (Seite 210)

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Fünf Männer und fünf Frauen, die einen repräsentativen Querschnitt durch die Wiener Gesellschaft der Jahrhundertwende bilden, begegnen sich paarweise in zehn Szenen. Die Reigenstruktur ergibt sich, weil jede der Figuren in zwei aufeinander folgenden Bildern auftritt – bis auf die Dirne, die in der ersten und in der letzten Szene eine Rolle spielt.

Eine Reihe von Gedankenstrichen (bzw. auf der Bühne ein Zwischenvorhang) markiert in jedem Bild den Geschlechtsverkehr, der also allenfalls in der Fantasie des Lesers stattfindet. Eine Ausnahme bildet die letzte Szene: Da liegt der Beischlaf bereits einige Stunden zurück.

Einer der beiden Partner verführt jeweils den anderen zum Koitus. Dann hat man es meistens eilig, fortzukommen. Vor allem die Dialoge „danach“ verraten, dass diese Menschen nur durch die sexuelle Begierde vorübergehend verbunden werden, nicht aber durch gegenseitiges Verständnis oder gar eine tiefer gehende menschliche Beziehung. Zugleich zeigt Arthur Schnitzler, wie die Wiener Gesellschaft um 1900 von den Privilegien und Vorurteilen der Männer geprägt ist.

Dass diese Komödie vor hundert Jahren als skandalös galt, können wir heute kaum noch nachvollziehen. Die Berliner Staatsanwaltschaft ließ die Buchausgabe am 16. März 1904 im Deutschen Reich verbieten. Am 23. Dezember 1920 brachte Gertrude Eysoldt das Stück „Reigen“ ungeachtet des nachmittags zugestellten Aufführungsverbots im Kleinen Schauspielhaus in Berlin erstmals vollständig auf die Bühne. Weitere Aufführungen folgten, wobei es am 16. Februar 1921 in Wien und am 22. Februar 1921 in Berlin zu Tumulten kam. Im September klagte die Berliner Staatsanwaltschaft die Direktion des Kleinen Schauspielhauses, den Regisseur und die Darsteller wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses an. Das Gerichtsverfahren endete am 18. November 1921 allerdings mit einem Freispruch. In der Urteilsbegründung heißt es treffend:

Die Sprache des Buches ist fein und leicht. Die Charaktere werden mit wenigen scharfen Strichen vorzüglich gezeichnet. Die dramatischen Verwicklungen sind mit psychologischer Feinheit entwickelt. Die Handlung wird in jedem Bilde bis unmittelbar vor den Beischlaf durchgeführt, der in dem Buche durch Gedankenstriche angedeutet wird. Darauf setzt die Handlung wieder ein, die die Wirkung des geschlechtlichen Rausches skizziert. Die geschlechtliche Beiwohnung selbst wird nicht beschrieben. Sie tritt vollkommen zurück, sie ist dem Dichter nur Mittel zum Zweck. (Seite 242)

In dieser „Rezension“ fehlt nur ein Hinweis auf die Ironie, die sehr zu dem Vergnügen beiträgt, dass man bei einer Aufführung oder auch beim Lesen der Komödie „Reigen“ empfindet.

Wegen der Polemik gegen „Reigen“ bat Arthur Schnitzler 1922 den S. Fischer Verlag, der die Rechte besaß, keine weiteren Theateraufführungen des Stücks mehr zu genehmigen. Dieses Aufführungsverbot wurde von Schnitzlers Sohn Heinrich über den Tod des Autors hinaus verlängert. Erst seit 1. Januar 1982 darf „Reigen“ wieder aufgeführt werden.

Max Ophüls verfilmte Arthur Schnitzlers Komödie 1950 („Der Reigen“; Drehbuch: Jacques Natanson; Kamera: Christian Matras; Darsteller: Adolf Wohlbrück, Simone Signoret, Danielle Darrieux, Jean-Louis Barrault u. a.)

Einen Nachdruck der Erstausgabe von 1903 legte der Deutsche Taschenbuch Verlag im Frühjahr 2004 vor, und zwar in seiner Reihe „Bibliothek der Erstausgaben“ mit Hinweisen auf die ursprüngliche Pagination und 35 Seiten Anhang (Arthur Schnitzlers Lebensdaten, Glossar, editorische Anmerkungen, Nachwort über „Reigen“).

Nach der Entdeckung der 370 Original-Manuskriptseiten von Arthur Schnitzler gab Gabrielle Rovagnati die Urfassung des „Reigen“ heraus (S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2004).

Arthur Schnitzlers „Reigen“ inspirierte Peter Morgan (Drehbuch) und Fernando Meirelles (Regie) zu dem Episodenfilm „360. Jede Begegnung hat Folgen“.

Der österreichische Komponist Bernhard Lang (* 1957) machte aus der literarischen Vorlage von Arthur Schnitzler eine avantgardistische Oper mit dem Titel „Re:igen“. Bei der Uraufführung im April 2014 am Hof- und Schlosstheater (Schwetzinger Festspiele) saß das Publikum auf der Bühne, während die Schauspieler sich im Parkett bewegten und Mitglieder des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR und der SWR Big Band in den Logen musizierten (Regie: Georges Delnon, musikalische Leitung: Rolf Gupta).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 / 2014
Textauszüge: © dtv

Arthur Schnitzler (Kurzbiografie)

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