Margriet de Moor : Die Verabredung

Die Verabredung
Originaltitel: Zee – Binnen Querido, Amsterdam 1999 Die Verabredung Übersetzung: Helga van Beuningen Carl Hanser Verlag, München / Wien 2000
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Vincent Lukas ist vierzig, glücklich verheiratet und Vater einer Tochter. Zufällig findet er einen Taschenkalender. Arglos und unachtsam blättert er darin, bis er seinen eigenen Namen liest und feststellt, dass die Besitzerin in drei Wochen einen Termin in seiner Tierarztpraxis hat. Obwohl er die Frau nicht kennt, denkt er an kaum noch etwas anderes ...
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Kritik

Margriet de Moor erzählt die Geschichte einer obsessiven Beziehung nicht chronologisch, sondern sie schichtet verschiedene Zeitebenen übereinander und springt im zweiten Teil häufig zwischen ihnen hin und her. "Die Verabredung" ist ein poetischer Roman in einer geschliffenen Sprache.
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Der Taschenkalender

Nennen wir es mal die Geschichte einer Straße. Die Welt besteht wahrhaftig nicht nur aus Geschöpfen mit Augen und Händen, das weiß jeder, weshalb also sollte die Hauptfigur einer Geschichte nicht auch eine Straße sein können? Blind, taub, wie wir annehmen, und ansonsten mit ein paar Eigenschaften behaftet, die uns entgehen? Ja, warum nicht?

So beginnt Margriet de Moors Roman „Die Verabredung“. Bei der Straße handelt es sich um die unfallträchtige Oude Zeestraat zwischen Zee und Binnen, in der Gegend von Katwijk und Noordwijk, die für Hyazinthenzüchtungen bekannt ist.

In einem kleinen Ort an dieser Straße steht eine Frau an einem Geldautomaten und sucht in ihrer Handtasche nach der Scheckkarte. Nachdem sie den gewünschten Betrag abgehoben hat und wieder auf die Straße hinausgegangen ist, fällt ihr Taschenkalender auf die regennasse Straße. Dort findet ihn Vincent Lukas in der Nacht, als er spazieren geht, weil er nicht schlafen kann.

Vincent Lukas ist vierzig Jahre alt und seit vierzehn Jahren glücklich verheiratet. Er und seine Frau Noor haben eine zehnjährige Tochter namens Sonja. Vincent arbeitet als Tierarzt. Drei Tag in der Woche operiert er in der Universitätshaustierklinik, und an den übrigen beiden Werktagen praktiziert er in seinem Haus, wo ihm Noor assistiert. Das tut sie seit dem Besuch seines nur knapp drei Jahre älteren Onkels Theodor, der ihn mit alten, teilweise erfundenen Frauengeschichten aufgezogen und Noor dadurch verunsichert hatte. Ohne es explizit ausgesprochen zu haben, besteht seither zwischen Vincent und Noor die Abmachung, „dass er sie sein Leben lang nicht betrügen würde“.

Achtlos blättert Vincent in dem nassen Taschenkalender. Plötzlich entdeckt er seinen eigenen Namen: Am 7. Mai um 9.30 Uhr, also in genau drei Wochen, hat die Unbekannte einen Termin bei ihm. Einige Tage später sucht er die von seiner Frau notierten Daten heraus: Es handelt sich um eine Frau Meeuwenoord, die sich mit ihrem gut ein Jahr alten Kater angemeldet hat.

Ohne mehr über die Frau zu wissen oder sie gesehen zu haben, weiß Vincent, „dass sie die geheime Flamme [ist], die es im Leben jedes Mannes gibt und der dann und wann einer, ein Glückspilz, auch in Wirklichkeit begegnet“. Er kann kaum noch an etwas anderes denken als an die Unbekannte.

Gemma

Endlich sieht er, wie sie mit seiner Frau in der Anmeldung spricht. Er behandelt ihren Kater gegen Katzenschnupfen. Später ruft er sie an, sie verabreden sich, treffen sich fast täglich, und seine Ausreden gegenüber Noor werden immer dreister.

Allmählich erfährt Vincent mehr über seine Geliebte. Gemma van Rijn war ein Nachkömmling. Sie hatte eine vierzehn Jahre ältere Schwester und einen zwölf Jahre älteren Bruder: Quirine und Laurens. Als sie sieben Jahre alt war, verunglückte ihr Bruder Laurens auf der Oude Zeestraat tödlich. Sechs Jahre später stürzte sich ihre Schwester Quirine, die sich kurz vorher von ihrem Verlobten getrennt hatte, vom Dach in den Tod. Mit siebzehn verlor sie zunächst ihren Vater. Er war eines der drei Todesopfer einer Enzephalitisepidemie. Auch Gemma wurde krank, aber sie überlebte. Als sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte, saß an ihrem Bett eine Tante, die sie kaum kannte und die ihr schließlich gestand, warum ihre Mutter nicht kam: „Mit nur noch einer Tochter, im Koma, hatte sie sich offenbar frei genug gefühlt, eine Handvoll Pillen mit ein paar ordentlich gefüllten Gläsern Kognak hinunterzuwürgen und sich dann in aller Ruhe hinzulegen“.

Im Jahr darauf veranstaltete die Tante ein Fest, bei dem Gemma den fünf Jahre älteren dritten Sohn der Blumenzüchterfamilie Meeuwenoord kennen lernte, den sie mit neunzehn heiratete. Das war vor zweiundzwanzig Jahren. Inzwischen haben sie zwei Kinder: die achtzehnjährige Tochter Quirine und den zwanzigjährigen Sohn Taco, die beide in Amsterdam studieren. Ihr Mann leitet die Vertriebsorganisation des Familienunternehmens und ist gerade dabei, in New York einen Versandhandel zu gründen.

Zwei Tage vor Weihnachten reist Gemma mit Sohn und Tochter zu ihrem Mann nach New York. Damit endet ihre Liebesaffäre mit Vincent wenige Tage bevor der Taschenkalender seine Aktualität verliert. Im Januar und Februar fällt Noor auf, dass ihr Mann wieder pünktlich nach Hause kommt und offenbar nicht mehr so häufig zu Notfällen gerufen wird.

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Margriet de Moor hat ihrem Roman „Die Verabredung“ ein Motto vorangestellt: „Denn, leben ist sehr gefährlich …“ (J. Guimarães Rosa). Immer wieder kommt sie auf die unfallträchtige Oude Zeestraat zwischen Zee und Binnen zu sprechen, und sie benennt sogar die Kapitel des 2. Teils nach Abschnitten auf dieser Straße: Der Kreisel; Scheunen, Wassergräben; Die S-Kurve; Die Kreuzung; Der Randstreifen. Auf dieser gefährlichen Straße rast Vincent Lukas acht Monate lang fast täglich zwischen seiner Familie und seiner Geliebten Gemma Meeuwenoord hin und her.

Doch zurück zum Ausgangspunkt: Vincent findet den Taschenkalender der ihm zu diesem Zeitpunkt noch völlig Unbekannten. Arglos und unachtsam blättert er darin, doch dieser kleine Zufall verändert sein Dasein. Drei Wochen lang denkt er kaum noch an etwas anderes als den Termin dieser Frau in seiner Tierarztpraxis. Die Kapitel dieses ersten Teils sind denn auch mit Daten vom 16. April bis zum 7. Mai überschrieben.

Im zweiten Teil von „Die Verabredung“ lassen sich Vincent und Gemma wie selbstverständlich auf eine Liebesaffäre ein. Statt jedoch die Schäferstündchen zu schildern oder Gemma differenzierter zu porträtieren, überlagert Margriet de Moor das Geschehen durch das tragische Ende der Familie van Rijn.

Im Epilog scheint Vincents Frau dem vor mehr als dreißig Jahren tödlich verunglückten Bruder seiner Geliebten zu begegnen, der seinen Hund am Strand ausführt und dann ins Auto steigt. Gleich darauf fährt Noor ebenfalls nach Hause und überlegt, was sie kochen soll. Mit den Worten „Oh, sei vorsichtig“, endet der Roman.

Margriet de Moor erzählt den zweiten Teil der Geschichte nicht chronologisch, sondern sie schichtet verschiedene Zeitebenen übereinander und springt häufig zwischen ihnen hin und her. Der Roman wird durchgehend in der dritten Person Singular erzählt, aber die Hauptfigur wechselt: im ersten Teil ist es Vincent, im zweiten Teil Gemma. „Die Verabredung“ ist ein poetischer Roman in einer geschliffenen Sprache, in dem die Autorin einige Bezüge bewusst im Unklaren lässt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Margriet de Moor (kurze Biografie / Bibliografie)

Margriet de Moor: Auf den ersten Blick / Schlaflose Nacht
Margriet de Moor: Bevorzugte Landschaft
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Margriet de Moor: Der Virtuose
Margriet de Moor: Kreutzersonate. Eine Liebesgeschichte
Margriet de Moor: Sturmflut
Margriet de Moor: Der Maler und das Mädchen
Margriet de Moor: Mélodie d’amour
Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen

Adriana Altaras - Die jüdische Souffleuse
Adriana Altaras hat den Kern ihres Romans "Die jüdische Souffleuse" – die Suche einer Jüdin nach Verwandten – in eine Rahmenhandlung eingebettet, die sie zwischendurch immer wieder aufgreift. Dabei geht es vor allem um ihre Erfahrungen als Opernregisseurin, also einen Blick hinter die Kulissen, den sie mit Aphorismen, Witz und Humor gespickt hat.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.