Ellen Sandberg : Die Vergessenen
Inhaltsangabe
Kritik
Manolis Lefteris
Manolis Lefteris ist der Sohn des Gastarbeiters Yannis Lefteris und einer Deutschen. Die Kunststudentin Karin Brändle war 1969 als Hippie-Mädchen im VW-Bus nach Griechenland gefahren und hatte sich dort in ihn verliebt. Das Ehepaar Lefteris bekam außer dem Sohn, der inzwischen Mitte 40 ist, eine Tochter. Christina wurde Rechtsanwältin. Aus ihrer Ehe mit Benno Geiger stammen drei Kinder: Elena, Yannis und Benno.
1976, noch vor Manolis‘ Einschulung, schilderte ihm der depressive Vater, dass er als Achtjähriger am 10. Juni 1944 im Heimatdorf Daflimissa aus einem Versteck heraus zusehen musste, wie SS-Männer seinem Bruder, der ebenfalls Manolis hieß, die Kehle durchschnitten. Auch die Eltern und die drei Schwestern Christina, Elena und Athina wurden grausam ermordet. Nachdem er sein Versteck verlassen hatte, stieß er zwar auf einen deutschen Soldaten, aber der ließ ihn laufen. Yannis überlebte das Massaker als Einziger des von der SS niedergebrannten Dorfes. Es handelte sich um eine „Vergeltungsaktion“ wegen angeblicher oder tatsächlicher Unterstützung der Partisanen. Der verantwortliche General wurde zwar nach dem Krieg zu 15 Jahren Haft verurteilt, kam aber bereits nach drei Jahren wieder frei.
Yannis Lefteris wuchs bei Helena Farinadis, einer entfernten Verwandten, in der Nähe von Athen auf.
Vor zehn Jahren kamen er und seine Frau Karin im Auto ums Leben. Die Polizei ging zwar davon aus, dass Yannis Lefteris die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte, aber Manolis – der seit dem traumatisierenden Bericht, den er sich als Kind anhören musste unter Albträumen leidet – glaubt, dass es sich um einen Suizid handelte.
Kurz vor dem Abitur brach Manolis Lefteris die Schule ab. Nachdem er wegen Körperverletzung zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden war, beobachtete er zufällig einen Überfall in Frankfurt am Main. Dem Opfer rettete er das Leben, indem er sich auf den mit einem Messer bewaffneten Angreifer warf und ihm das Genick brach. Das geschah 1990, vor 23 Jahren.
Bernd Köster, der Gerettete, nahm sich des Jüngeren an und finanzierte ihm schließlich ein Autohaus in München. Später begann der Frankfurter Rechtsanwalt, Manolis für spezielle Aufgaben einzusetzen. Beispielsweise erschoss Manolis kürzlich Peter Huth, der aus Mangel an Beweisen von der Anklage freigesprochen worden war, die 17-jährige Unternehmertochter Milena Veens entführt und ermordet zu haben. Nach dem Prozess hätte man Peter Huth zwar das Verbrechen nachweisen können, aber der Strafklageverbrauch verhinderte ein zweites Verfahren. Der Vater des Mädchens setzte deshalb auf Selbstjustiz und wandte sich an Bernd Köster.
Der aktuelle Job, den Manolis Lefteris von Bernd Köster bekommt, besteht darin, den 41-jährigen Christian („Chris“) Wiesinger zu observieren. Der Bankkaufmann, der eine Haftstrafe wegen Anlagebetrugs verbüßte und erst vor einem halben Jahr aus dem Gefängnis kam, versucht offenbar, Bernd Kösters Mandanten zu erpressen, und zwar mit belastenden Dokumenten, die er in der Wohnung seiner seit einem Schlaganfall komatös im Krankenhaus liegenden Tante Kathrin Engesser vermutet, aber noch nicht gefunden hat. Sobald sich Chris Wiesinger die Unterlagen angeeignet hat, soll Manolis Lefteris sie ihm abnehmen.
Während sich der Geschäftsführer Max Hillebrand ums Autohaus kümmert, arbeitet Manolis mit Unterstützung der seit einem Überfall traumatisierten IT-Spezialistin Rebecca an dem Fall. Vor der Hackerin ist kein mit dem Internet verbundenes elektronisches Gerät sicher. Beispielsweise kann sie ein Smartphone zum Ortungs- und Abhörgerät umfunktionieren, ohne dass der Benutzer etwas davon merkt. (Nur der Akku wird schneller leer.)
Vera Mändler
Manolis Lefteris ist nicht der Einzige, der Chris Wiesinger einen Erpressungsversuch zutraut. Dessen von ihrem Ehemann Lars geschiedene Cousine Vera weiß, dass er finanzielle Schwierigkeiten hat. (Tatsächlich schuldet er einem Rumänen namens Ivo Pelka viel Geld.) Als sie herausfindet, dass er sich von Tante Kathrins Nachbarin Helene Aßmann die Ersatzschlüssel lieh, um die Wohnung durchsuchen zu können, lässt sie das Schloss auswechseln.
Vera Mändler hält es für möglich, dass ihr Vater Joachim auch der ihres Cousins ist, denn als sie fünf Jahre alt war, verließ er ihre Mutter Annemarie und zog mit deren zwei Jahre jüngeren Schwester Ursula („Uschi“) zusammen.
Die 43-jährige Journaistin Vera Mändler, die bei der Frauenzeitschrift „Amélie“ beschäftigt ist, bewirbt sich bei Viktor Bracht, dem Ressortleiter Politik & Gesellschaft der „Münchner Zeitung“, weil sie endlich wieder über ernsthafte Themen schreiben möchte. Viktor Bracht nimmt sie jedoch nicht ernst, weil sie schon zu lange nicht mehr für ein anspruchsvolles Blatt gearbeitet hat.
Chris Wiesingers Leiche wird aus einem Baggersee geborgen. Man hat ihn erschossen.
Vera schaut sich in der Wohnung ihrer kranken Tante Kathrin noch einmal um, entdeckt jedoch nichts, was ihr Cousin für eine Erpressung hätte nutzen können. Ein aufgeschlagenes Fotoalbum zeigt Kathrin als Pflegerin in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg bei München. Darüber wundert sich Vera, denn in der Familie hieß es, Kathrin habe immer nur im Schwabinger Krankenhaus gearbeitet.
Die Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg gehörte zu den Einrichtungen, in denen das NS-Regime Euthanasie praktizierte.
Bis prominente katholische Kirchenvertreter wie Clemens August Graf von Galen, der Bischof von Münster, am 3. August 1941 in der St. Lamberti Kirche gegen die Tötung von Menschen protestierte, die von den Nationalsozialisten für „lebensunwert“ gehalten wurden, erfolgte die nach der Adresse Tiergartenstraße 4 benannte „Aktion T4“ zentral in der Reichshauptstadt Berlin. Um das Morden unauffälliger vorzunehmen, wurde es dann dezentralisiert. So ließ man in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg erwachsene Patienten regelrecht verhungern. Kinder sedierte man über einen längeren Zeitraum, bis sie durch die flache Atmung an einer Lungenentzündung erkrankten und starben.
Nach dem Krieg mussten sich lediglich Dr. Gustav Wrede, der Leiter der „Kinderfachabteilung“ in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg, und die bei ihm beschäftigte Pflegerin Adele Erl vor Gericht verantworten. Der Arzt wurde 1949 zu fünf Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt, seine Mitarbeiterin wegen Beihilfe zu zwei Jahren.
Um einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu setzen, änderte die Anstalt ihren Namen 2003 in „Klinikum am Anzinger Forst“.
Vera findet schließlich das Versteck, in dem ihre Tante Kathrin elf in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg angelegte Mappen deponiert hat. Aber bevor sie hineinschauen kann, wird sie von einem Mann überfallen, der ihr die Dokumente raubt.
Kathrin
Kathrin Mändler ist 12 bzw. 14 Jahre älter als ihre Schwestern Annemarie und Ursula. Die 1924 geborene Krankenschwester fängt in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg bei München zu arbeiten an, zunächst im Kinderhaus, dann von Oktober 1941 bis Kriegsende in der Kinderfachabteilung.
Während sie noch im Kinderhaus beschäftigt ist, wird sie die heimliche Geliebte des Anstaltsleiter Dr. Karl Landmann. Er genießt seine Macht über sie, und Kathrin wird ihm hörig.
Obwohl sie weiter mit ihm ins Bett geht, hilft sie dem vier Jahre älteren Medizinalpraktikanten Matthias Cramer bei der Dokumentation von tödlichen Injektionen, mit der sie den Mörder Dr. Karl Landmann nach dem Krieg vor Gericht bringen wollen.
Sie verfügen über elf Akten, als Matthias Cramer am 2. Januar 1945 zum Kriegsdienst eingezogen wird und seiner Komplizin einschärft, wegen des Risikos nicht allein weiterzumachen. Das Belastungsmaterial nimmt Matthias Cramer mit zu seinen Eltern, die er zum Jahresende noch einmal besucht.
Kathrin arbeitet noch bis September 1946 in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg, dann wechselt sie zum Schwabinger Krankenhaus.
Kurz bevor die 38-jährige Krankenschwester im April 1962 nach Rom reist, erhält sie unerwartet einen Anruf von Matthias Cramer, von dem sie seit der gemeinsamen Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg nichts mehr gehört hat. Er kam 1950 aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Inzwischen praktiziert er als Arzt in München. Weil er glaubt, bei einem Ärztekongress vom 12. bis 15. April 1962 in Frankfurt am Main, in Dr. Louis Eric Moreau, dem Geschäftsführer des Unternehmens Maiwald Pharma im Stadtteil Preungesheim, den Arzt Dr. Karl Landmann erkannt zu haben, dachte er nun wieder an die elf Ordner mit Belastungsmaterial, die er vor seinem Kriegsdienst im Garten vergraben hatte. Weil er befürchtet, dass der Mörder auch ihn erkannt haben könnte, möchte er die Metallkiste seiner damaligen Mitverschwörerin schicken, damit sie vor einem Zugriff sicher ist.
Matthias Cramer muss sich getäuscht haben, denkt Kathrin, denn der damalige Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg starb bei einem amerikanischen Tieffliegerangriff am 16. April 1945 in der Nähe von Hohenlinden.
Nach ihrer Rückkehr aus Rom erfährt Kathrin, dass Matthias Cramer bei einem Autounfall umgekommen ist. Es sei ein selbstverschuldeter Unfall gewesen, meint die Polizei.
Spoiler-Warnung:
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Kathrin versteckt die Dokumente und fährt im Mai 1962 nach Königstein, zu der Villa, in der Dr. Louis Eric Moreau mit seiner Frau Caroline – einer geborenen Maiwald – und den beiden Söhnen wohnt. Es handelt sich tatsächlich um ihren früheren Liebhaber.
Nach 17 Jahren setzen Kathrin und „Erich“, wie sie ihn nun nennt, ihre Affäre fort – bis die betrogene Ehefrau nach fünf Jahren Verdacht schöpft, einen Privatdetektiv engagiert und ihren Mann auffordert, sich für eine der beiden Frauen zu entscheiden. Karl Landmann alias Louis Eric Moreau bleibt nichts anderes übrig, als sich mit Caroline zu versöhnen, denn ihr gehört das von ihrem Vater gegründete Pharmaunternehmen.
Kathrin heiratet daraufhin Peter Engesser, einen Verwaltungsangestellten des Schwabinger Krankenhauses. Der erliegt im zweiten Ehejahr einer seltenen Krankheit.
Danach lässt sie sich erneut mit „Erich“ ein. Als dessen Frau einige Jahre später stirbt, braucht er auch nicht mehr zu befürchten, von Caroline hinausgeworfen zu werden.
Karl Landmann
Karl Landmann wurde 1915 in Saarbrücken als Sohn eines hohen deutschen Beamten und einer Hutmacherin aus Metz geboren. Er wuchs zweisprachig auf.
Aus Überzeugung schloss er sich früh den Nationalsozialisten an und übernahm schließlich die Leitung der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg. Das Engagement in der Tötungsaktion betrachtete er als Pflichterfüllung, und in einigen Fällen beließ er es nicht bei schleichenden Sterbeprozessen, sondern ermordete Patienten mit einer Injektion.
Am 16. April 1945 – da war der Zusammenbruch des NS-Regimes längst abzusehen – fuhr er in seinem Mercedes los, um sich in einem Wäldchen bei Hohenlinden zu erschießen. Nachdem er gerade einen kleinen Trupp von Kriegsgefangenen überholt hatte, griffen US-Jagdflugzeuge im Tiefflug an. Es gelang ihm, das Auto zu verlassen und sich unter den Bäumen zu verstecken. Von den vier anderen Männern überlebte nur einer den Angriff, und den erschoss nun Karl Landmann, der die unerwartete Chance bedenkenlos nutzte, der erwarteten „Siegerjustiz“ zu entkommen. Er wechselte die Kleidung, zerrte den toten Franzosen hinters Lenkrad und setzte die Limousine in Brand. Die Papiere des Ermordeten fand er bei der Leiche des Unterwachtmeisters Siegfried Wimmer. So wurde der Deutsche Karl Landmann zu dem 1916 in Dijon geborenen Franzosen Louis Eric Moreau.
Außer Kathrin weiß nur noch der in der rechten Szene gut vernetzte, längst seinen Ruhestand genießende Rechtsanwalt Dieter Köster, wer Louis Eric Moreau früher war. Auf den kann er sich verlassen, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Zum Beispiel stürzte eine ehemalige Küchenhilfe der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg, die ihn erkannt und angezeigt hatte, betrunken vor einen Zug. Matthias Cramer, der ihn beim Ärztekongress erkannte, verlor bei der Fahrt zu einem Patienten die Kontrolle über sein Auto.
Als Louis Eric Moreau unlängst einen Erpresserbrief bekam, sprach er mit Kathrin, und sie gab zu, dass sie vor einigen Jahren gegenüber ihrem Neffen Chris angedeutet hatte, dass ihr Liebhaber Erich etwas zu verbergen habe. Christian Wiesinger wollte ihn mit einem Schuss ins Blaue erpressen. Das bei seiner Tante vermutete Belastungsmaterial fand er nicht. Dieter Köster sorgte dafür, dass der Erpresser aus dem Weg geräumt wurde, und sein Sohn Bernd, der die Kanzlei seines Vaters in Frankfurt übernommen hat, beauftragte einen Mann in München damit, nach Dokumenten zu suchen, die Louis Eric Moreau gefährlich werden könnten.
Scoop
Manolis Lefteris beschattet Vera Mändler, und als sie die von ihrer Tante Kathrin versteckten Akten findet, überrascht er sie und raubt die Dokumente.
Nachdem er die Zusammenhänge durchschaut hat, meldet er Bernd Köster, dass er seinen Auftrag erfüllt habe und schickt ihm acht Mappen per Kurier nach Frankfurt. Drei weitere spielt er der Journalistin zu. Die Unterlagen dokumentieren die Ermordung von Franz Singhammer, eines Veteranen des Ersten Weltkriegs, und der kleinen Kinder Therese Kolbeck und Emil Lauterbach durch Karl Landmann im Oktober 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg.
Vera Mändler fährt sofort nach Königstein und kündigt unterwegs mit einem Anruf ihre Anstellung bei „Amélie“, denn dafür bleibt ihr nun keine Zeit, und mit dem erhofften Scoop wird sie es in die Redaktion der Münchner Zeitung schaffen, da ist sie zuversichtlich.
Karl Landmann alias Louis Eric Moreau, den sie in ihrer Kindheit als Erich, den langjährigen Liebhaber ihrer Tante Kathrin kennengelernt hatte, duzt sie nach wie vor. Sie erklärt, sie wolle ihm vor der Veröffentlichung eines Zeitungsartikels über seine Vergangenheit Gelegenheit zu einer Stellungnahme geben. Der 98-Jährige lässt sich nicht beunruhigen. Zwischendurch gelingt es Vera, ihn abzulenken und unbemerkt ein Taschentuch einzustecken, mit dem er sich den Mund abwischte. Am Ende zwingt er sie allerdings mit vorgehaltener Pistole, ihm das Smartphone zu geben, mit dem sie das Gespräch aufgezeichnet hat. Er glaubt, alles unter Kontrolle zu haben, zumal er die von Bernd Köster übersandten Mappen aus der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg persönlich verbrannt hat.
Auf Veras Smartphone findet er Kopien von drei weiteren Dossiers. Das muss Dieter Köster in Ordnung bringen!
Die Originale hat Vera bei einer Rechtsanwältin deponiert.
Manolis Lefteris erfährt durch einen Anruf von Bernd Köster, der gerade eine Standpauke von seinem Vater erhalten hat, dass Vera Mändler bei Karl Landmann in der Villa in Königstein war und dieser nun von der Existenz weiterer Dossiers weiß. Er beteuert, der Journalistin alle Akten abgenommen zu haben, die sich in dem Versteck ihrer Tante befanden.
Dann warnt er Vera Mändler mit einer SMS. Sie übernachtet daraufhin in einem Münchner Hotel, aber als sie zu einer Verabredung mit dem Chefredakteur der Münchner Zeitung fährt, wird sie in der Tiefgarage von einem Mann mit Thor-Steinar-Kapuzenjacke überfallen. Manolis Lefteris rettet sie.
Einige Tage später veröffentlicht die Münchner Zeitung Vera Mändlers Scoop mit der Schlagzeile „Euthanasie-Arzt lebt seit Jahrzehnten unbehelligt unter uns“. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main leitet ein Ermittlungsverfahren gegen Dr. Louis Eric Moreau ein.
Justiz
Aber das Verfahren wird eingestellt, weil zwei Gutachter zu dem Schluss gekommen sind, dass der 98-Jährige wegen einer Demenz nicht in der Lage sein würde, den Ausführungen im Prozess zu folgen.
Karl Landmann übte wochenlang unter der Anleitung eines von Dieter Köster vermittelten Neurologen, wie man eine Demenz simuliert.
Er glaubt weiterhin, die Fäden in der Hand zu halten und will als Nächstes seine beiden Söhne Ulrich und Phillip enterben, die sich öffentlich von ihm distanziert haben. Aber sie kommen ihm zuvor und stellen aufgrund der Verhandlungsunfähigkeit ihres Vaters einen Eilantrag auf Betreuung, dem das zuständige Amtsgericht stattgibt. Außerdem wollen sie die Ehe ihrer Eltern anfechten, weil der Bräutigam eine falsche Identität vortäuschte.
Justitia habe auch in diesem Fall versagt, denkt Manolis Lefteris. Nachdem Rebecca die Alarmanlage der Villa in Königstein aus der Ferne abgeschaltet hat, bricht er ein und deckt den Tisch mit Speisen und Getränken aus dem Kühlschrank: Foie gras, Feigenconfit, Madeirageee, Champagner … Dann weckt er Karl Landmann.
Die Haushälterin findet den Toten am nächsten Morgen. Er erstickte an Erbrochenem.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Aribert Ferdinand Heim wurde in Medien als „Dr. Tod“ bezeichnet, weil er als Lagerarzt im KZ Mauthausen 1941/42 hundert oder mehr Gefangene ermordet haben soll. Als das Amtsgericht Baden-Baden am 13. September 1962 einen Haftbefehl gegen den 48-Jährigen erließ, tauchte er unter, kassierte aber bis 1988 über einen bevollmächtigten Rechtsanwalt Miete aus einem 1958 in Berlin-Moabit erworbenen Haus. Die internationale Fahndung nach Aribert Ferdinand Heim blieb erfolglos. Es heißt, er sei am 10. August 1992 unter dem Namen Tarek Hussein Farid in Kairo gestorben. Im September 2012 erklärte ihn das Landgericht Baden-Baden für tot und stellte das Verfahren gegen ihn ein.
Dass dieser mutmaßliche Kriegsverbrecher niemals zur Rechenschaft gezogen wurde, frustrierte Ellen Sandberg so, dass sie mit einer jahrelangen Recherche für einen Roman über Euthanasie im „Dritten Reich“ begann. 2018 erschien ihr Buch „Die Vergessenen“.
Die Figuren sind fiktiv wie die Handlung. Aber Parallelen zwischen der (fiktiven) Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg und der (realen) Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar östlich von München sind nicht zu übersehen.
Im Rahmen der „Aktion T4“ wurden mehr als 2000 Patienten von dort in NS-Tötungsanstalten überführt. In der Anstalt starben vermutlich 444 Patienten in den von Ellen Sandberg beschriebenen Hungerhäusern (Hungerkosterlass, 1942), und es wurden 332 Kinder mit Luminal getötet. Hermann Pfannmüller, der ehemalige Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, wurde 1949 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Drei Pflegerinnen mussten für jeweils zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Gustav Eidam, der die Kinderfachabteilung geleitet hatte, erhängte sich 1945 in der Untersuchungshaft. 1956 wurde die Anstalt in „Nervenkrankenhaus Haar“, 1970 in „Bezirkskrankenhaus Haar“ umbenannt, und seit 2006 heißt das psychiatrische und neurologische Krankenhaus „kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost“.
Auch für das in „Die Vergessenen“ geschilderte Kriegsverbrechen in Griechenland gibt es eine historische Entsprechung. Das reale Dorf hieß allerdings nicht Daflimissa, sondern Distomo. Am 10. Juni 1944 ermordete dort eine Einheit der Waffen-SS 218 Dorfbewohner, die angeblich Partisanen unterstützt hatten, darunter viele alte Menschen, Frauen und 38 Kinder.
Ellen Sandberg tritt gegen das Vergessen ein und plädiert dafür, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Zugleich weist sie darauf hin, dass es auch heute wieder rechtsradikale Netzwerke in Deutschland gibt. Außerdem wirft sie einen kritischen Blick auf die Justiz, der es in vielen Fällen nicht gelingt, Verbrecher zu bestrafen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Angesichts dieses staatlichen Versagens läge es nahe, Selbstjustiz zu befürworten.
Die Hauptereignisse des Romans „Die Vergessenen“ spielen 1944 bzw. 2013. Dementsprechend wechselt Ellen Sandberg zwischen mehreren Zeitebenen.
Sie schreibt in der dritten Person Singular, aber aus wechselnden Perspektiven. Hauptfiguren sind dabei die Krankenschwester Kathrin, die 1944 Morde in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg bei München dokumentiert, ihre Nichte Vera, die 2013 versucht, in den investigativen Journalismus zu wechseln, aber als Mitarbeiterin einer Frauenzeitschrift gegen Vorurteile zu kämpfen hat, und Manolis Lefteris, der Besitzer eines Autohauses in München, der 2013 von einem befreundeten Frankfurter Rechtsanwalt den Auftrag erhält, einen Cousin Veras zu beschatten, der offenbar bei seiner 89 Jahre alten Tante Kathrin nach Belastungsmaterial sucht, mit dem er einen 98-jährigen Pharmaunternehmer erpressen kann, aus dessen Blickwinkel ebenfalls einige Abschnitte des Buches erzählt werden.
Mit der Komplexität des Plots geht Ellen Sandberg so souverän um, dass sich auch Leserinnen und Leser mühelos zurechtfinden. „Die Vergessenen“ ist ein packender, spannender Roman mit Tiefgang und einem ernsthaften Anliegen.
Es ist kein Geheimnis, dass es sich bei Ellen Sandberg um ein Pseudonym der Schriftstellerin Inge Löhnig handelt. Um die Fans ihrer Romanfiguren Gina Angelucci und Konstantin („Tino“) Dühnfort nicht zu enttäuschen, veröffentlicht sie Bücher, in denen weder die Kommissarin noch der Kommissar vorkommen, unter dem Namen Ellen Sandberg.
Den Roman „Die Vergessenen“ von Ellen Sandberg gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von Thomas M. Meinhardt (ISBN 978-3-8445-2718-6).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Ellen Sandberg: Der Verrat
Ellen Sandberg: Die Schweigende
Ellen Sandberg: Das Erbe
Ellen Sandberg: Das Geheimnis
Inge Löhnig: Der Sünde Sold
Inge Löhnig: In weißer Stille
Inge Löhnig: So unselig schön
Inge Löhnig: Sieh nichts Böses
Inge Löhnig: Unbarmherzig