Margriet de Moor : Von Vögeln und Menschen

Von Vögeln und Menschen
Van vogels en mensen De Bezige Bij, Amsterdam 2016 Von Vögeln und Menschen Übersetzung: Helga van Beuningen Carl Hanser Verlag, München 2018 ISBN 978-3-446-25819-8, 263 Seiten ISBN 978-3-446-25942-3 (eBook) Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2019 ISBN 978-3-423-14731-6, 263 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nach fünf Tagen Haft und quälenden Vernehmungen gesteht Louise Bergman, einen Greis ermordet zu haben. Der Widerruf ihres Geständnisses hilft nichts: Sie wird wegen Totschlags verurteilt. Ihre zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alte Tochter Marie Lina rächt später die Mutter und stößt die tatsächliche Mörderin in eine Baugrube ...
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Kritik

Zwar handelt es sich bei zwei der drei Hauptfiguren um Mörderinnen, aber "Von Vögeln und Menschen" ist kein Kriminalroman. Margriet de Moor geht es weniger um Suspense, als um das Verhalten der Personen. Häufig bricht sie eine Szene abrupt ab. Die Leerstellen müssen die Leserinnen und Leser selbst füllen.
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Louise

Im Alter von 87 Jahren springt Bruno Mesdag noch beherzt in den Rhein, um einen Ertrinkenden zu retten. Er kann ihn zwar ans Ufer ziehen, aber die Reanimations-Bemühungen kommen für den dunkelhäutigen 18-Jährigen zu spät. Er ist tot.

Drei Jahre später treffen wir Bruno Mesdag in der Seniorenwohnung im Fischerdorf Katwijk an, in das er mit seiner Frau Marian gezogen war. Als 19-Jährige war Marian mit Bruno, dem Sohn eines Juweliers aus Den Haag, nach New York ausgewandert, wo er im Kunsthandel ein Vermögen machte. An ihrem 56. Geburtstag eröffnete Marian ihrem Mann, dass sie in die Niederlande zurückwolle, und er erfüllte ihr den Wunsch. Inzwischen ist sie gestorben.

Dreimal in der Woche kommt Louise Bergman zu Bruno Mesdag, um zu putzen. Die Tochter eines Hufschmieds ist mit einem Lastwagenfahrer verheiratet, der vorwiegend Touren nach Osteuropa durchführt. Die Tochter Marie Lina („Lineke“) ist neun Jahre alt. Die Familie wohnt in Rijnsburg, vier Kilometer östlich von Katwijk, wo Luise als Altenpflegerin für die Gemeinde tätig ist und außerdem ein paar private Arbeitsstellen hat.

Als Louise Bergman an einem Freitag nach der Arbeit bei Bruno Mesdag mit dem Aufzug nach unten fährt, wundert sie sich darüber, die Fußpflegerin zu sehen, die sie dem 90-Jährigen vermittelt hat. Klazien Wroude stünde erst am Dienstag auf dem Terminplan.

Am Montag wird Louise Bergman von der Polizei der Dienststelle Haaglanden festgenommen. Ihr Mann ist mit dem Lastwagen unterwegs. Um die neunjährige Tochter Marie Lina kümmert sich zunächst die Nachbarin Annie Stoop.

Nach fünf Tagen in Haft und wiederholten Vernehmungen gesteht Louise, es sei alles so gewesen, wie die beiden Kriminalbeamten van Altijd und Rood annehmen. Sie habe Bruno Mesdag ermordet. Sie behauptet zunächst, ihn mit ihren Händen erwürgt zu haben, aber als sie an den Gesichtern der beiden Männer abliest, dass es nicht so gewesen sein kann, redet sie von einem Ledergürtel – und dann von ihrem Schal. Das wird akzeptiert, stellt Louise erleichtert fest.

Man bringt sie zum Untersuchungsrichter, aber als dieser ihr unterschriebenes Geständnis vorliest, unterbricht sie ihn und widerruft ihre Aussage. Sie sei unschuldig, erklärt sie. Aber van Altijd und Rood bringen sie noch am selben Abend dazu, ihren Widerruf zurückzunehmen. Das Gericht verurteilt Louise Bergman wegen Totschlags zu sechs Jahren Haft.

Ihre Tochter Marie Lina wird von Verwandten am Rand von ’s-Hertogenbosch aufgenommen. Ein Jahr nach der Verhaftung ihrer Mutter erfährt sie, dass die Eltern sich scheiden lassen.

Das Haus in Rijnsburg wird abgerissen. Marie Linas Vater zieht mit einer Rumänin in eine Wohnung in Den Haag und gibt die weiten Fahrten auf. Die Tochter holt er zu sich.

Ihre Mutter kommt wegen guter Führung und unter Anrechnung der Untersuchungshaft nach viereinhalb Jahren frei. Louises Kampf um eine Rehabilitierung endet zwar mit einem Freispruch durch den Obersten Gerichtshof – aber lediglich wegen Mangels an Beweisen.

Marie Lina absolviert nach dem Schulabschluss eine Schwesternausbildung im Elisabeth-Krankenhaus in Leiden.

Rinus

Der in Leiden wohnende ehemalige Schiffsarzt Paul Caspers hat drei Söhne: Willem ist angehender Zahnarzt, Eddy studiert Mathematik und Astronomie, und der Jüngste, Rinus, will Gärtner werden. Nach dem Examen am Leidener Realgymnasium stellt der schüchterne 18-Jährige den Eltern seine neue Freundin vor, eine aus Curaçao stammende Schönheit. Sie heißt Hortense Buenternera und wohnt bei einer Tante in Warmond, nördlich von Leiden. Paul Caspers, der gern eine Tochter gehabt hätte, schätzt Hortense sehr.

Aber als Rinus das Haus verlässt, um an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Wageningen zu studieren, ist es zwischen ihm und Hortense bereits wieder aus. Statt ihn heiratet sie seinen drei Jahre älteren Bruder Eddy. Im dritten Ehejahr zeugt Eddy einen Jungen, allerdings mit einer anderen Frau, und Hortense lässt sich von ihm scheiden. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet Rinus bereits als Gärtner auf dem Landgut Seewout bei Haarlem. Willem, sein inzwischen 29 Jahre alter als Kieferorthopäde in Leiden praktizierender Bruder wird Hortenses zweiter Ehemann.

Rinus heiratet schließlich die Krankenschwester Marie Lina Bergman. Dass deren Mutter Luise Bergman als Mörderin verurteilt wurde, weiß er. Das Paar zieht in das Dorf Schalkwijk. Rinus arbeitet als Vogelvertreiber am zehn Kilometer entfernten Flughafen.

Marie Lina

Als Olivier, der Sohn von Marie Lina und Rinus, acht Jahre alt ist, erinnert sich seine Großmutter Louise plötzlich daran, dass sie am Tag von Bruno Mesdags Ermordung die Fußpflegerin Klazien Wroude sah, die augenscheinlich auf dem Weg zu dem 90-Jährigen war, obwohl der sie an diesem Tag nicht erwartete. Das hat Louise bis dahin verdrängt. Nun redet sie mit ihrer Tochter darüber und nennt auch den Namen der anderen Frau: Klazien Wroude.

Zwei Jahre später stirbt Louise.

Marie Lina, die auf der Intensivstation des Diakonissenhauses in Haarlem arbeitet, lässt das Bekenntnis nicht mehr los. Sie findet heraus, wo Klazien Wroude wohnt und geht mehrmals dort in Katwijk vorbei. Sie wird ihre Mutter rächen, die für einen Mord im Gefängnis saß, den eine andere Frau begangen hatte.

Der Sohn Olivier ist elf Jahre alt, als Marie Lina in Schalkwijk verhaftet wird.

Vor der U-Bahn-Baugrube am Hauptbahnhof in Amsterdam kämpfte sie wie eine Furie mit einer Rentnerin, bis diese schließlich in die Tiefe stürzte und starb.

Vor Gericht gesteht Marie Lina Caspers, geborene Bergman, dass sie Klazien Wroude in die Baugrube stieß. Einspruch erhebt sie nur gegen das Urteil: Drei Jahre Gefängnis wegen Totschlags. Es sei vorsätzlicher Mord gewesen, erklärt sie.

Während sie ihre Haftstrafe in der Strafanstalt für Frauen in Zwolle verbüßt, unterstützt Hortense Caspers ihren Schwager Rinus bei der Erziehung ihres Neffen Olivier.

Ihr Ehemann Willem lebt seit zwei Jahren in Südamerika, schickt allerdings regelmäßig Geld.

Klazien

Als Klazien Wroude 15 Jahre alt ist, kommt ihre Mutter mit einer schweren postnatalen Depression in die Sint-Bavo-Klinik in Noordwijkerhout – und kein Erwachsener kümmert sich um den vier Wochen alten Säugling, auch nicht der Erzeuger, ein Vorarbeiter bei der Gartenbaufirma Slats in Wassenaar, der von Klazien erwartet, dass sie für ihren kleinen Bruder Jan („Jannert“) sorgt und meint: „Die werden in der Schule schon merken, dass du heute nicht kommst.“

Er war ihr Kind. […] Denn als die Mutter nach fast drei Jahren Hin und Her – mal ein Wochenende zu Hause, mal eine Woche oder mehrere – für immer zurückkehrte, war der kleine Bursche endgültig von der Mutter auf sie übergegangen.
Liebe gab es nicht zwischen ihnen.

Jannert schafft keinen Schulabschluss. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, wird Kleinkrimineller, wohnt bei seiner Schwester – und schläft mit ihr.

Im Alter von 21 Jahren will er mit einem Kumpel eine Schreinerei mit Reparaturbetrieb gründen. Dafür benötigen die beiden ein Startkapital. Klazien, die als Fußpflegerin tätig ist, hat eine Idee, wie sie Jannert helfen kann: Bruno Mesdag ist ein alter alleinstehender Herr mit einem Haufen Geld auf der Bank. Niemand wird es schaden, wenn sie ihm ein bisschen davon raubt.

Unter einem Vorwand sucht sie ihn außer der Reihe auf, und während er nach den Einlegesohlen sucht, die sie angeblich anpassen lassen will, öffnet sie seinen Sekretär und trennt drei Formulare aus dem Scheckheft. Dann greift sie nach seiner Brieftasche. Plötzlich steht er in der Tür. Klazien kann die Tat nicht mehr vertuschen. Sie versetzt dem 90-Jährigen einen Stoß. Bruno Mesdag stürzt und schlägt mit dem Schädel auf. Um sicherzugehen, dass er tot ist, nimmt Klazien ihren Schal ab, schlingt ihn um seinen Hals und zieht kräftig zu.

Sie hinterlässt Spuren, die jedoch später von der Polizei in Haaglanden nicht weiter untersucht werden, weil der Mordfall rasch durch ein Geständnis gelöst werden kann.

Epilog

Paul Caspers schreibt seinem Sohn Willem nach Südamerika, es werde Zeit, dass er zurückkomme und teilt ihm mit, dass er unheilbar an Prostatakrebs erkrankt sei.

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Zwar handelt es sich bei zwei der drei Hauptfiguren um Mörderinnen, aber „Von Vögeln und Menschen“ ist kein Kriminalroman. Margriet de Moor geht es weniger um Suspense, als um das Verhalten der Personen. Das schildert sie aus wechselnden Perspektiven. Dabei leuchtet sie die Charaktere jedoch nicht bis in die Tiefe aus, sondern lässt vieles offen. Häufig bricht sie eine Szene abrupt ab und fährt dann nach einer literarischen Ellipse fort. Die Leerstellen müssen die Leserinnen und Leser selbst füllen.

Wie kriegt man eine Frau dazu, einen Mord zu gestehen, den sie gar nicht begangen hat? Und was geschieht mit ihrem Widerruf des Geständnisses? In diesem Zusammenhang prangert Margriet de Moor in ihrem Roman „Von Vögeln und Menschen“ die Verantwortungslosigkeit an, mit der Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht hier ihren Aufgaben nachgehen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Margriet de Moor (kurze Biografie / Bibliografie)

Margriet de Moor: Auf den ersten Blick / Schlaflose Nacht
Margriet de Moor: Erst grau dann weiß dann blau
Margriet de Moor: Bevorzugte Landschaft
Margriet de Moor: Der Virtuose
Margriet de Moor: Die Verabredung
Margriet de Moor: Kreutzersonate. Eine Liebesgeschichte
Margriet de Moor: Sturmflut
Margriet de Moor: Der Maler und das Mädchen
Margriet de Moor: Mélodie d’amour

Juli Zeh - Corpus Delicti
"Corpus Delicti" ist eine Dystopie, ein ebenso kluges wie faszinierendes Gedankenexperiment von Juli Zeh, in dem sie sich vorstellt, was in naher Zukunft aus bereits bestehenden Tendenzen werden könnte: ein utilitaristischer Überwachungsstaat.
Corpus Delicti