Ellen Sandberg : Die Schweigende

Die Schweigende
Die Schweigende Originalausgabe Penguin Verlag, München 2020 ISBN 978-3-328-10485-8, 518 Seiten ISBN: 978-3-641-24609-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als Jens Remy 2019 im Alter von 79 Jahren stirbt, ist die mittlere der drei grundverschiedenen Töchter bei ihm, und er nimmt Imke das Versprechen ab, nach Peter zu suchen. Aber wer ist oder war das? Die Mutter Karin behauptet, es nicht zu wissen, aber Imke glaubt ihr nicht und forscht weiter nach. Bald findet sie heraus, dass dieser Peter den Geburtsnamen ihrer Mutter trug und ab 1956 in einem Erziehungsheim war. Warum? Und was ist aus ihm geworden?
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Kritik

Zentrales Thema des Romans "Die Schweigende" von Ellen Sandberg ist die Heimerziehung nach dem Zweiten Weltkrieg, als Kinder und Jugendliche ausgebeutet wurden und man ihnen Bildungsmöglichkeiten vorenthielt. Weil Ellen Sandberg ihr ernsthaftes Anliegen in einen packenden Plot gekleidet hat, kann man "Die Schweigende" als spannenden Kriminalroman und als erschütternde Familientragödie lesen.
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Familie Remy

Karin Remy ist seit acht Wochen Witwe. Sie wohnt nun allein in einem 1938 gebauten Haus mit Garten in München-Obermenzing, das Jens und sie kauften, nachdem sie sich 1965 begegnet waren und bald darauf geheiratet hatten. Das Paar bekam drei Töchter. Angelika („Geli“) wurde 1969 geboren; Imke und Anne folgten.

Geli war chaotisch und sprunghaft und eine überbehütende und stets besorgte Mutter. […]
Imke war die Mittlere und galt als die Zuverlässige. Durchhaltevermögen war wohl ihre hervorstechendste Eigenschaft. Was sie anfing, brachte sie auch zu Ende im Gegensatz zu Geli. Was ihr allerdings fehlte, waren Risikobereitschaft und Ehrgeiz.
Davon hatte dafür Anne mehr als genug abbekommen. Strategisch betrieb sie ihre Karriere […]. Erst vor einem Jahr war sie zur Leiterin der Abteilung für Governance and Compliance eines internationalen Baukonzerns aufgestiegen und stand jetzt kurz vor der Berufung in den Vorstand.

Jens war ein warmherziger Vater, aber Karin blieb unnahbar und zeigte keine Gefühle.

Weshalb war es ihr nie gelungen, […] ihre Töchter fest in den Arm zu nehmen, sie zu knuddeln und zu kitzeln, bis sie kreischten, […] ihnen zu sagen, wie sehr sie sie liebte, wie wunderbar sie waren?

Immerhin achtete Karin darauf, dass alle drei Töchter eine gute Bildung bekamen. Das war ihr wichtig. Als Jugendliche hatte Karin studieren und Ärztin werden wollen, aber sie war nur Säuglingspflegerin, als sie Jens kennenlernte, der damals noch studierte und sich dann als Zahnarzt niederließ.

Geli

Geli brach ihr Zahnmedizinstudium ab, nachdem sie den acht Jahre älteren IT-Unternehmer Carlo geheiratet hatte. Sie bekamen zwei Töchter, Sabrina und Yvonne, die inzwischen in Berlin bzw. Schwerin studieren. Vor fünf Jahren wurde Carlo vom ausbrechenden Anhänger eines Lastwagens getötet. Geli trauerte um ihre große Liebe und stürzte sich zwei Jahre nach Carlos Tod in zahlreiche Affären – bis sie sich in Niklas verliebte, einen geschiedenen Zahnarzt und Vater von drei Kindern, die bei der Mutter aufwachsen. Finanziell hat Geli ausgesorgt, denn der Verkauf von Carlos Unternehmen brachte ihr Millionen ein. Sie wohnt in Ottobrunn bei München. Unlängst machte ihr Niklas einen Heiratsantrag, und inzwischen laufen die Hochzeitsvorbereitungen.

Anne

Anne ist die jüngste der Schwestern. Sie lebt mit ihrem Ehemann Alex Hesse, dem Chief Operating Officer eines Automobilzulieferers, in Stuttgart und rechnet damit, in Kürze selbst in den Vorstand des Bauunternehmens Julius Straub aufzusteigen. Aber der Vorstandsvorsitzende Ludwig Weigelt schickt seinen Vertreter Nils Bachlmann vor, um ihr mitzuteilen, dass sie den Posten nicht bekommen werde. Wutentbrannt kündigt Anne auf der Stelle ihren Vertrag.

Imke

Imke ist seit fast 20 Jahren mit dem Statiker Moritz verheiratet und arbeitet selbst als freie Übersetzerin von Gebrauchsanweisungen und dergleichen. Mit ihren 17 Jahre alten Zwillingen Steffi und Tobi wohnen Imke und Moritz in Obermenzing, ganz in der Nähe von Karin.

Imke war bei ihrem Vater, als er starb. Der 79-Jährige wurde nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus behandelt und erholte sich. Als sie ihn das letzte Mal besuchte, saß er im Garten der Klinik – und hatte offenbar gerade einen weiteren Herzinfarkt erlitten. Bevor er starb, nahm er Imke das Versprechen ab, nach Peter zu suchen. Ihre Mutter antwortete auf eine entsprechende Frage, sie kenne keinen Peter, aber Imke ist überzeugt, dass Karin lügt.

Als sie und Moritz mit Karins Erlaubnis deren Gartenhaus ausräumen, damit Imke dort eine Bioseifen-Manufaktur einrichten kann, stoßen sie auf eine Vermisstenanzeige, die am 7. September 1958 von Maria-Johanna Reuss, der damaligen Leiterin des Erziehungsheims Sankt Marien in Warting, bei der Polizei in Wasserburg am Inn aufgegeben wurde. Bei dem Vermissten handelte es sich um Peter Allenstein, geboren am 3. Mai 1945 in Bayreuth. Peter! Und Allenstein hatte Karin vor der Eheschließung mit Jens Remy geheißen.

Racheakte

Anne beabsichtigt nach der Kündigung, ihr eigenes Unternehmen zu gründen, einen Reiberdatschi-Express, für den sie allerdings noch einen zugkräftigen Namen sucht. Die Hausbank verweigert ihr den 2-Millionen-Kredit und rät ihr, kleiner anzufangen. Anne will aber nicht als Chefin einer Frittenbude verlacht werden, sondern gleich groß einsteigen.

Nachdem sie eine Bank gefunden hat, die bei 20 Prozent Eigenkapital bereit zur Finanzierung des Projekts ist, fährt Anne zu Geli nach München. Ihre Schwester könnte es sich ohne weiteres leisten, das erforderliche Startkapital vorzustrecken, aber Geli lehnt Geschäfte mit Familienmitgliedern ab.

Um sich für die Absage zu rächen, sorgt Anne dafür, dass Niklas von Ferdinand erfährt, einem Liebhaber, den Geli ihm verschwiegen hat, weil die Affäre ohnehin zu Ende war. Enttäuscht sagt Niklas die Hochzeit ab und trennt sich zumindest vorläufig von Geli.

Obwohl sich die drei Schwestern darauf geeinigt haben, erst nach dem Tod beider Eltern Erbansprüche geltend zu machen, versucht Anne nun, ihren Anteil zu bekommen. Um sie auszahlen zu können, müsste Karin das Haus verkaufen, indem sie ein halbes Jahrhundert mit Jens wohnte. Und auf die Vorstellung, in ein Heim abgeschoben zu werden, reagiert sie mit einem hysterischen Anfall. Anne beauftragt daraufhin ihren Anwalt Dr. Werner Feininger, eine Klage vorzubereiten, um zumindest ihren Pflichtteil zu bekommen. Alex ist entsetzt über das Verhalten seiner Frau.

Geli revanchiert sich für Annes Racheakt, indem sie einen entsprechenden Dienstleister beauftragt, Alex eines Seitensprungs zu überführen und schickt dann Geli ein Video, auf dem Alex beim Sex mit einer anderen Frau zu sehen ist. Wutentbrannt wirft Anne ihren untreuen Ehemann hinaus. Nachdem sie mehrere Gläser Wein getrunken hat, fährt sie noch in der Nacht nach München. An einer Tankstelle füllt sie einen Reservekanister mit Benzin, um wenn schon nicht Gelis Haus, aber wenigstens ihr Auto abzufackeln. Kurz vor München kracht sie in die Mittelleitplanke und überschlägt sich. Ein Rettungshubschrauber bringt sie ins Klinikum München-Großhadern. Zum Glück werden keine lebensgefährlichen Verletzungen diagnostiziert.

Erziehungsheim der Barmherzigen Schwestern

Die im Gartenhaus gefundene Vermisstenanzeige lässt darauf schließen, dass Peter Allenstein im Erziehungsheim Sankt Marien in Warting war.

Der damalige Eigentümer des Geländes hatte 1949 einen Pachtvertrag mit der Erzdiözese München-Freising geschlossen. Das dort errichtete Erziehungsheim wurde bis 1997 von den Barmherzigen Schwestern geführt und steht seither leer. Vor kurzem kaufte eine Investorengruppe das Areal. Geplant ist nun ein Wellness-Resort der Luxusklasse.

Im Erziehungsheim Sankt Marien ließen beispielsweise Hotels und Restaurants der Umgebung, aber auch aus München Tisch- und Bettwäsche waschen und mangeln. Das war die Hauptaufgabe der Mädchen, während die Jungen in der zum Heim gehörenden Landwirtschaft arbeiten mussten. Der Träger der Einrichtung verdiente gut an der Ausbeutung der Zöglinge.

Um mehr über das Erziehungswesen im Allgemeinen und das Heim Sankt Marien im Besonderen zu erfahren, kauft Imke zwei Bücher: „In Gottes Namen. Erziehung in deutschen Kinderheimen, von der Nachkriegszeit bis zur Heimreform“ von Gerda Heisler und „Meine Zeit in der Hölle“ von Friedrich Grögher.

Wie konnte man unter dem Deckmantel der Nächstenliebe und Barmherzigkeit Kinder quälen und ausbeuten? Misshandeln und missbrauchen. Schutzbefohlene, die einem wehrlos ausgeliefert waren. Wie konnte man das als Christ tun? Man hatte diese Kinder fürs Leben gezeichnet. Man hatte sie gebrochen, anstatt sie zu starken Menschen zu erziehen.

Man hat sie misshandelt. Im Namen des Herrn. Man hat sie gebrochen und klein gemacht. Man hat ihnen jeden eigenen Gedanken aus dem Leib geprügelt und sie wie Sklaven ausgebeutet. Man hat ihnen Bildung vorenthalten.

Die dachten wirklich, dass Kinder zu besseren Menschen werden, wenn man sie misshandelt.

Die Suche nach Peter

Von Gitta, einer in Augsburg lebenden Cousine ihres Vaters, erfährt Imke, dass es sich bei Peter Allenstein um Karins fünf Jahre jüngeren Bruder handelte.

Die Allensteins führten in der fünften Generation ein großes Möbelgeschäft in Jena. Der Juniorchef verliebte sich in die Sekretärin Doris und heiratete sie. Im Mai 1940 wurde die Tochter Karin in Jena geboren. Karins Vater fiel im Januar 1945, und im Krieg ging auch der Familienbesitz verloren. Die schwangere Witwe Doris Allenstein floh vor der Roten Armee nach München. Während eines Zwischenaufenthalts in Bayreuth gebar sie am 3. Mai 1945 den Sohn Peter.

Aber warum war Peter im Erziehungsheim? Auf einem der Fotos in Friedrich Gröghers Buch über Sankt Marien glaubt Imke, ihre Mutter zu erkennen. Waren beide Geschwister dort?

Mehrmals fahren Imke und Moritz nach Warting und sehen sich in der Ruine des Erziehungsheimes um. Nach einem Fahrradsturz in Warting lernen sie die Ärztin Dr. Franziska Plank kennen, die ihre Praxis vom Vater geerbt hat. Der war ab 1958 auch für die medizinische Versorgung im Erziehungsheim zuständig.

Die Ärztin macht für Imke die Frau ausfindig, die 45 Jahre lang im Erziehungsheim kochte. Gertraud Burczek ist inzwischen 87 Jahre alt und lebt in einem Seniorenheim in Kolbermoor bei Rosenheim.

Imke besucht sie dort. Gertraud berichtet, dass Peter eines der wenigen Kinder gewesen sei, denen es gelang, davonzulaufen und nicht aufgegriffen zu werden.

Als das Erziehungsheim 1997 aufgelöst wurde, brachten die Schwestern einen Karton mit Akten zum Pfarrer, der den Mesmer Bruno Burczek bat, ihn aufzubewahren. Bruno Burczek war Gertrauds Onkel. Er starb vor 15 Jahren, und sein kleines Häuschen in Warting steht seither leer.

Imke gelingt es, Gertraud zu überreden, mit ihr hinzufahren und nach dem Karton zu suchen. Zuerst sieht es so aus, als ob die Suche erfolglos bliebe, aber als die alte Frau bereits im Auto darauf wartet, dass Imke noch die Sicherungen herausdreht und abschließt, findet diese den Karton und darin nicht nur die Akte ihres Bruders, sondern auch die der Mutter. Von Gertraud unbemerkt, nimmt sie beide Mappen an sich.

Warum wurden diese und andere Akten aussortiert?

Seit Imke weiß, dass ihre Mutter zu einer Zeit im Heim war, als man Kinder mit Prügelstrafen und Demütigungen erzog, ahnt sie, warum ihr Vater wollte, dass sie nach Peter sucht: Er hoffte, dass die Töchter ihre Mutter besser verstehen würden.

In Karins Akte liegen Briefe von ihr an die Mutter und von Doris Allenstein an die Tochter. Offenbar wurden sie alle von den Schwestern abgefangen und nicht weitergegeben.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


1956 bis 1961

Als Karin 16 Jahre alt ist, trägt sie Bluejeans statt Faltenröcke und schließt sich der Clique des zwei Jahre älteren Mitschülers Fred Meinhardt an, der sich für Rock ’n‘ Roll begeistert. Zwei Nachbarinnen im Mietshaus, denen sowohl die Kleidung als auch der Umgang des Mädchens missfällt, setzen sich mit dem Jugendamt in Verbindung. Daraufhin überprüft Dorothea Meister die Verhältnisse bei der allein erziehenden Mutter Doris Allenstein und ihren beiden Kindern Karin und Peter. Die drei kommen noch einmal mit dem Schrecken davon, und Doris ermahnt ihre Tochter, den Nachbarinnen keinen weiteren Zündstoff zu liefern.

Während Doris mit ihrem Chef in Frankfurt am Main zu tun hat, vergnügt sich Karin mit der Clique auf der Jakobi-Dult am Mariahilfplatz. Dort beobachten sie eine Schlägerei. Polizei trifft ein. Auch Karin und ihre Begleiter sollen sich ausweisen, und weil sie keine Papiere bei sich haben, rufen die Beamten ihre Eltern an. Mani, der immer wieder grundlos von seinem Vater geschlagen wird, traut sich deshalb nicht mehr nach Hause. Karin lässt ihn auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Zwei Nachbarinnen sehen ihn am nächsten Morgen aus der Tür kommen – und zeigen Doris Allenstein wegen Kuppelei an (§180 StGB). Die Mutter habe ihre Kinder vernachlässigt und Unzucht mit einer Minderjährigen Vorschub geleistet, heißt es. Das Vormundschaftsgericht entscheidet nach Aktenlage, entzieht Doris Allenstein das Sorgerecht für die beiden Kinder und setzt den Rechtsanwalt Udo Krohnen als Vormund ein. Der lässt Karin und Peter ins Erziehungsheim Sankt Marien bringen.

Die Geschwister schreiben ihrer Mutter, erhalten aber keine Antwort, und Schwester Agnes erklärt Karin, ihre Mutter habe wieder geheiratet und wolle nichts mehr von ihren Kindern wissen.

Anfang Dezember 1956 muss Karin erstmals zu dem Arzt Dr. Herchenbach. Der fordert sie auf, sich auszuziehen. Sie kann es nicht fassen, denn die Mädchen müssen sogar unter der Dusche einen Unterrock tragen und dürfen vor dem Zu-Bett-Gehen nur unter dem bereits übergestreiften Nachthemd die Alltagskleidung ablegen. Aber nun muss sie sich vor einem Mann nackt ausziehen und auf einen Stuhl steigen. Schlimmer noch: Dr. Herchenbach überprüft mit den Fingern, ob ihr Hymen noch intakt ist.

Edith Steinfeld wird nach einem Fluchtversuch zurückgebracht. Nachts bemerkt Karin, wie Edith verbotenerweise aufsteht und an der eingeschlafenen zur Wache eingeteilten Schwester vorbei hinausgeht. Gleich darauf fliegt etwas Helles am Fenster vorbei. Karin reißt das Fenster auf und sieht Edith auf dem Pflaster liegen. Sie schreit, Edith habe sich umgebracht. Die herbeigeeilten Schwestern reißen sie vom Fenster weg und befehlen den Mädchen, in den Betten zu bleiben. Am nächsten Morgen heißt es, Edith sei noch spät abends von einer Tante abgeholt worden und Karin habe schlecht geträumt.

Bald darauf wird Karin nachts von Schwester Barbara geweckt und zu drei Männern gebracht. Es sind der Arzt Dr. Herchenbach, der Hausmeister Claus Sowada und Walter Weber, der Hausvater im Jungenhaus. Sie vergewaltigen Karin nicht nur in dieser Nacht, sondern von da an immer wieder.

Mehrmals versuchen Karin und Peter zu fliehen, aber es gelingt ihnen nicht.

Im April 1958 wird Elli, eine widerspenstige Neue, von Schwester Veronika zu Boden geschlagen und getreten, bis sie leblos liegen bleibt. Auch als man Elli kaltes Wasser ins Gesicht schüttet, bleibt sie bewusstlos. Dennoch wird erst am nächsten Morgen ein Arzt gerufen, Dr. Plank, der Nachfolger des kurz zuvor an einem Herzinfarkt gestorbenen Dr. Herchenbach. Karin beobachtet, wie er von den Schwestern begrüßt wird und kurz darauf aufgebracht das Haus verlässt.

Später wird Imke von seiner Tochter erfahren, dass das Kind an einer Hirnblutung starb und augenscheinlich schwer misshandelt worden war. Anders als sein Vorgänger war Dr. Plank nicht bereit, einen Totenschein auszustellen und eine natürliche Todesursache anzugeben. Imke durchblickt schließlich die Zusammenhänge und weiß, dass Dr. Herchenbach die Schwestern in der Hand hatte, weil er ihnen half, Suizide und Kapitalverbrechen zu vertuschen.

Im September 1958 findet Karin ihren Bruder mit auf dem Rücken gefesselten Händen und einer Schlaufe um den Hals an einem Eisenhaken im Keller. Während die Mädchen zur Strafe tagelang in den Karzer gesperrt werden, dient diese Vorrichtung zur Bestrafung der Jungen. Wenn ihnen nach Stunden die Beine wegknicken, stranguliert die Schlaufe sie. Mit Mühe gelingt es Karin, Peter zu befreien, aber er stirbt in ihren Armen. Schreiend rennt sie ins Freie.

Als sie nach einer Woche den Karzer verlassen darf, heißt es, Peter sei fortgelaufen, und Karin glaubt es. Was sie erlebt hat, verdrängt sie.

Sobald sie 1961 volljährig geworden ist, darf sie das Erziehungsheim verlassen. Und sie absolviert bei den Barmherzigen Schwestern in München eine Ausbildung zur Säuglingspflegerin.

Karin kontaktiert Fred Meinhardt. Er sagt ihr, dass Mani vor drei Jahren von der Hackerbrücke vor einen Zug gesprungen sei.

In der Hoffnung, die neue Adresse ihrer vermeintlich wiederverheirateten Mutter herauszufinden, geht Karin zu dem Mietshaus, in dem sie früher wohnten. Dort erfährt sie, dass die Mutter im Frühjahr 1957 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Doris Allenstein war auf dem Weg zum Landgericht, wo sie ein Besuchsrecht im Erziehungsheim erstreiten wollte.

Aufdeckung

Imke und Moritz reden mit dem befreundeten Paar Gregor und Jeanette, zwei beim Bayerischen Rundfunk beschäftigten Journalisten.

Leopold Schmalisch, den Imke und Moritz auf dem Gelände des aufgelassenen Erziehungsheims in  Warting kennengelernt haben, lebte von 1954 bis 1966 dort und wohnt inzwischen in einem Münchner Obdachlosenheim. Er zeigt Imke, Moritz und den Leuten vom Bayerischen Rundfunk eine Stelle im Garten der Anlage und behauptet, dass dort die Kinder verscharrt worden seien, die sich entweder selbst das Leben genommen hatten oder von den Schwestern totgeschlagen worden waren. Ende der Sechzigerjahre erstattete er Anzeige, aber daraufhin geschah monatelang nichts und dann drohte ihm die Kirche nicht nur mit einer Verleumdungsklage, sondern auch mit einer Zwangseinweisung in die Psychiatrie.

Die Staatsanwältin Petra Fuchs leitet ein Ermittlungsverfahren ein und ordnet eine Grabung an der von Leopold Schmalisch angegebenen Stelle an. Auch die Hauptkommissarin Gina Angelucci und ihr Kollege Holger Morell von der Kripo in München fahren dazu nach Warting.

Die Gebeine von zwölf Kindern werden geborgen. Durch DNA-Vergleiche lassen sie sich identifizieren.

An Peters Urnenbestattung nehmen Karin, Imke und Moritz, Steffi und Tobi, Geli und ihre aus Berlin bzw. Schwerin angereisten Töchter sowie Niklas und Axel teil. Nur Anne bleibt der Trauerfeier für ihren Onkel fern. Sie will nichts mehr mit der Familie zu tun haben.

Für die Verbrechen im Erziehungsheim Sankt Marien wird niemand zur Rechenschaft gezogen.

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Zentrales Thema des Romans „Die Schweigende“ von Ellen Sandberg ist die Heimerziehung.

Zwar wurde das aus den Zwanzigerjahren stammende Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt 1953 durch das Jugendwohlfahrtsgesetz abgelöst, das die Heime auf das Kindeswohl verpflichtete, aber die teilweise menschenunwürdigen Verhältnisse änderten sich dadurch kaum. Die Kinder und Jugendlichen wurden zu unqualifizierten Arbeiten gezwungen. Dafür bekamen sie keinen nennenswerten Lohn, und weil keine Sozialabgaben entrichtet wurden, entstanden bei der späteren Berechnung der Altersrente Einbußen. Die Zöglinge – so nannte man sie – wurden als billige Arbeitskräfte missbraucht, und man enthielt ihnen Bildungsmöglichkeiten vor. Sie waren entwürdigenden Bestrafungen ausgesetzt, aber auch willkürlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch.

Aufgedeckt wurden die Missstände in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre durch die „Heimkampagne“ der Studentenbewegung bzw. der Außerparlamentarischen Opposition (APO), in der sich auch Ulrike Meinhof („Bambule“), Andreas Baader und Gudrun Ensslin engagierten, weil sie sich davon eine Stärkung der sozialrevolutionären Kräfte versprachen. Aus Erziehungsheimen geflohene Jugendliche wurden in Wohngemeinschaften aufgenommen. Und in der Öffentlichkeit begann eine Debatte, durch die sich die Verhältnisse in den Erziehungsheimen allmählich verbesserten.

Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags erklärte am 26. November 2008 sein tiefes Bedauern über „erlittenes Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen in der alten Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1945 und 1970 widerfahren ist“. Unter dem Vorsitz der Politikerin Antje Vollmer wurde 2009 ein Runder Tisch von der Bundesregierung eingerichtet, dessen Aufgabe es war, die Heimerziehung zu durchleuchten. Schätzungsweise 700.000 bis 1 Million Kinder und Jugendliche wuchsen zwischen dem Kriegsende und 1975 zumindest zeitweise in Heimen in der Bundesrepublik auf.

Ellen Sandberg veranschaulicht in „Die Schweigende“ die Zustände in einem fiktiven Erziehungsheim, und obwohl es kaum vorstellbar ist, dass beispielsweise eine 16-Jährige gezwungen wird, ihr Erbrochenes aufzuessen, orientiert sich die Autorin an tatsächlichen Vorkommnissen in der Heimerziehung.

„Die Schweigende“ dreht sich zugleich um Schuld und Vergebung, Missgunst und Rache.

Ihr ernsthaftes Anliegen kleidet Ellen Sandberg in einen packenden Plot. Man kann „Die Schweigende“ als spannenden Kriminalroman und als erschütternde Familientragödie lesen. Ellen Sandberg entwickelt das Geschehen im Wechsel zwischen den vier Perspektiven der Frauen, also Karin und ihrer Töchter Geli, Imke und Anne. Die eigentliche Handlung spielt in der Gegenwart (2019), aber Ellen Sandberg fügt mehrere Kapitel ein, in denen sie uns in die Fünfzigerjahre mitnimmt. Die Komplexität des prall gefüllten Romans hat sie souverän im Griff. Ihre Darstellung ist farbig, bildhaft und lebendig.

Es ist kein Geheimnis, dass es sich bei Ellen Sandberg um ein Pseudonym der Schriftstellerin Inge Löhnig handelt. Um die Fans ihrer Romanfiguren Gina Angelucci und Konstantin („Tino“) Dühnfort nicht zu enttäuschen, veröffentlicht sie Bücher, in denen weder die Kommissarin noch der Kommissar vorkommen, unter dem Namen Ellen Sandberg. (In „Die Schweigende“ hat Gina Angelucci immerhin einen Cameo-Auftritt.)

Den Roman „Die Schweigende“ von Ellen Sandberg gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Vera Teltz.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Penguin Verlag

Ellen Sandberg: Die Vergessenen
Ellen Sandberg: Der Verrat
Ellen Sandberg: Das Erbe
Ellen Sandberg: Das Geheimnis
Inge Löhnig: Der Sünde Sold
Inge Löhnig: In weißer Stille
Inge Löhnig: So unselig schön
Inge Löhnig: Sieh nichts Böses
Inge Löhnig: Unbarmherzig

Ian McEwan - Nussschale
Im Shakespeare-Jahr 2016 ver­wan­delt Ian McEwan den Plot der Tra­gö­die "Hamlet" in einen grotesken Kri­mi­nal­roman, ein von originellen Ein­fäl­len, Komik, Ironie, Sarkasmus und Sprachwitz fun­keln­des Kammerspiel mit dem Titel "Nussschale".
Nussschale