Martin Mosebach : Taube und Wildente

Taube und Wildente
Taube und Wildente Originalausgabe dtv Verlagsgesellschaft, München 2022 ISBN 978-3-423-28000-6, 336 Seiten ISBN 978-3-423-40000-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Frankfurter Verleger Ruprecht Dalandt verbringt den Sommer mit der Familie, dem Geschäftsführer und der Lektorin in der Provence. Dort fällt ihm das Ölgemälde "Taube und Wildente" auf, und um es mit nach Deutschland nehmen zu können, veruntreut er die Fördermittel für ein Buchprojekt ...
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Kritik

Schonungslos zeigt uns Martin Mosebach das moralisch verkommene Bildungsbürgertum und die feudale Haltung Neureicher gegenüber Bediensteten. "Taube und Wildente" ist ein literarisches Gemälde in geschliffener Sprache und ein subtiles ästhetisches Erlebnis.
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Sommer

Die Familie des 66 Jahre alten Verlegers Ruprecht Dalandt und seiner Ehefrau Marjorie verbringt auch diesen Sommer wieder auf einem Anwesen in La Chaumière in der Provence mit Blick auf den Mont St. Victoire, das Marjories vor zwölf Jahren im Alter von 96 Jahren gestorbener Vater Cornelius De Kesel in den Vierzigerjahren erworben hatte.

„Mein Vater suchte das einfache Leben. Er hatte das Schloss in der Nähe von Brüssel verkauft und sich ganz auf das Haus hier konzentriert.“

Cornelius De Kesel war der Sohn von Job De Kesel, des Verwaltungsratsvorsitzenden der Association internationale du Caoutchouc en Congo, der mit Bergwerken im Kongo ein Vermögen angehäuft hatte. Die wirklich wertvollen Gemälde aus dem Landhaus hat Cornelius De Kesel dem Museum von Antwerpen vermacht, und das Anwesen gehört nun einer Familienstiftung, aber Marjorie und ihre in Kalifornien lebende Schwester Elinor haben ein Nutzungsrecht. In seinem Testament bestimmte der Erblasser auch, dass weder dem im Pförtnerhaus wohnenden britischen Verwalter Damien Devereux, noch dem portugiesischen Ehepaar Anna und João dos Santos gekündigt werden darf.

Cornelius De Kesel war nun schon zwölf Jahre tot, aber in La Chaumière noch durch seine Statthalter auf Erden anwesend, das Ehepaar dos Santos, von der Algarve stammend, doch seit langem wie Hunderttausende ihrer Landsleute in Frankreich zu Hause: João zunächst als Maurer, Anna in Haushalten arbeitend, bis sie gemeinsam die Sorge für den damals fünfundsechzigjährigen De Kesel übernommen hatten, Anna von da an als Köchin, João als Gärtner; das war eine willkommene Rückkehr zur Landwirtschaft, die ihm von Jugend auf vertraut war. Außerdem bediente er bei Tisch.

[Cornelius De Kesel] hatte seiner Tochter in einem besonderen Legat aufgetragen, den dos Santos’ niemals zu kündigen, als handele es sich bei dem Paar um die Vasallen eines Feudalherrn.

Marjorie De Kesel machte ihren MBA in Harvard und wurde dann die Ehefrau des aus einer wohlhabenden algerischen Familie stammenden Anwalts und Galeristen Toufik Bennis. Vor zwölf Jahren, zwei Jahre nach Toufiks Tod heiratete sie den Verleger Ruprecht Dalandt, dessen erste Ehe geschieden worden war.

Die Ehe mit Toufik war eine Jungmädchenbegeisterung, gern auch Torheit gewesen […]. Die Verbindung mit Ruprecht war eine Vernunftehe, was in der Anfangsphase Vergnügen im Bett nicht ausgeschlossen hatte.

Mit zur in Chaumière versammelten Familie gehören Paula, die 23-jährige Tochter von Marjorie und Toufik, Max, ihr zehn Jahre älterer Lebensgefährte seit zwei Jahren, ein Pianist mit drei abgebrochenen Studiengängen, und die sechsjährige Tochter Nike.

Max ist kein schlechter Kerl, nicht sehr schlau, nicht sehr begabt, aber er hat Geduld mit mir und wird mich nie verlassen.

Wer Nikes leiblicher Vater ist, wissen die Großeltern nicht.

[Paula] hatte [Max] die Zeit geschildert, als sie das Kind erwartete, diese turbulenten Monate. „Selbstverständlich musste ich das Internat in Vermont verlassen“ […] Immer neue Verhöre habe man zu Hause mit ihr angestellt, auf die schiefe und gemeine Tour, stets aufs neue scheinbar beiläufig darauf zurückkommend […].
„Wir müssen aus reiner Vorsicht wissen, wer der Vater ist. Nike ist eine Erbin – nicht nur von mir, auch von deiner Seite, das Bennis-Vermögen. Da könnten Ansprüche entstehen, möglicherweise zu einem unwillkommenen Zeitpunkt, da muss man vorsorgen. Unsere Anwälte müssen sich den Kerl vorknöpfen, die entsprechenden Verzichtsurkunden müssen her. Es geht nicht immer nur um dich, meine Liebe, es geht auch um deine Tochter …“
Solche vernünftigen Vorhaltungen hatten Paulas Zorn hervorgerufen […].
Marjorie könne beruhigt sein. Der Mann, der Nike gezeugt habe, werde niemals Ansprüche welcher Art auch immer erheben.

Den Kleinverlag Papyros Press in Frankfurt gründete Ruprecht Dalandt bereits vor der Eheschließung.

Papyros hatte in den Jahren, trotz andauernder finanzieller Knappheit und eines überschaubaren Programms, beträchtlich an Prestige gewonnen. Er war zu einem »schönen Verlag« geworden, sogar zu einem der „letzten richtigen Verlage“, geleitet von „einer der wenigen verbliebenen Verlegerpersönlichkeiten alten Schlags“. Papyros war mehr als nur ein Verlag, er war zu einer Marke geworden.

Diesen Sommer verbringen Sieglinde Stiegle und Fritz Allmendinger mit der Verlegerfamilie in Chaumière, die neue Lektorin und „der Mann der Zahlen und des Vertriebs“. Und zu den Besuchern auf dem Landgut gehört seit Jahrzehnten der Chirurg Jean-Pierre („Schampir“) Schlesinger.

Ruprecht Dalandt schreibt in seinem „Provenzalischen Journal“:

Unser Mittagessen eben, wie wir da um den Tisch herum saßen und Anna die Platte mit den Hühnerbeinen hereinbrachte – verheißungsvoll lächelnd, als präsentierte sie eine Überraschung (wie ich das hasse!), und João mit den weißen Handschuhen und der Karaffe mit dem billigsten Wein der Kooperative. Und dann wir: Marjorie mit ihrem auftrumpfenden Damengeschwätz, die Stiegle lauernd und verschlossen, Allmendinger, der vor Ressentiment kaum schlucken kann, Paula, meinem Blick ausweichend, Max, den sensiblen Künstler hervorkehrend, Damien mit seiner selbstgenügsamen Arroganz und ich, hinter falschem Lächeln verbergend, dass ich am liebsten davonlaufen würde – schreckliche Menschen, ungenießbares Essen. Und jetzt das Ganze von fern gesehen, ohne Ton oder die Gespräche nur als Geräusch. Welch harmonischer und geschmackvoller Anblick: das Fayence-Geschirr von Cornelius De Kesel, der dunkle Wein in den grauen Kristallgläsern, die Menschen (keine Schönheiten, aber doch Köpfe), der gedeckte Tisch unter den schwarzen Deckenbalken, das südliche, von den Fensterläden gefilterte Licht – ein schönes, gar beglückendes Bild einer heiteren kultivierten Welt, das manchen Betrachter mit dem Wunsch erfüllen könnte: Da säße ich auch gern, es muss etwas Ungewöhnliches sein, was hier besprochen wird.
Ja, und was ist nun die Wahrheit? Was ist von größerem Gewicht? Das aus einigem Abstand gesehene Bild – das doch auch eine Realität ist, gerade für Augenmenschen wie mich – oder, aus der Nähe gesehen, die Heillosigkeit und Niedertracht am Tisch? Nein, nein – nichts da von inneren Werten oder innerer Bosheit, auf die allein es angeblich ankomme: Nein und noch mal nein. Der reine Anblick hat sein eigenes Recht – die Tragödie ist nur, dass dieses Recht stumm ist und die tönende Dummheit sich immer vordrängt.

60.000 Euro

Während Marjorie morgens im durchsichtigen Negligé zum Pförtnerhaus geht und zu Damien Devereux ins Bett schlüpft, hat ihr Ehemann Ruprecht Dalandt ein heimliches Verhältnis mit seiner Stieftochter Paula, die einmal zu ihm sagt:

„Du würdest dich nicht von der Mutter trennen, um die Tochter zu heiraten. Du bist zwar hemmungslos, im Traum jedenfalls, aber zugleich bist du konventionell.“

Der Verwalter drängt Marjorie, das undichte Dach reparieren zu lassen, bevor der Schaden noch größer wird. Die Kosten veranschlagt er mit 60.000 Euro. Weil Marjorie nicht über so viel Geld verfügt, rät Damien ihr, eines der Gemälde zu verkaufen.

„Dann könntest du bis an dein Lebensende Dächer reparieren.“

Obwohl Reparaturen von De Kesels Töchtern bezahlt werden müssen, gehört alles der Stiftung, und die vorhandenen Kunstwerke sind akribisch aufgelistet. Aber Damien, der in seiner Freizeit selbst malt, spielt mit dem Gedanken, zum Beispiel einen kleinen Cézanne zu kopieren, damit die Veruntreuung nicht auffällt.

In diesem Sommer beschäftigt sich Ruprecht Dalandt mit dem Gemälde „Taube und Wildente“, einer Naturfantasie von Otto Scholderer.

Plötzlich erkannte er die Achse, um die das Bild kreiste, das Schlüsselloch, durch welches es sich aufschließen ließ. Mitten auf dem blaugrauen, nach unten hängenden Taubenkopf auf dem Schnabel ein zinnoberroter Punkt, die einzige kräftige Buntfarbe in dem ganzen Gemälde, zugleich eine Farbe, die nichts mit Naturbeobachtung zu tun hatte […].
Dieser rote Punkt war ein Zeugnis des Genies. Die getötete Natur empfing von hier aus ein neues, verändertes Leben. Ruprecht kannte nichts weiter von dem Maler, aber er war davon überzeugt, dass der so etwas wie den zinnoberroten Punkt noch niemals vorher gewagt hatte, und es war wohl ein Alterswerk. Die Präzision, mit welcher der Zinnober gesetzt war, hatte nichts von einer Augenblickslaune, von Künstlerwillkür. Eine vollendet ausgeführte Komposition an einer zentralen Stelle zu durchbrechen, das mochte einer blitzartigen Eingebung entstammen, war jedoch in ein langes Malerleben eingebettet, in dem sich die Bereitschaft dazu vorbereitet hatte. Wie eine kühne, vorher nie vernommene Gedichtzeile, wie ein noch nie vorher gespielter Akkord in einem Quartett war der rote Punkt ein Ereignis, in dem die Tradition das Neue aus sich heraus gebar.

Gerade weil ihr Mann von „Taube und Wildente“ schwärmt, denkt Marjorie, dass sie für das von ihrem Vater 1905 in der Kunsthandlung Durand-Ruel in London erworbene Gemälde die 60.000 Euro bekommen könnte, die sie für die Dachreparatur benötigt. Als sie ankündigt, es einem deutschen Auktionshaus anzubieten, erschrickt Ruprecht Dalandt und beeilt sich, ihr zu erklären, dass er das Kunstwerk übernehmen wolle. Marjorie weist ihn darauf hin, dass er keinen Rabatt erwarten könne, aber er hat damit auch gar nicht gerechnet und beabsichtigt, die bereits ausgezahlten Fördergelder für eine große Leontjew-Ausgabe – 60.000 Euro – für den Kauf des Gemäldes zu verwenden.

Bevor er mit Paula und Nike sowie „Taube und Wildente“ im Gepäck nach Deutschland zurückreist, wirft er das unfertige Manuskript eines Dante-Essays, an dem er arbeitete, in den Papierkorb. Paula hat sich von Max getrennt, und Marjorie bleibt in Chaumière, um mit Damien die Reparatur des Daches zu organisieren.

Winter

Paula zieht mit Nike bei ihrem Stiefvater ein. Dessen Haushalt wird seit langem von Frau Petulic geführt. Um „Taube und Wildente“ aufhängen zu können, lässt Ruprecht Dalandt die pompejanisch rote Wand zunächst hellgrau streichen und später mit grauem Samt bespannen.

In Chaumière ertappt Anna dos Santos die Hausherrin, als diese mit dem Haar des Verwalters spielt. Das wird ihr und ihrem Mann zum Verhängnis: Marjorie kann das Paar zwar nicht selbst hinauswerfen, weil die beiden Angestellte der Stiftung sind, aber sie telefoniert mit Dr. Tobler, dem Stiftungsvorstand, und überzeugt ihn, dass ein weiterer Verbleib der angeblich dementen alten Leute ein Sicherheitsrisiko wäre.

[…] mehrfach habe Anna in den letzten Wochen den Herd nicht abgestellt, bis dichter Qualm über dem ganzen Garten gelegen habe.

Dr. Tobler kam die Entlassung darüber hinaus gelegen. Neues Personal stünde nicht mehr in Diensten der Stiftung, wie aus allen Urkunden fraglos hervorging, sondern wäre von den Schwestern De Kesel zu bezahlen. Das hatte Marjorie sich nicht klargemacht, und Dr. Tobler hütete sich, es anzusprechen.

Marjorie und Damien bleiben allein zurück. Der Verwalter weigert sich, ins Haupthaus umzuziehen, isst aber mit seiner Geliebten in der Küche.

Er öffnete eine Sardinendose, tat Pfeffer und etwas Essig darüber und aß die Fische, ohne sie auf einen Teller zu tun, von Marjorie dabei betrachtet. Den Aufwand reduzieren, das war eine verheißungsvolle Option.

Es dauerte nur eine Woche, bis in den Wohnräumen überall etwas herumlag, benutzte Gläser stehenblieben, der Eisschrank geleert, die Aschenbecher voll waren und alte Weinflaschen auf dem Boden standen.

Als Marjorie im Herbst darauf hinweist, dass das Geld für die Dachreparatur verfügbar sei und man damit anfangen könne, behauptet Damien, seine Mutter sei vor zwei Tagen gestorben und seine Schwester Winifred habe ihm ihren Erbanteil am Elternhaus angeboten ‒ für 60.000 Euro. Diesen Betrag erwartet er nun von Marjorie.

Er habe die besten Jahre seines Lebens für die Familie De Kesel und besonders für sie geopfert und stehe jetzt mit leeren Händen da.

Nachdem Marjorie ihm das für die Dachreparatur vorgesehene Geld überlassen hat, trennen sie sich. Als Ersatz vermittelt Schampir der Hausherrin ein rumänisches Ehepaar. Aber als bei Starkregen ein Balken bricht, die marode Decke sich senkt und alles nass wird, reist Marjorie zu ihrem Mann nach Deutschland.

Ausgeschlossen, Ruprecht zu verlassen – das hätte bedeutet, ihren Status aufzugeben; gerade dessen äußere Aspekte waren so wichtig. Sie war die Erbin, die mit einem namhaften Intellektuellen lebte, einem Ehemann, der gesellschaftlich und literarisch respektiert war.

Inzwischen ist auch Max nach fünf Monaten Trennung zu Paula und Nike zurückgekehrt.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Fritz Allmendinger verhandelt hinter Ruprecht Dalandts Rücken mit der Grünstein-Gruppe, die bereit ist, ihn zum Leiter eines Tochterverlags zu machen, der dann Papyros Press übernehmen und reorganisieren würde. Und er überredet Sieglinde Stiegle, sich an dem Vorhaben zu beteiligen.

„Bedenke, wie alt er ist: sechsundsechzig. Lass ihn noch bis siebzig arbeiten und als großer Manitou bis zum Lebensende hier herumgeistern – spätestens in vier Jahren braucht er einen Nachfolger. Ich habe mir gedacht, das könntest du dann werden, das heißt, wenn wir uns einigen. Wenn es zwischen uns zu einer engen Zusammenarbeit käme.“

„Ich muss bei Papyros jemanden haben, dem ich absolut vertraue, auf den ich mich verlassen kann – solange Dalandt da ist und erst recht danach. Und ich weiß, du wärst die Richtige, die Beste. Jemanden wie dich finde ich nicht so schnell, aber mir fehlt noch was: Vertrauen.“

Obwohl die beiden nie ein Liebespaar gewesen sind, heiraten Sieglinde Stiegle und Fritz Allmendinger. Auf diese Weise verbünden sich zwei Personen, die gemeinsam etwas erreichen wollen.

Der Weihnachtsbaum in Ruprecht Dalandts Wohnung gerät in Brand. Das Feuer breitet sich rasch aus und läuft über die Wandbespannung.

Was für eine Gefahr, dachte Ruprecht. Dieses Sein im Feuer überwältigte ihn. Eben wurde die große Vorhangdekoration von den Flammen weggehaucht, ganz kurz bestand sie aus Feuer, dann sank sie schwarz zu Boden. Es wurde unerträglich heiß, doch harrte er noch aus, denn nun war das Feuer bei ›Taube und Wildente‹ angekommen. Der zinnoberrote Punkt auf dem Schnabel der Taube hatte es angezogen, und nun veränderte das Bild sich in der Hitze. Es war wie in einem Entwicklungsbad für Photos, nur umgekehrt; das Stilleben verlor sich langsam ins Dunkle, wurde schwarz, löste sich aus dem Rahmen, die Vögel waren kurz noch einmal lebendig geworden, die zusammengeschnurrte Leinwand drehte sich spiralförmig und flog, vom Glutsturm getragen, in die Höhe.

Draußen stehen bereits drei Löschwagen der Feuerwehr. Marjorie und Ruprecht, die viel Rauch eingeatmet haben, werden ins Krankenhaus gebracht.

Plötzlich fiel Marjorie etwas ein. „Und ich wollte eine Beteiligung am Wertzuwachs haben!“ Sie lachte leise, bis ein Husten das beendete. Hatte sie richtig gehört, hatte auch Ruprecht gelacht? Wenn, dann sehr gedämpft, aber sie schlief mit der Vorstellung ein, dass er zumindest gelächelt habe.

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Grausamkeit. Zuschauen, wie etwas Schönes zerfetzt wird.

Mit diesem Zitat aus Ruprecht Dalandts „Provenzalischem Journal“ beginnt Martin Mosebach seinen Roman „Taube und Wildente“. Eine Katze spielt mit einer Zikade.

Sie schlägt das flügelschnarrende Insekt zwischen den Pfoten hin und her […].
Es gab kein Entkommen für die Zikade. Dabei ließ ihr die Katze doch Zeit und betrachtete sie nach jedem Schlag versonnen. Zum nächsten Schlag holte sie erst wieder aus, wenn ihr Opfer sich zu bewegen begann. […] die Folter des Insekts inszenierte sie als ein tänzerisches Spiel. Nie habe ich die Katze so elegant, so anmutig gesehen.
Sie stand auf einem Bein, pirouettierte, fand aus der Drehung in einen Sprung über die Zikade hinweg und näherte ihre Schreckensmaske von der anderen Seite, um alsbald wieder zuzuschlagen.

Im Hauptteil sind es Menschen, gierige Egoisten, die rücksichtslos ihre Interessen verfolgen und einander schaden. Schonungslos zeigt uns Martin Mosebach in „Taube und Wildente“ als scheinbar gleichgültiger auktorialer Erzähler das moralisch verkommene Bildungsbürgertum und die feudale Haltung Neureicher gegenüber Bediensteten. Zwischendurch kommt Ruprecht Dalandt in der Ich-Form schreibend zu Wort.

Der Roman „Taube und Wildente“ besteht aus zwei Teilen: „Sommer“ spielt in der Provence, „Winter“ vorwiegend in Deutschland.

Der Titel bezieht sich auf ein 67 mal 48 Zentimeter großes Ölgemälde des Frankfurter Malers Otto Scholderer (1834 ‒ 1902) aus dem Jahr 1884: „Tote Feldtaube und Wildente“, das im Roman einen wichtigen Platz einnimmt.

60.000 Euro bezahlt der Verleger Ruprecht Dalandt seiner Ehefrau dafür. Diese Summe erhielt er als Fördermittel für eine große Leontjew-Ausgabe. Marjorie benötigt das zweckentfremdete Geld für die Dachreparatur des Landhauses in der Provence – aber auch daraus wird nichts. Wie ein Running Gag ziehen sich die 60.000 Euro durch „Taube und Wildente“.

Weil die Reparatur des undichten Dachs unterbleibt, bricht ein maroder Balken. Aber neben dem Wasser spielt auch ein anderes Element eine entscheidende Rolle: Feuer.

Martin Mosebach schreibt nicht für Leserinnen und Leser, die eine aktionsreiche Handlung erwarten. „Taube und Wildente“ ist ein literarisches Gemälde in geschliffener Sprache und ein subtiles ästhetisches Erlebnis.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © dtv Verlagsgesellschaft

Martin Mosebach (Kurzbiografie)

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