Germán Kratochwil : Scherbengericht
Inhaltsangabe
Kritik
Nachdem Martin Holberg vor zwei Tagen seine 27-jährige Tochter Katharina („Katha“) aus einer Nervenheilanstalt in Buenos Aires geholt hat, fährt er am 30. Dezember 1999 mit ihr los, zur Feier des 90. Geburtstages seiner Mutter Clementine am 1. Januar 2000 in Quemquemtréu. Weil Katha unbedingt noch zum Whale Watching im Golfo Nuevo und zum Sanktuarium für Prinzessin Diana in Gaimán möchte und Martin einen Termin am 31. Dezember in Huemules hat, liegt eine 2500 Kilometer lange Strecke vor ihnen.
Vor gut zwei Jahren starb Judith, Martins Ehefrau und Kathas Mutter, an einer Lungenentzündung. Das war im August 1997. Wenige Tage danach kam Lady Diana bei einem Verkehrsunfall in Paris ums Leben. Katha lag im Bett ihrer toten Mutter und sah im Fernsehen die Berichte über Diana. Darunter waren auch Aufnahmen vom Whale Watching der Prinzessin am 25. November 1995 im Golfo Nuevo. Für die labile junge Tierliebhaberin Katha, die gerade ihr Studium mit einer Diplomarbeit über Alterserotik in der Großstadtkultur abgeschlossen hatte, vermischten sich die Bilder. Eigentlich wollte sie mit ihrem Vater zusammen ein Buch schreiben über Wirtschaftsinteressen der städtischen Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf die Umweltpolitik, aber sie war schließlich so verstört, dass Martin sie in eine Nervenheilanstalt bringen musste. Zur gleichen Zeit verließ Kathas zwei Jahre jüngerer Bruder Gabriel seinen Vater ohne ein Wort des Abschieds. Martin nahm daraufhin selbst psychiatrische Hilfe in Anspruch, und zwar die eines Freundes seiner Mutter Clementine: Dr. Elias Königsberg in Buenos Aires.
Martin und Katha erreichen am Abend des 30. Dezember die Peninsula Valdés und mieten ein Zimmer in Puerto Pirámides. Am nächsten Morgen fahren sie mit dem Tierschützer Roberto Williams aufs Meer hinaus und beobachten die Wale. Als Roberto ein Unterwassermikrofon einsetzt und Katha den Walgesang hört, fühlt sie sich von den Tieren beschimpft. Nur mit Mühe können die Männer sie festhalten und beruhigen. Roberto büßt dabei seine teure Ray Ban Brille ein, und Martin muss sie ihm ersetzen.
Das Sanktuarium für Prinzessin Diana in Gaimán ist zwar noch geschlossen, als sie dort ankommen, aber Martin weist auf den weiten Weg hin und erreicht, dass sie sich ausnahmsweise in der Diana „geweihten“ Teestube umsehen dürfen. Katha hat weiße Lilien mitgebracht, die nun von den Angestellten unter die künstlichen Blumen in einer Vase gemischt werden. Als vier einheitlich weiß gekleidete Frauen anfangen, die Tische für die Teestunde zu decken, gerät Katha erneut in Panik, denn sie befürchtet, ihr Vater habe sie erneut in eine psychiatrische Anstalt gebracht. Sie rennt ins Freie. Ohne sie über den Irrtum aufzuklären, fährt Martin mit ihr weiter.
Wie geplant, erreichen sie am Silvesterabend Huemules, wo der Bürgermeister Jorge Jones und die Mapuche-Gemeinde auf Martin Holberg warten. Ein argentinischer Großgrundbesitzer verkaufte einer niederländisch-amerikanischen Aktiengesellschaft ein Areal, das auch von den Mapuche beansprucht wird. Nun soll Martin als Beauftragter des United Nations Development Programme vermitteln. In seiner Rede versucht er den Indigenen zu erklären, dass der geplante Stausee auch für sie von Vorteil wäre, weil sie dann ihre Böden bewässern könnten. Nebenbei weist er darauf hin, dass die Mapuche nicht immer hier lebten, sondern vor 400 Jahren vor allem aus Chile einwanderten und die Ureinwohner vertrieben bzw. unterwarfen. Zwar bleiben alle höflich, aber Martins Vermittlungsbemühungen scheitern, weil die Mapuche überzogene Forderungen stellen, um möglichst viel herauszuschlagen.
Zur Vorbereitung der Geburtstagsfeier für Clementine Holberg schlachtet Treugott („Trigo“) Lagler ein Lamm.
Treugotts im Grödnertal aufgewachsener und schließlich von Faschisten auf der Straße verprügelter Vater Sebastian („Wastl“) Lagler kam 1921 nach Argentinien. Die Regierung, die Patagonien besiedeln wollte, überließ dem Einwanderer ein Stück Land in Quemquemtréu, auf dem er den Chacra El Tilo (Tilo-Hof) gründete. Sebastian Lagler ließ seine Braut Lina Demetz nachkommen, und die beiden heirateten in Buenos Aires. Sie bekamen zwei Töchter und dann als Nachzügler den Sohn Treugott. Der übernahm den Hof, als Sebastian Lagler vor 30 Jahren starb. Vor 12 Jahren folgte die Mutter dem Vater ins Grab.
Im Alter von 28 Jahren war Treugott ein einziges Mal mit seinen Eltern in Südtirol gewesen. Dort hatte er die Möglichkeit entdeckt, mit Sommerfrischlern zusätzliches Geld zu verdienen. Später baute er auf dem Tilo-Hof ein Gästehaus. Zu den Stammgästen gehörten schon bald die Familien Holberg und Königsberg.
Seine Frau lernte Treugott über eine Heiratsvermittlung kennen. Rotraud Kretschmer kam aus Bochum. Bei ihren Eltern handelte es sich um Bauern, die mit ihrer fünfjährigen Tochter von ihrem Hof in Neutitschein in Nordböhmen vertrieben worden waren. Der Vater, der im Krieg einen Arm verloren hatte, arbeitete in Bochum bei der Post. Treugott holte Rotraud in Buenos Aires vom Flugplatz ab. Dass sein rechtes Bein kürzer war, hatte er ihr nicht geschrieben. Er war wegen des Hinkens und eines leichten Buckels in der Schule verlacht worden, hatte aber dann heimlich so hart trainiert, dass er bei einem anlässlich einer Kirmes veranstalteten 1000-Meter-Lauf als Zweiter durchs Ziel lief. Er ist jetzt Ende 50. Durch das Hinken sind seine Hüftgelenke inzwischen kaputt. Seit Jahren werden die Schmerzen immer schlimmer.
Acht Jahre nach der jüngeren Tochter, die inzwischen längst verheiratet ist wie ihre ältere Schwester und ihr eigenes Leben führt, bekamen Treugott und Rotraud Lagler noch einen Sohn: Enrique („Quique“). Seit Rotraud Quique stillte, haben ihre Brüste nicht mehr aufgehört, Milch abzusondern. Sie ist jetzt Mitte 50. Quique verfügt zwar über eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe und könnte Mohnkörner sortieren, aber seine Talente setzt er vor allem ein, um Tiere zu quälen. An diesem Tag – dem 31. Dezember 1999 – ertappt Rotraud ihren Sohn dabei, wie er Frösche und Kröten mit Kupferdrähten an eine Autobatterie gefesselt hat, ihnen Stromstöße verabreicht und dabei über die zuckenden Tiere ejakuliert. „Du Saukerl!“, schreit sie und will ihn schlagen, aber er läuft davon.
Clementine Katharina Holberg, die Frau, die am Neujahrstag ihren 90. Geburtstag auf dem Tilo-Hof feiern wird, stammt aus Wien. Dort wurde sie von dem Medizinstudenten Georg („Schorsch“) Plasch aus Korneuburg umworben, aber bald nach ihrem 22. Geburtstag wandte sie sich dem argentinischen Kunstgrafiker und Cellisten Alberto Holberg zu, dessen Vater als Konsul an der argentinischen Botschaft in Wien tätig war. Nachdem Alberto sein Praktikum an der Albertina absolviert hatte, nahm er sie an Bord eines Dampfers mit nach Buenos Aires und heiratete sie. Erst in der neuen Heimat fand Clementine heraus, dass Alberto nicht so reich war, wie es in Wien ausgesehen hatte, sondern einer zwar angesehenen, aber verarmten Familie angehörte. Immerhin verfügten die Holbergs über eine Stammloge im Teatro Colón.
Jahrzehnte nach ihrer Auswanderung hörte Clementine erstmals wieder von Georg Plasch. Er schrieb ihr einen Brief, berichtete, dass er als Unfallchirurg praktiziere, mit einer zänkischen Frau verheiratet sei und eine schizoide Tochter habe. Als er ihr dann vor 21 Jahren mitteilte, er liege mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus, reiste Clementine nach Wien, doch als sie eintraf, war er bereits tot.
Ihr Ehemann Alberto starb vor elf Jahren ebenfalls.
Bald nach dem Tod ihres Ehemanns hatte Clementine einen Kreis überlebensfroher, kartenspielender und tortenverzehrender Witwen kennengelernt.
Clementine freundete sich mit Hedwig Holzapfel an, der 15 Jahre jüngeren Witwe des österreichischen Chemikers Helmut Holzapfel. Der hatte sich zuletzt noch mit Strichjungen in Absteigen herumgetrieben. Als Hedwig und die beiden 16 bzw. 18 Jahre alten Kinder Eva und Haroldo davon erfuhren, vergiftete er sich [Suizid]. Haroldo schloss sich nach dem Sturz Isabel Peróns der Stadtguerilla an und tauchte unter. (Erst sehr viel später erfuhr Hedwig von seinem Tod.) Eva warf sich vor eine U-Bahn, aber ihre Mutter erzählte überall, ein Mordkommando der Militärdiktatur habe sie aufs Gleis gestoßen. Aus Evas Tagebuch erfuhr Hedwig, dass die Geschwister eine inzestuöse Beziehung gehabt hatten und Eva von ihrem eigenen Bruder defloriert worden war. – Hedwig starb vor einigen Jahren an Krebs.
Clementines andere Freundin, die ehemalige Sängerin Olga Rebikoff, ist ebenfalls tot. Als Olga zwei Jahre alt war, flohen ihre Eltern mit ihr vor den Revolutionären aus St. Petersburg nach Argentinien. – Am Neujahrstag glaubt Clementine, ihre Freundin in der Krone der von Sebastian Lagler gepflanzten Linde zu sehen.
Ja, ohne Zweifel und unverkennbar schwebte dort oben Olga Rebikoff. Sie trug immer noch das graue Chanel-Kostüm, das die Fülle ihrer Figur so unvorteilhaft hervortreten ließ und das sie zuletzt getragen hatte, als sie vor sieben Jahren auf dem Trottoir in der Nähe ihrer Wohnung zusammengebrochen war. Herzversagen. Na, bei ihrem Übergewicht.
Und nun winkte Olga Rebikoff ihr einladend zu, als wäre nichts gewesen. „Komm mit mir“, musste Clementine hören, „komm schon, es ist an der Zeit.“
„Das weiß ich doch“, erwiderte sie. Wie gut man einander trotz der Entfernung hören konnte! „Ich würde schon sehr gerne mitgehen, am liebsten sofort, glaub mir’s, aber heute muss ich noch meinen Geburtstag feiern, meinen neunzigsten und letzten, und, stell dir vor, ich hab das dritte Jahrtausend erreicht. Mein Sohn Martin wird kommen, und meine Enkelkinder Gabriel und Katharina auch. An so einem Tag kann ich mich nicht einfach grußlos davonmachen; das könnte ich Elias und Treugott und Siegmund nicht antun.“
Martin ist ihr einziges Kind. Clementine missbilligt es, dass er für Katha einen gewaltigen Umweg in Kauf nimmt und statt an Silvester erst an ihrem Geburtstag eintreffen wird. Was allein die Unterbringung Kathas in einer Nervenheilanstalt gekostet haben mag!
Als Rotraud ihr anvertraut, dass sie Angst habe, Treugott könne bald gar nicht mehr gehen, meint Clementine:
„Das ist der Kommunismus, Rotraud, der zerfrisst den Geist und dann erfasst er den Körper. Wir haben dagegen angekämpft – und fast gesiegt –,aber das wird bis heute nicht verstanden.“
„Nein, Clementine, die Hüftgelenke sind’s.“
Zu diesem Zeitpunkt wartet Clementines Enkel Gabriel mit seinem Gleitschirm auf dem Felsplateau am Westhang des Piltriquitrón auf Enzo Cirigliano, der für die Fluggenehmigung zuständig ist. Einem Wunsch seiner Großmutter entsprechend möchte Gabriel wie ein Erzengel vor den im Garten des Tilo-Hofs versammelten Gästen der Geburtstagsparty einschweben.
Nachdem Gabriel Holberg nacheinander Literaturwissenschaft, Philosophie, Politologie und Soziologie belegt hatte, brach er das Studium ganz ab und schloss sich der von dem deutschstämmigen Hans-Heinz Futterer geführten Sekte der Schaler an, die sich in einer von dem Waliser Millionär Peter Dafydd vor 50 Jahren bei Quemquemtréu errichteten Märchenburg eingerichtet hat. H. H. Futterer lebt dort mit seiner Hauptfrau Erika („Erda“) Siskaukas, seiner Nebenfrau „Mausi“ und den übrigen Sektenmitgliedern. Am Vortag schnitt Futterer sich im Kreis seiner Jünger eine Warze aus dem Gesicht und fing das Blut in einer Schale auf. Da lief Gabriel davon. Dass der Sektenführer nach der Selbstverstümmelung zu toben begann und schließlich gefesselt und schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht wurde, bekam er nicht mehr mit.
Gabriel ist weltverdrossen:
„Mir sind alle, die das Leben so ohne Weiteres lebenswert finden und anpreisen, zutiefst suspekt und widerwärtig. […] sind doch sämtliche Konflikte, Gewalttaten und menschenfeindlichen Handlungen auf dieser Welt nur die natürliche Folge unseres begründeten Entsetzens – nämlich darüber, dass wir in diesem unerwünschten Leben zusammen mit unerwünschten Leuten bis zu unserer unerwünschten Auflösung ausharren müssen.“
Enzo Cirigliano verspätet sich, und weil Gabriel kein Handy besitzt – in der Sekte darf nur H. H. Futterer eines haben –, wartet er, ohne eine Nachricht zu bekommen. Enzo, der auch als Krankenwagenfahrer beschäftigt ist, entschuldigt sich schließlich damit, dass er außer dem Sektenführer bereits drei am Hantavirus erkrankte Personen in die Klinik habe fahren müssen.
Enzos mit Clementine befreundeter Großvater Fritz Cirigliano war Verbindungsmann deutscher und italienischer Nachrichtenzellen im Trentino gewesen. Nach seiner Emigration avancierte er in Quemquemtréu zum „Vater des Tourismus“, führte zusammen mit Siegmund Rohr das Hotel „Tirol“ und versuchte, Hitlers Haus auf dem Obersalzberg nachzubauen.
Fritz Cirigliano ruft Siegmund Rohr am Neujahrstag an. Der Freund und frühere Geschäftspartner soll ihn und „Möische“ bei Clementine entschuldigen. Das Paar will der Geburtstagsfeier wegen der befürchteten Hantavirus-Epidemie fernbleiben.
Siegmund („Sigi“) Rohr ist 91 Jahre alt und bewohnt mit seinem Dackel ein Chalet unterhalb des Tilo-Hofs.
Wer sein Vater war, weiß er nicht. Seine Mutter war schwanger in ihre Heimatstadt Mauthausen zurückgekommen, nachdem sie in Wien als Dienstmagd gearbeitet hatte.
Später quälte ihn der Argwohn, warum sie ihn ausgerechnet Siegmund genannt hatte – das klang doch ziemlich nach jüdischer Tarn-Assimilation! Sie hatte ihm nie verraten wollen, in welcher Familie sie in Wien gedient hatte, ob es der Kutscher, der Gärtner oder gar der Herr oder der Sohn des Hauses gewesen war.
Als Siegmund sich gleich nach dem „Anschluss“ Österreichs zur SS meldete, wurde er abgewiesen, weil die eine Hälfte seines Stammbaums fehlte. Er wurde dann Kellner in einem Offizierskasino, Obergefreiter an der Gulaschkanone hinter der Ostfront und Aufseher im KZ Mauthausen. Im November 1948 heuerte er als Steward in der Offiziersmesse des Auswandererschiffs „North King“ an und blieb nach der Ozeanüberquerung in Argentinien. In Barcelona war sein Freund Fritz Cirigliano mit einem anderen Mann an Bord gekommen, der sich als Peter Schlosshauer vorstellte und so tat, als kenne er Siegmund nicht, obwohl dieser wusste, dass er mit Vornamen Jost hieß, denn sie hatten beide im KZ Mauthausen gedient. Erst Jahre später, als Siegmund und Fritz bereits zusammen das Hotel „Tirol“ in Quemquemtréu besaßen, kamen sie noch einmal auf den Passagier zu sprechen. Der hatte Fritz vorgelogen, er habe in der NS-Zeit streng geheine Aufgaben erfüllt und sei vom argentinischen Staatspräsidenen Juan Perón als Berater angefordert worden.
Für den Aufstieg zum Tilo-Hof rechnet Siegmund Rohr mit einer dreiviertel Stunde. Unterwegs beobachtet er einen Paraglider, ohne zu wissen, dass es sich um Gabriel Holberg handelt. Zu spät merkt er, dass er nicht nur seinen Panama-Hut, sondern auch den aus 24 roten Rosen zusammengestellten Blumenstrauß für seine Freundin Clementine vergessen hat. Sie wird sich ärgern, wenn er kein Geburtstagsgeschenk mitbringt.
Auf halbem Weg hält ein Auto neben Siegmund. Es sind Martin und Katha. Sie nehmen ihn mit hinauf zum Tilo-Hof.
Zu den Gästen der Geburtstagsfeier im Garten gehören außer ihnen der greise Psychiater Elias Königsberg und seine Frau Gretl, eine geborene Gumbinner, sowie Gretls Neffe Benny Krohn, der in Jerusalem als Zahntechniker arbeitet, und dessen israelische Frau Sarah. Gretls Eltern und ihre Schwester Ilse erhielten von den Nationalsozialisten noch Ausreisegenehmigung nach Palästina, Gretl und Elias wurden von Patricio Holberg gerettet, dem argentinischen Konsul in Wien. Aber Ilses Ehemann Moritz Krohn – Bennys Vater – kam im KZ Mauthausen ums Leben.
Die Dienstmädchen Delia und Mirta – es handelt sich um Mutter und Tochter – haben die Tafel unter der Linde gedeckt. Rotraud hat Kipflerkartoffelsalat gemacht, und Treugott ist für das Asado zuständig: nach allen Regeln der Kunst grillt er das von ihm geschlachtete und noch nicht tranchierte Lamm.
Kurz bevor das Geburtstagsessen beginnt, landet Gabriel. Seine Schwester, die voller Freude über das Wiedersehen nach zwei Jahren auf ihn zuläuft, umarmt er herzlich, aber seinen Vater beachtet er kaum.
Elias hält eine Rede:
Drei Generationen der Familie unseres Geburtstagskinds sitzen hier vereint am Tisch, die drei Generationen Holberg/Kohlgruber und mit ihnen wir, ihre Lebensfreunde. Zusammen bilden wir eine große Familie, deren gemeinsames Zuhause der Tilo-Hof ist. […] Bei allen Unterschieden des Alters, der Berufe und Interessen verbindet uns, gewissermaßen im Verborgensten, eines: die Herkunft aus einer mitteleuropäischen Heimat und die Ansiedlung in einem neuen Zuhause. Unser Ostrazismus, unser Scherbengericht, hatte verschiedene Ursachen, aber wir haben einen gastfreundlichen Boden gefunden.
Als Traugott sich Kartoffelsalat aus der Bleikristallschüssel nehmen möchte, die Rotrauds Mutter auf der Flucht als nahezu einzigen Besitz hatte retten können, indem sie das Erbstück auf dem Bauch festgebunden und eine Schwangerschaft vorgetäuscht hatte, durchzuckt ihn ein stechender Rückenschmerz. Traugott lässt die Schüssel fallen. Sie zerbricht.
Und Elias konnte oder wollte sich angesichts der Trümmer – und vielleicht in der Hoffnung, den betroffen dreinschauenden Treugott zu erheitern – einen Kalauer, der ihm auf der Zunge brannte, nicht versagen: „Jetzt ist aus dem kakanischen Kartoffelsalat ein Scherbengericht geworden.“
Nachdem Rotraut sich von dem ersten Schrecken erholt hat, schiebt sie unvermittelt einen chromglänzenden Rollstuhl herbei und sagt:
„Jetzt komm schon, Trigo, sei so gut – setz dich da einmal hinein. Das wird dein Leben ändern.“
Elias steht besorgt auf, aber statt – wie erwartet – zu protestieren, setzt Treugott sich widerstandslos in den neuen Rollstuhl. Währenddessen kehren Mirta und Delia die Scherben auf. Nachdem Elias sich nun keine Sorgen mehr über Treugotts Reaktion auf den Rollstuhl macht, schaut er sich mit Muse Mirtas im Ausschnitt schwingende Brüste an und wundert sich über die großen Nippel. Martin genießt den Anblick ebenfalls – und hofft, dass Mirta sich nachts zu ihm schleichen werde.
Zum Abschluss des Geburtstagsessen trägt Rotraud noch eine riesige Dobostorte mit neun brennenden Kerzen auf.
Siegmunds Dackel, der – so das Herrchen – über hellseherische Fähigkeiten verfügt, beginnt unter dem Tisch zu bellen. Ein Gast nach dem anderen verlässt die Tafel. Clementine ärgert sich darüber, dass sie schließlich allein zurückbleibt. Was gibt es an ihrem Geburtstag Wichtigeres, als mit ihr zu feiern?! Erst jetzt fällt ihr auf, dass Fritz und „Mausi“ Cirigliano gar nicht gekommen sind.
Quique hat seinen Vater in der Schlachtkammer gefunden. Treugott erhängte sich.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In seinem Roman „Scherbengericht“, einer tragikomischen Mischung aus Realsatire und Gesellschaftskomödie, führt Germán Kratochwil ein Dutzend durchwegs angeschlagener, leidgeprüfter Personen zusammen. Die Palette reicht vom hochbetagten Greis bis zum lebensüberdrüssigen 25-jährigen Sektenmitglied, vom Dorftrottel bis zur psychisch labilen jungen Frau. „Plemplem in Quemquemtréu“ überschreibt Wolfgang Schneider seine Rezension („Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 29. September 2012). Zur Feier eines 90. Geburtstags versammeln sich auf einem Bauernhof in Argentinien sowohl Juden als auch ehemalige Nationalsozialisten, die ihre Überzeugungen nicht grundlegend geändert haben. Es ist eine skurrile Gesellschaft mit ungelösten Familienproblemen und persönlichen Animositäten.
Die Handlung spielt an drei aufeinanderfolgenden Tagen (30. Dezember 1999 bis 1. Januar 2000). Auf zwölf der dreizehn Kapitel verwendete Germán Kratochwil durchschnittlich 20 Seiten, nur das vorletzte Kapitel über die Geburtstagsfeier am 1. Januar 2000 („Clementine und die anderen“, S. 245 – 300) ist fast dreimal so lang. Hier laufen die Handlungsstränge zusammen, und „Scherbengericht“ steuert auf den Höhepunkt zu.
Germán Kratochwil hat Unmengen zu erzählen, und er verliert dabei nicht den Überblick, obwohl er in „Scherbengericht“ nicht nur von Kapitel zu Kapitel den Handlungsstrang und die Perspektive wechselt, sondern auch noch Rückblenden einbaut. Die eine oder andere Szene wird aus einem anderen Blickwinkel kurz wiederholt, und das ist alles überzeugend komponiert. Dass die Kapitel mit Personennamen überschrieben sind, passt dazu, zumal Germán Kratochwil jeder Figur eine eigene Sprache zugeordnet hat.
All diesen Stimmen gemeinsam ist eine eher reflexive als auf „Action“ bedachte Erzählhaltung.
Germán Kratochwil wurde 1938 in der niederösterreichischen Stadt Korneuburg geboren. Er war noch ein Kind, als die Familie nach dem Zweiten Weltkrieg auswanderte und sich in Argentinien ansiedelte. In Buenos Aires, München, Berlin und Hamburg studierte Germán Kratochwil Soziologie und Architektur. Nach der Promotion als Sozialwissenschaftler, 1973 in Hamburg, engagierte er sich jahrzehntelang in Genf und Lateinamerika für internationale Organisationen. Im Alter von 74 Jahren veröffentlichte Germán Kratochwil mit „Scherbengericht“ seinen ersten Roman, mit dem er es auf Anhieb in die Longlist der Kandidaten für den Deutschen Buchpreis 2012 schaffte. Sein zweiter Roman trägt den Titel „Rio Puro“ (Picus Verlag, Wien 2013).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Picus Verlag