Margriet de Moor : Der Virtuose

Der Virtuose
Originalausgabe: De virtuoos, 1993 Der Virtuose Übersetzung: Helga van Beuningen Carl Hanser Verlag, München 1994 dtv, München 1997 ISBN 978-3-423-12330-3 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 53, München 2007, 155 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Carlotta, die Anfang des 18. Jahrhunderts als Tochter eines verarmten Aristokraten in Süditalien aufwächst, begeistert sich schon als Kind für den Gesang des ein Jahr älteren Gasparo Conti, der jedoch mit elf aus dem Dorf verschwindet. Im Alter von 27 Jahren entdeckt ihn Carlotta – sie ist inzwischen die Frau eines Herzogs – auf der Bühne des Teatro San Carlo in Neapel wieder: Gasparo Conti ist inzwischen ein gefeierter Kastrat. Für eine Opernsaison wird er Carlottas Geliebter ...
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Kritik

In dem Roman "Der Virtuose" ist nicht die Handlung, sondern die Komposition entscheidend. Margriet de Moor ist es gelungen, Musik und Erotik zu verschmelzen. "Der Virtuose" ist ein ausgesprochen sinnliches Buch.
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Eines Tages verschwand ein Junge aus unserem Dorf. Gasparo Conti hatte ein blasses Kindergesicht, er war mollig, aber so graziös wie eine Schilfrispe, und wenn er barfuß mit einem gegabelten Ast in der Hand die kleinen abgelegenen Wege hinter dem Dorf entlangrannte, klang seine Stimme, sein Rufen so schrill wie die jedes anderen kampanischen Jungen. (Seite 5)

Mit diesen Worten beginnt Margriet de Moor ihren Roman „Der Virtuose“.

Gasparo Conti ist zum Zeitpunkt seines Verschwindens aus Croce de Carmine elf, ein Jahr älter als die Ich-Erzählerin Carlotta, die den Sänger schon als Kind bewunderte, wenn er in der Dorfkirche als erster Sopran zu hören war.

Überrascht lauschte ich dem leisen Einsatz, dem langen Ton und dem Crescendo, das sich wie ein straffes Seidenband spannte. Was war das? War das Kirchengewölbe zu eng? […]
Ich schloss die Augen und dachte: O welche Unruhe! Welches Verlangen! Ich bin glücklich.
War das, schon damals, Verliebtheit? (Seite 13)

Carlottas Vater Paolo Caetani kämpfte im Spanischen Erbfolgekrieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit einer von ihm selbst besoldeten Hundertschaft für König Philipp V., den Begründer der Bourbonen-Dynastie in Spanien, denn Neapel war seit 1503 ein Vizekönigreich von Aragon. Doch als er nach einem Jahr aus dem Krieg zurückkehrte, hatte Philipps Rivale, der Habsburger Karl VI., Neapel erobert. Wie andere Barone auch, wurde Paolo auf sein Landgut verbannt. Dort, in Croce de Carmine, brachte seine zweite Ehefrau Gisella eine Tochter zur Welt: Carlotta. Drei Jahre später starb Gisella. Paolo verfiel daraufhin der Spielsucht und verlor sein Vermögen. Carlottas sieben Jahre ältere Stiefschwester aus der ersten Ehe des Vaters, Angelica Margherita, zog als Jugendliche fort zu einer Tante in Neapel.

Animiert durch das Fehlen einer Mutter und die Zerstreutheit ihres Vaters, reiste sie an einem Palmsonntag nach Neapel zu einer jungen Tante, die Schönheit und Lust zu ihrem Lebensprinzip erhoben hatte. Nach einem Jahr begriff mein Vater, dass er sich die Miftgift sparen konnte. (Seite 9)

1735 vertrieb Philipps Sohn Karl III. die Habsburger aus Neapel und stellte dort die Herrschaft der spanischen Bourbonen wieder her. Nun hätte Carlottas Vater aus der Verbannung zurückkehren können, doch er wurde krank und starb.

Carlotta war als Fünfzehnjährige mit dem vierzig Jahre alten Herzog Berto von Rocca d’Evandro verheiratet worden. In den ersten Ehejahren kam sie mit zwei Töchtern nieder. In der Hoffnung auf einen Sohn führte Berto, der viel unterwegs war und sich lieber mit Knaben als mit seiner Frau verlustierte, Carlotta den Aristokraten Rodolphe, Marquis von Sceaux, Graf von Maillebois, als Liebhaber zu. Und nach dem Tod ihres Vaters forderte er die inzwischen Siebenundzwanzigjährige auf, in Begleitung des zwei Jahre jüngeren Franzosen und ihres früheren Kindermädchens Faustina Maria Delle Papozze eine Opernsaison in Neapel zu verbringen.

Am ersten Abend im Teatro San Carlo bestaunt Carlotta einen virtuosen Kastraten auf der Bühne und erkennt in ihm Gasparo Conti wieder. Es gelingt ihr, sich ihm vorzustellen und ihm zu sagen, dass sie ebenfalls in Croce de Carmine aufwuchs und ihn bereits als Kind bewunderte.

Gasparo erzählt Carlotta, man habe ihn im Alter von elf Jahren nach Norcia gebracht und dort kastriert. Sieben Jahre verbrachte er danach in einem Waisenhaus und studierte Gesang. Mit achtzehn debütierte er auf der Bühne in Neapel. Das nächste Engagement erhielt er am Teatro Argentina in Rom, wo man ihm bereits neben einer großzügigen Gage eine Wohnung, einen Diener und eine Kutsche zur Verfügung stellte. Inzwischen hat er an allen großen Opernhäusern in Europa gesungen, beispielsweise in Wien, Paris und London.

Nach der Rückkehr von einem Gastspiel in Genua lässt Gasparo sich von Carlotta verführen und geht mit ihr ins Bett. Die Liebesaffäre der beiden wird bald zum Stadtgespräch.

Er hat keinen Frauenkörper. Seine Haut mag zwar wie Samt sein und die Brustwarzen etwas erhaben, doch unter dem feingekräuselten Schamhar liegt, anfänglich fast ganz verborgen, ein kraftloses, cremeweißes Geschlecht, es hebt sich kaum von Skrotum ab, das in meiner gewölbten Hand so fest und dick ist, dass man fast vergessen könnte, dass da etwas völlig fehlt. Ich küsse, ich tue, ich sterbe vor Liebe, das Knabenglied wird unverkennbar größer. (Seite 58)

Sein Orgasmus war oberflächlich. Auf dem Höhepunkt der Liebe hielt er den Atem kurz an, in mir fühlte ich nur ein kleines, kurzes Beben, an meinem Ohr einen Seufzer. Matte Befriedigung. Kein Samen. Keine Feuchtigkeit außer meiner eigenen. (Seite 77)

Erotik und Musikgenuss verbinden sich für Carlotta zu einem rauschhaften Glücksempfinden. Aber es ist nicht von Dauer. Gasparo verliebt sich in seinen begabtesten Gesangsschüler Giuseppe und folgt ihm am Ende der Saison nach Rom. Carlotta begleitet Gasparo in der Kutsche, aber in Rom muss sie endgültig Abschied von ihm nehmen und allein auf das Landgut ihres Ehemanns zurückkehren. Dort bringt sie einige Monate später einen Sohn zur Welt. Ihre älteste Tochter ist zu diesem Zeitpunkt schon dreizehn Jahre alt. Bald darauf kommt der Herzog von Rocca d’Evandro bei einem Reitunfall ums Leben.

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In dem Roman „Der Virtuose“ ist nicht die Handlung, sondern die Komposition entscheidend. Margriet de Moor erzählt mit Vor- und Rückblenden. Und in die tagebuchähnlichen Schilderungen der Ich-Erzählerin Carlotta fügt sie (zwischen dem 5. und 6. Kapitel) ein „Intermezzo“ in der dritten Person über Carlottas Kindermädchen Faustina Maria Delle Papozze ein, das die Vorgeschichte aus einer anderen Perspektive erhellt. Ohne überflüssige Worte führt uns Margriet de Moor in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts und zeigt uns die Welt eines gefeierten Kastraten. Dabei ist es ihr gelungen, Musik und Erotik zu verschmelzen. „Der Virtuose“ ist ein ausgesprochen sinnliches Buch.

Der Autorin ging es […] um den Eros des Gesangs, den Reiz des Androgynen und die musikalische Seite der Literatur. Mit einer wollüstig klangsinnlichen und dekorverliebten, doch unverhohlen heutigen Prosa hat Margriet de Moor diese historisch-erotische Fantasie orchestriert. Ihre Beschreibungskunst ist virtuos, auch wenn sie nur Kulissen errichtet: ihre Erzählung kann bezaubern wie eine barocke Arie, auch wenn sie nichts Gewichtigeres hervorbringt als Arabeske, Schnörkel und Ornament. (Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung, 5. Mai 2007)

Die Figur des Gasparo Conti weist einige Übereinstimmungen mit der Biografie von Caffarelli (1710 – 1783) auf, einem der berühmtesten Kastraten des 18. Jahrhunderts.

Margriet de Moor (*1941) stammt aus Noordwijk. Mit siebzehn fing sie an, in Den Haag Gesang und Klavier zu studieren. Nach einer Karriere als Konzertsängerin und Klavierlehrerin begann sie das Studium der Architektur und Kunstgeschichte. Im Alter von 45 Jahren wandte sie sich dem Schreiben zu. Ihr Debütroman „Erst grau dann weiß dann blau“ erschien 1991.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Kastrat
Caffarelli (Kurzbiografie)

Margriet de Moor (kurze Biografie / Bibliografie)
Margriet de Moor: Auf den ersten Blick / Schlaflose Nacht
Margriet de Moor: Bevorzugte Landschaft
Margriet de Moor: Erst grau dann weiß dann blau
Margriet de Moor: Die Verabredung
Margriet de Moor: Kreutzersonate. Eine Liebesgeschichte
Margriet de Moor: Sturmflut
Margriet de Moor: Der Maler und das Mädchen
Margriet de Moor: Mélodie d’amour
Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.