Martin Walser : Das dreizehnte Kapitel
Inhaltsangabe
Kritik
Der Schriftsteller Basil Schlupp und seine Ehefrau Iris Tobler fahren mit einem Taxi zum Schloss Bellevue in Berlin. Aus Anlass des 60. Geburtstags von Prof. Dr. Korbinian Schneilin hat der Bundespräsident ein halbes Dutzend Wissenschaftler – und den Schriftsteller – mit ihren Partnerinnen zu einem Abendessen eingeladen. Schneilin ist Molekularbiologie. Er lehrte an der Stanford University und konnte mit einem Nobelpreis rechnen, aber dann beendete er seine akademische Karriere, um die Firma Transmitter zu gründen, die „Medikamente nach Maß“ produziert. Die Festschrift für den Jubilar trägt den Titel „Von der Liebe zur Genauigkeit“.
Basil Schlupp verdankt seine Einladung dem persönlichen Referenten des Bundespräsidenten, der von seinem letzten Roman „Strandhafer“ begeistert ist. Der Schriftsteller sitzt rechts neben der Frau des Bundespräsidenten. Bei seiner Tischdame handelt es sich um Frau Dr. Schneiderhahn-Korbitzky, die Ehefrau eines Nobelpreisträgers für die Quantenphysik ultrakalter Atome. Aber statt Konversation mit ihr zu machen, starrt Basil fasziniert die Ehefrau des Ehrengastes schräg gegenüber an, die Theologie-Professorin Dr. Maja Schneilin. Und weil sie ihn nicht beachtet, sondern mit dem Hirnforscher neben ihr redet, versucht Basil ihre Aufmerksamkeit zu erregen, indem er nach drei Gläsern Frankenwein in die Runde sagt: „Das Leben ist zu kurz, um deutsche Weine zu trinken.“ Und auf die Proteste reagiert, indem er auf einen Zug ein Glas Spätburgunder von der Ahr leert.
Zwei Wochen später schickt er Maja Schneilin einen Brief. Die Adresse bekam er vom persönlichen Referenten des Bundespräsidenten, dem er vorgelogen hatte, die Persönlichkeit Prof. Korbinian Schneilins habe ihn so beeindruckt, dass er ihm schreiben müsse. Wider Erwarten antwortet Maja Schneilin. Basil ist hingerissen, nicht zuletzt von der schönen Handschrift auf beigem Büttenpapier. Die Theologin schreibt dem „Briefeabenteurer“:
Nennen wir’s ein Experiment, in das wir, ohne es zu wollen, hineingeraten sind. Aber verantwortlich sind wir trotzdem.
Wir sind die Extreme, die einander berühren. Und zwar durch nichts als ihr Extremsein. Das Extremsein als solches. Eine Art reiner Rücksichtslosigkeit. Das ist wie eine Versuchsanordnung.
Zu Beginn der Korrespondenz versichern beide, dass sie ihre Ehehälften lieben.
Basil erzählt von seiner Frau. Vor 30 Jahren promovierte die damals 25-jährige, bei ihrem Vater, einem Tierarzt in Leupolzweiler, wohnende Iris Tobler in München in Tierheilkunde. Dann lernte sie den fünf Jahre älteren Architekten Beatus Niederreither kennen und zog zu ihm nach Berlin. Vier Jahre blieben sie zusammen, dann trennte Iris sich von Beatus, und mit 31 heiratete sie Basil Schlupp. Sie schreibt erfolgreiche Fernsehserien für Kinder, wie „Haldenhof“.
Beatus Niederreither erkrankte an Multipler Sklerose, und als er nach dem fünften Schub im Rollstuhl saß, rief er Iris an. Seither schiebt sie ihn wenigstens einmal im Monat durch die Stadt.
Anders als Basil hat Iris noch ihren Führerschein. Aber sie fährt so langsam, auch auf der Autobahn, dass sie bereits mehrmals Bußgeld bezahlen musste. Und an Kreuzungen hält sie, auch wenn sie die Vorfahrt hat. Das verwirrt andere Autofahrer, und einmal kam es dadurch zu einem Blechschaden.
Aber Basil meint:
Das Älterwerden hat bei ihr nichts zerstört, auf das ich hätte nicht verzichten können. […] Wahrscheinlich hat das Älterwerden mich viel mehr ruiniert als Iris.
Zur Zeit sammelt Iris Ideen für ein Buch mit dem Titel „Das dreizehnte Kapitel“. Überall liegen Zettel mit Notizen herum. Basil hat etliche davon abgeschrieben und zitiert sie nun in einem Brief an Maja. Eines der Epigramme lautet:
Die meisten leiden ohne Gewinn.
Maja ist die Tochter eines Orientalisten. Sie hieß schon als Kind Schneilin und ist eine Cousine zweiten Grades ihres Ehemanns, über den sie schreibt:
Korbinian ist unendlich tolerant. Vernichtend tolerant.
Sie erzählt ihrem Brieffreund von Korbinians einzigem Freund Ludwig Froh. Die beiden Männer lernten sich in einem Gasthaus im Schwarzwald kennen und unternahmen von da an jedes Jahr miteinander eine große Radtour. Korbinian hat schon alles befahren, was zwischen Pyrenäen und Karpaten hoch ist. Die beiden Frauen wurden in die Freundschaft einbezogen: Die Paare trafen sich abwechselnd bei den Schneilins in Zehlendorf und in der Villa der Frohs am Wannsee. Ludwig Froh hatte seine Dissertation abgebrochen, war dann aber von der Technischen Universität Dresden zum Doktor ehrenhalber ernannt worden. Weil die Promotionsfeier ausgerechnet am 11. September 2001 stattgefunden hatte, waren von den 99 geladenen Gästen nur 12 gekommen. Er besitzt eine große Druckerei. Luitgard, seine vierte Ehefrau, ist 20 Jahre jünger als er. Sie hatte bei Heribert Brennstuhl in Berlin über Marienverkündigung promoviert. Auf einem Hof bei Eschwege, den sie von einem italienischen Ehepaar bewirtschaften lässt, züchtet sie Berner Sennenhunde. Die Frohs sind leidenschaftliche Tänzer, und um an Turnieren teilnehmen zu können, wechselte Luitgard mit 35 in die Seniorenklasse. Vor zwei Jahren erschienen die beiden nicht zu einem Abendessen bei den Schneilins, obwohl sie zugesagt hatten. Sie ließen einfach nichts mehr von sich hören. Inzwischen veröffentlichte Ludwig Froh ein Buch mit dem Titel „Hoch hinaus“. Die drei Teile sind mit „Kameraden“, „Freunde“, „Das Imperium“ überschrieben. Im mittleren Teil äußert der Autor sich verächtlich über ein Paar, mit dem nur Maja und Korbinian gemeint sein können. Maja hat es gelesen und hofft, dass ihr Mann nicht auch auf das Buch stößt, denn er leidet auch so schon genug unter der Zurückweisung durch den Mann, den er für seinen Freund hielt.
Über die Brieffreundschaft, die Maja ebenso wie Basil ihrem Ehepartner verschweigt, meint sie:
Wahr ist, dass wir, Sie und ich, so schön irreal sind, dass wir das unseren Nächsten, die wir offenbar beide gleichermaßen lieben, nicht zumuten wollen. Oder können? Oder dürfen? Oder müssen?
Sie und ich sagen einander, was wir keinem anderen sagen können. Was wir aber ungesagt nicht ertragen. Wir sagen einander das Unsägliche.
[…] tun wir’s, Sie und ich, proludisch und promissorisch und propudistisch und prognostisch und profund! Und, bitte, propurgistisch!
Und Basil ergänzt:
Unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit.
Am 16. Oktober 2010 erhält Basil statt eines handgeschriebenen Briefes auf Büttenpapier eine E-Mail. Kurz zuvor begegneten sie sich am Flughafen Tegel, er kam aus Frankfurt am Main und sie ist unterwegs zu ihrem Vater in Starnberg. Geistesgegenwärtig rief er ihr seine E-Mail-Adresse zu, und während sie auf das Boarding wartet, schreibt sie ihm auf ihrem iPhone.
Am 8. November duzt Maja ihren Briefpartner erstmals, aber nach dem 23. November wartet er vergeblich auf weitere Mitteilungen von ihr. Einen Monat später hält er es nicht mehr aus und schreibt:
Wurde mir die Luitgard-Ludwig-Geschichte serviert, um das, was jetzt herrscht, vorzubereiten?
Darauf antwortet sie dem „sehr geehrten Herrn Schlupp“ am 30. Dezember kühl, sie habe sein Interview in einer Frauenzeitschrift mit der Überschrift „Gelegenheit macht Liebe“ als Verrat empfunden. Noch am selben Tag schreibt er zurück:
Die Interviewerin hat gefragt: Welche Rolle haben Frauen in Ihrem Leben gespielt? Ich habe geantwortet dass ich Frauen gegenüber immer höflich sein wollte. Dass das meiste, was zwischen mir und Frauen geschah, aus Höflichkeit geschah. Sollte das Ihren Unwillen geweckt haben?
Obwohl Maja erklärt, sie werde keine Briefe von ihm mehr lesen, schreibt er weiter.
Sie haben in dem Interview meine Gefallsucht gespürt, erkannt, Sie haben daraus geschlossen, dass alles, was ich Ihnen geschrieben habe, ganz unwahr sei, weil es nur von der Sucht, aller Welt zu gefallen, diktiert war. Das hat sie verletzt. Das musste Sie verletzen. Dass ich meine Gefallsucht Höflichkeit nenne, finden Sie schrecklich.
Am 1. Februar 2011 fordert sie ihn nochmals auf, sie in Ruhe zu lassen, aber Basil hält sich nicht daran, und am 28. Februar gibt sie sich geschlagen.
In ihrem Brief vom 17. März heißt es:
Lieber Basil Schlupp, unsere Rechtfertigung war die Aussichtslosigkeit. Weil es aussichtslos war, durfte es sein. Wir haben beide mit dem ALS OB gespielt. Wir haben geflirtet mit der Unmöglichkeit.
Am 12. April berichtet sie, dass bei ihrem Mann zwei Tage vor der Vorstellung eines über ihn gedrehten Films („Der Weg zum Heil“) ein bösartiger Tumor in der Bauchhöhle diagnostiziert wurde. Drei Tage später fand die erforderliche Operation statt, und in einem Monat soll mit der Chemotherapie begonnen werden.
Korbinian will nun unbedingt noch eine große Radtour unternehmen. Maja trainiert mit ihm zusammen.
Am 2. Juni 2011 schickt sie Basil eine E-Mail aus Breaburn im Nordwesten Kanadas. Maja und Korbinian flogen nach Whitehorse. Dort holte Roderich Wegelin sie ab. Roderich ist seit acht Jahren Korbinians Chauffeur und hilft Maja bei der Gartenarbeit. Er fiel ihr vor dem KaDeWe auf, wo er Broschüren der Zeugen Jehovas hochhielt. Als sie ihn fragte, ob er an einer Anstellung als Fahrer interessiert sei, sagte er mit Tränen in den Augen zu und verwies darauf, dass er zweimal am Rennen Paris-Dakar teilgenommen habe. Nun sind Maja und Korbinian mit den Rädern unterwegs nach Norden. Roderich folgt ihnen mit dem Wagen und versorgt sie. Sie haben vor, bis nach Inuvik zu radeln. Von dort wollen sie über Yellowknife und Calgary nach Frankfurt zurückfliegen.
Ich fahre doch nur, um ihm zu zeigen, dass ich bei ihm bin, egal, wohin es geht.
Am Lake Laberge besucht Roderich den Freund, mit dem er die Rennen Paris-Dakar fuhr. George ist Musher und besitzt 25 Huskys, bei seiner Frau handelt es sich um eine Indianerin vom Stamm der Tutchone. Er gibt Roderich einen Roman von Jack London mit: „The Call of the Wild“ („Der Ruf der Wildnis“).
Maja tippt alle paar Tage eine E-Mail an Basil in ihr iPhone, aber er antwortet wunschgemäß nicht darauf.
Am 26. Juni erhält er eine Mail aus Dawson City. Maja berichtet, dass Korbinian alle Gäste im Restaurant der Lodge mit Chivas Regal freigehalten habe und erst zufrieden gewesen sei, als die Vorräte ausgetrunken waren.
Eine peinliche Szene ereignet sich dreieinhalb Wochen später in Eagle Plains: Als der Kellner Korbinian Graved Lachs mit Sour Cream und French Fries serviert, behauptet dieser, etwas anderes bestellt zu haben, er esse grundsätzlich nur Baked Potatoes zu Graved Lachs. Maja erinnert die Art, wie Korbinian sich beim Kellner beschwert, obwohl er im Unrecht ist, an Ludwig Froh. Auch die großspurigen Handbewegungen sind ähnlich. Mit einem Blick drückt sie dem Kellner ihr Bedauern aus, bittet Roderich, alles zu regeln und verlässt mit Korbinian das Restaurant. Nachdem er im Cabin ein Zigarillo geraucht und vier Gläser Whisky getrunken hat, kehrt er mit ihr ins Restaurant zurück und bestellt erneut Graved Lachs mit Sour Cream und French Fries.
Am 25. Juli liest Basil noch einmal eine Mail von Maja aus Eagle Plains, aber danach folgt nichts mehr. Am 11., 17. und 21. August schickt er ihr Nachrichten, die nicht beantwortet werden.
Beatus Niederreither erschießt sich. Iris verbrennt daraufhin das Manuskript von „Das dreizehnte Kapitel“.
Dann erhält Basil einen am 29. August datierten Brief von Roderich Wegelin. Maja Schneilin habe ihm aufgetragen, Basil Schlupp zu informieren, falls ihr etwas passiere, schreibt er. Er hat die Kopie eines Briefes vom 27. August beigelegt:
Eagle Plains, 27. August 2011
Lieber Roderich,
die Zeit, die mein Professor mir gegeben hat, ist fast vorbei. Maja will, sagt sie, bei mir bleiben, also nehm ich sie mit.
Den Rest regelst Du.
Dafür ist alles vorbereitet.
Es grüßt Dich Dein Dir immer ergebener Chef
Korbinian Schneilin
Martin Walser beginnt seinen Briefroman „Das dreizehnte Kapitel“ mit einer satirischen Szene: Zur Feier des 60. Geburtstags eines erfolgreichen Wissenschaftlers und Unternehmers hat der Bundespräsident ins Schloss Bellevue eingeladen. Erst das zweite Kapitel ist ein Brief. Im 18. Kapitel wird erstmals ein Datum genannt (16. Oktober 2010), denn Maja Schneilin tippt ab jetzt E-Mails in ihr iPhone, statt mit Tinte auf Büttenpapier zu schreiben. Im 26. und 27. Kapitel lesen wir einen inneren Monolog Basil Schlupps. Dann wird die Korrespondenz fortgeführt.
Die Theologin Maja Schneilin nennt Karl Barth als Vorbild und verweist auf dessen Briefwechsel mit Charlotte von Kirschbaum (Karl Barth, Charlotte von Kirschbaum: Briefwechsel, Band 1, 1925 – 1935, Theologischer Verlag Zürich 2008). Allerdings wohnte Charlotte von Kirschbaum ab 1929 mit Karl Barth, dessen Ehefrau und den Kindern unter einem Dach, während Maja Schneilin und Basil Schlupp sich nur zweimal kurz sehen.
„Das dreizehnte Kapitel“ erschien im September 2012. Genau 100 Jahre davor, am 20. September 1912, schrieb Franz Kafka den ersten Brief an Felice Bauer (Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Hg.: Erich Heller und Jürgen Born, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 1976). Martin Walser, der über Franz Kafka promovierte, ist dies gewiss nicht entgangen.
Dass ein älterer Schriftsteller einer Theologin schreibt, die ihn beim Empfang des Bundespräsidenten kaum beachtete, sich dann aber auf eine intime Korrespondenz mit ihm einlädt, die den Ehepartnern verschwiegen wird, mag konstruiert wirken. Wer sich daran nicht stört, wird bei der Lektüre auf hohem Niveau gut unterhalten.
[…] mit welch wunderwitziger Delikatesse schildert Walser im Wechsel der Perspektiven das schüchtern-forsche Sichumgarnen zweier nicht mehr junger Menschen, mit wie viel Zartheit und graziler Komik entspinnt er die süße Pein dieser amourösen Nachblüte: hier der nicht uneitle Schriftsteller, mit katholisch barocker Prunkrhetorik offensiv balzend, Süßholz raspelnd und drechselnd, eine Brachialmimose, fast noch mehr betört vom eigenen Hormonsturm als von der Adressatin, die diesen in ihm entfacht, und die verbotene Frucht der Verstohlenheit sichtlich genießend.
[…] Wo er tändelt und sülzt, ist sie klar und bestimmt, nimmt der Anbahnung alles Frivole, indem sie das, was den beiden widerfährt, ins Metaphysische hochschraubt.
(Christopher Schmidt: Walsers großes Werk der Liebe, Süddeutsche Zeitung, 10. September 2012)
Den Roman „Das dreizehnte Kapitel“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Martin Walser (Regie: Gabriela Jaskulla, Berlin 2012, 420 Minuten, ISBN 978-3-8398-1199-3).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Rowohlt Verlag
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