Henning Mankell : Erinnerung an einen schmutzigen Engel
Inhaltsangabe
Kritik
Bevor der schwedische Waldarbeiter Arthur Olaus Angus Renström im Januar 1899 stirbt, sagt er zu seiner 14-jährigen Tochter Hanna:
Ein schmutziger Engel. Das ist es, was du bist.
Die Witwe Elin Renström bemüht sich, den Lebensunterhalt für sich und ihre vier Kinder auf dem ärmliche Hof zu erwirtschaften, den sie und ihr Mann 1883 in Ljungdalen übernommen hatten. Aber im Herbst 1903 erklärt sie Hanna, sie könne nicht mehr als drei Kinder durchbringen. Deshalb wird Hanna am 17. Dezember 1903 – fünf Tage nach ihrem 18. Geburtstag – von dem Reeder und Kaufmann Jonathan Forsman im Schlitten nach Sundsvall mitgenommen. Sie soll dort bei Elins Bruder Axel Andreas Wallén und dessen Ehefrau Dora leben, deren zwei Kinder bereits gestorben sind.
Nach der Ankunft in Sundsvall beauftragt Jonathan Forsman einen seiner Angestellten, nach dem Ehepaar Wallén zu suchen. Aber die Walléns sind offenbar fortgezogen, und niemand weiß, wohin. Forsman nimmt Hanna deshalb erst einmal bei sich auf und beschäftigt sie als Dienstmagd.
Die 18-Jährige freundet sich mit Berta an, die im Alter von 13 Jahren bei Forsman als Dienstmagd anfing. Bertas Vater war bei einem Unfall im Sägewerk von Essvik ums Leben gekommen und ihre Mutter im Jahr darauf an Schwindsucht gestorben. Die beiden jungen Frauen bringen sich autodidaktisch Lesen und Schreiben bei.
Hannas Aufenthalt in Sundsvall ist nicht von langer Dauer. Im April 1904 kündigt Jonathan Forsman ihr an, dass sie als Köchin an Bord seines Schiffes „Lovisa“ mitfahren werde. Kapitän Svartman hat den Auftrag, eine Ladung schwedisches Holz nach Perth in Australien zu bringen. Am 23. April sticht die „Lovisa“ in See.
An Bord verliebt Hanna sich in den fünf Jahre älteren Steuermann Lars Johan Jakob Antonius Lundmark. Während eines Aufenthalts an der nordafrikanischen Küste lassen die beiden sich von einem englischen Methodistenpfarrer trauen, und Kapitän Svartman tritt nicht nur als Trauzeuge auf, sondern stellt auch die entsprechenden Urkunden aus.
Zwei Monate später erkrankt Lars Lundmark an einem tropischen Fieber und stirbt. Bei einer Wassertiefe von 1935 Metern wird eine Seebestattung durchgeführt.
Während das Schiff im Juli 1904 zum nächsten Mal in einem Hafen liegt – es handelt sich um Lourenço Marques in der Baia da Boa Morte (heute: Maputo, Hauptstadt von Mosambik) – schleicht Hanna Lundmark sich von Bord. Die am nächsten Morgen von Kapitän Svartman eingeleitete Suche nach ihr bleibt ergebnislos, und die „Lovisa“ legt schließlich ohne die Köchin ab.
Hanna wacht mit Bauchschmerzen auf und bemerkt, dass sie zwischen den Beinen blutet. Sie war einige Zeit bewusstlos und erlitt eine Fehlgeburt. Zwei schwarze Frauen kümmern sich um sie: die Dienerin Laurinda und Felicia, von der Hanna erst später erfährt, dass es sich um eine Prostituierte handelt. Sie glaubt zunächst, in einem Hotelbett zu liegen, begreift dann aber, dass es sich um ein Bordell handelt. Das Etablissment mit dem Namen O Paraiso gehört dem Portugiesen Attimilio Vaz, der seit über 20 Jahren in Lourenço Marques lebt. Nach einer Woche stellt er sich Hanna vor und engagiert eine weiße Krankenschwester für sie, weil er den Schwarzen misstraut. Nachdem Hanna sich mit Mikroben infiziert hat, pflegt Ana Dolores sie zwei Monate lang. Die Krankenschwester erklärt ihrer Patientin:
„Die Schwarzen sind nur Schatten von uns. Sie haben keine Farbe. Gott hat sie schwarz gemacht, damit wir sie in der Dunkelheit nicht sehen müssen. Und wir sollten auch nie vergessen, woher sie gekommen sind.“
[…] Ohne Unterlass, als wäre es ein selbstverständlicher Teil von Hannas Pflege, sprach Ana Dolores von der Unterlegenheit der Schwarzen, ihrer Falschheit, ihrer Unreinheit, sowohl körperlich wie seelisch. Hannas Widerstand erlahmte. Sie nahm auf, was sie hörte, als könnte es trotz allem wahr sein.
In Lourenço Marques verbreitet sich das Gerücht, es gebe neuerdings eine weiße Hure im O Paraiso. Zu den Freiern, die regelmäßig in das Bordell kommen, gehört der Großgrundbesitzer Fredrik Prinsloo, dessen Familie aus Europa stammt, und der Safaris für reiche Jäger aus den USA veranstaltet. Er versucht Hanna zu vergewaltigen. Attimilio Vaz hindert ihn mit Hilfe eines Schimpansen daran, wirft ihn hinaus und erteilt ihm Hausverbot.
Der Unternehmer teilt die Abneigung des Großgrundbesitzers gegen die Schwarzen:
„Das hier wäre ein guter Kontinent […]. Wenn es nur nicht all diese schwarzen Menschen gäbe.“
Aber Attimilio Vaz versteht nicht, wieso Prinsloo die Schwarzen hasst. Man hasst doch auch Tiere nicht, höchstens Schlangen, Kakerlaken und Ratten.
Hanna staunt über den Schimpansen, der ein Kellnerjackett trägt. Er heißt Carlos und lebt seit fünf Jahren im O Paraiso. Sein vorheriger Besitzer musste ihn hierlassen, nachdem er sich eine Woche lang mit den Prostituierten vergnügt hatte und dann nicht bezahlen konnte.
Hanna dachte: Was geschieht mit einem Affen, der kein Affe mehr sein will? Und kann das auch mit einem Menschen geschehen? Dass er nicht mehr der sein will, der er ist.
Im Oktober macht Attimilio Vaz Hanna einen Heiratsantrag und schenkt ihr ein Haus, in das er nach der erhofften Eheschließung mit einziehen möchte. Nach längerer Bedenkzeit nimmt Hanna den Antrag des doppelt so alten einsamen Mannes an. Drei Wochen später lassen sie sich von einem katholischen Priester trauen. Aber Attimilio Vaz gelingt es nicht, die Ehe zu vollziehen. Schließlich lässt Hanna sich von der 14- oder 15-jährigen Julietta überreden, ihm mit einer Frucht ein von einer feticheira hergestelltes Mittel gegen Impotenz zu geben. Danach strengt Attimilio Vaz sich noch mehr als sonst an, aber er schafft es nicht, Hanna zu penetrieren. Und als sie am Morgen aufwacht, liegt er tot neben ihr.
In seinem Testament hat er sie als Alleinerbin eingesetzt. Die Witwe Hanna Vaz erbt nicht nur das Bordell, sondern ein gewaltiges Vermögen, zu dem auch Grundbesitz in Pretoria und Johannesburg gehört.
Als sie ein leeres Notizbuch findet, beginnt sie am 26. März 1905 mit einem Tagebuch. Sie schreibt beispielsweise:
Schwarze Menschen lügen, um nicht unnötig gequält zu werden. Weiße Menschen lügen, um die Übergriffe zu rechtfertigen, die sie begehen. Araber und Inder lügen, weil es in dieser Stadt, in der wir leben, keinen Platz mehr für die Wahrheit gibt.
Ich habe hier nichts zu suchen. Auf einem fremden Kontinent, dessen Einwohner mich entweder hassen oder fürchten.
Sie möchte die Prostituierten, die für sie arbeiten, nicht nur gut behandeln, sondern ihnen auch näherkommen, stößt damit jedoch auf Ablehnung.
Rat sucht sie bei Pedro Pimenta, einem Einwanderer aus Coimbra. Von ihrem Chauffeur lässt sie sich zu ihm fahren.
Im Alter von 17 Jahren war Pedro Pimenta als Gehilfe eines Schneiders nach Ostafrika gekommen. Nachdem er seine Anstellung verloren hatte, ließ er sich von einem indischen Geschäftsmann in die Grundlagen des Handels einführen, und im Verlauf von zehn Jahren brachte es der Analphabet zu großem Reichtum, und zwar mit deutschen Schäferhund-Albinos, die er darauf abrichtete, Schwarze zu zerfleischen. Damit verdient er an der Angst der weißen Siedler in Afrika. Auf dem zu seiner Villa gehörenden Areal hält er Krokodile, die er persönlich mit Schafen füttert. Seit einigen Jahren lebt er mit einer Einheimischen namens Isabel zusammen. Das Paar hat zwei Kinder: Joanna und Rogerio. Niemand nimmt hier Anstoß daran, dass er sich eine schwarze Mätresse hält, aber es wird missbilligt, dass er für Isabels Kinder einen Privatlehrer engagiert hat. Pedro Pimenta macht sich nichts aus der Ablehnung; er legt keinen Wert auf Gesellschaft und schlägt sogar Einladungen des portugiesischen Gouverneurs aus.
Pedro Pimenta erklärt sich bereit, das Bordell zu kaufen, wundert sich aber über Hannas Bedingung: Wer immer das O Paraiso übernehme, müsse den ausgedienten Prostituierten einen Marktstand besorgen und ihnen ein Haus bauen.
Eines Tages erkennt Hanna in einem der Freier Kapitän Svartman. Im Gespräch mit ihm behauptet sie, das Bordell trotz ihres Abscheus für eine erkrankte Freundin zu führen. Sie nutzt die Gelegenheit, schreibt rasch Briefe an ihre Mutter, Berta und Jonathan Forsman, damit diese erfahren, dass sie am Leben ist. Ihr Haus bezeichnet sie allerdings als Hotel statt als Bordell. Rasch lässt sie sich noch von dem Fotografen Picard ablichten und legt den Briefen Abzüge bei.
Ein Pfau fliegt trotz seiner gestutzten Flügel übers Meer davon. Hanna versteht dies als Zeichen.
Als drei weiße Männer, die mit ihren Schrotflinten Möwen jagen, der 14-jährigen Nausica am Brunnen von Xhipamanhine den gefüllten 30-Liter-Tonkrug vom Kopf stoßen, werden sie von Akatapande, dem Vater des Mädchens, verflucht. Sie erschießen ihn. Weil einer von ihnen der Sohn des engsten Mitarbeiters des portugiesischen Gouverneurs ist, werden keine Ermittlungen eingeleitet. Diese Ungerechtigkeit löst einen Aufstand der Schwarzen in den Slums aus. Hanna schickt Nausica Geld für die Beerdigung ihres Vaters und einen neuen Krug.
Esmeralda, eine der Prostituierten, ist im Lauf der Zeit nicht nur zu alt, sondern vor allem auch zu dick geworden, um noch von Freiern angefordert zu werden. Felicia bringt Hanna ein paar Gläser mit Bandwürmern. Nachdem Esmeralda einen davon verschluckt hat, nimmt sie tatsächlich ab, aber dann wird ihre Leiche im Hafenbecken gefunden: Sie hat sich ertränkt [Suizid].
Während Hanna in der Kathedrale mit dem jungen, kürzlich aus Portugal eingetroffenen Pater Leopoldo über ihre Absicht spricht, das Bordell zu verkaufen, taucht ein etwa 40 Jahre alter hoher portugiesischer Offizier auf. José Antonio Nunez würde das O Paraiso übernehmen und verspricht, daraus ein Kinderheim für Schwarze zu machen. Hanna will es sich überlegen.
Sie lässt sich noch einmal zu Pedro Pimenta bringen, der ebenfalls Interesse an dem Bordell bekundete. Auf dessen Anwesen wird sie Zeugin eines heftigen Streits. Seine Ehefrau Teresa ist mit den beiden Kindern José und Anabel aus Coimbra angereist. Sowohl Teresa als auch Isabel wissen jetzt, dass Pedro sie beide betrog und heimlich zwei Familien hat. In ihrem Zorn kündigt Isabel an, sie werde ihn töten. Und dann ersticht sie ihn tatsächlich mit einem Messer. Während man sie verhaftet und in der Festung einsperrt, werden ihre Kinder Joanna und Rogerio zu ihrer Schwester gebracht.
Hanna Vaz, die sich jetzt Ana Branca nennt, besucht Isabel fast täglich im Kerker, aber die Schwarze schaut sie nicht an und redet kein Wort. Der Rechtsanwalt Andrade beruhigt Ana mit dem Hinweis, dass Portugal 1867 die Todesstrafe abgeschafft habe, aber er klärt sie auch darüber auf, dass es im Fall einer schwarzen Mörderin keinen Prozess geben werde. Ana müsse davon ausgehen, dass die Delinquentin lebenslang eingesperrt bleibe. Andrade ist nicht bereit, etwas für Isabel zu unternehmen, aber er nennt Ana den Namen eines aus Bengalen stammenden Kollegen in Johannesburg. Sie fährt mit dem Zug hin und erreicht, dass der Anwalt Pandre gegen hohe Bezahlung, großzügige Spesen und einen kostenlosen Besuch im O Pareiso nach Lourenço Marques reist und mit Isabel redet. Allerdings muss Hanna ihn gegenüber Lemuel Gulliver Sullivan, der den an Malaria erkrankten Festungskommandanten Lima vertritt, als Arzt ausgeben, denn einen Juristen hätte man nicht zu der Gefangenen gelassen. Pandre erklärt Hanna nach dem Gespräch mit Isabel, es gebe keine juristischen Möglichkeiten, sie freizubekommen. Als er vor seiner Abreise ins Bordell kommt, ist keine der ausnahmslos schwarzen Prostituierten bereit, den nichtweißen Freier in ein Zimmer mitzunehmen. Auf diesen Teil seiner Forderung muss er verzichten.
Hanna verstärkt die Wachen durch einen Weißen, der sich bei ihr bewirbt. Er heißt O’Neill.
Drei Monate nach Isabels Festnahme protestiert Felicia als Sprecherin der Prostituierten gegen die Parteinahme ihrer Chefin für Isabel. Ana erwartete, von den schwarzen Frauen Unterstützung zu bekommen, aber die Prostituierten haben Einnahmen eingebüßt, weil das Bordell durch Anas Verhalten in Verruf gekommen ist. Enttäuscht sagt die Besitzerin zu, sie werde die finanziellen Ausfälle ihrer Prostituierten ausgleichen.
Obwohl Isabel in der Festung bewacht wird, gelingt es jemanden, zu ihr vorzudringen und ihr das Gesicht zu zerschneiden.
Isabels älterer Bruder, der Minenarbeiter Moses, kommt nach Lourenço Marques. Es handelt sich um den ersten Schwarzen, der Ana in die Augen schaut, statt den Blick demütig zu senken. Er gibt ihr einen kleinen Lederbeutel mit zerstoßenen Schalen einer besonderen Schnecke und getrockneten Blüten eines Baums, der angeblich nur alle 19 Jahre einmal einen Tag lang blüht. Ana soll den Beutel in die Festung schmuggeln und Isabel sagen, von wem sie ihn bekommen hat. Der Inhalt, meint Moses, werde seiner Schwester Flügel verleihen.
Der Zauber wirkt jedoch nicht. Moses beabsichtigt deshalb, einen Tunnel zu graben und Isabel zu befreien.
Ana füllt dagegen einen großen Wäschekorb mit Banknoten und lässt sich damit zu Lemuel Gulliver Sullivan fahren, um ihn zu bestechen. Für die Freilassung der Gefangenen verlangt er jedoch zusätzlich eine Nacht mit der weißen Bordellbesitzerin. Ana will es sich überlegen. Den Korb lässt sie in seinem Büro.
Am nächsten Morgen wird sie von O’Neill geweckt. Er hat Carlos mit einem Messer schwer verletzt und bedroht nun Ana. Unumwunden gibt er zu, mit Hilfe eines korrupten Wachmanns zu Isabel vorgedrungen zu sein und ihr das Gesicht zerschnitten zu haben. Von Ana verlangt er, dass sie ihren Tresor öffnet und ihm das vorhandene Bargeld überlässt. Dass sie fast nichts mehr im Haus hat und sich der Großteil ihres Barvermögens im Büro des Lagerkommandanten befindet, kann er kaum fassen. Er rafft zusammen, was er kriegen kann, zieht ihr die Ringe vom Finger und schlägt sie zusammen.
Kurz darauf erfährt Ana, das Isabel im Kerker erstochen wurde. Ohne große Hoffnung, dass der Mörder zur Rechenschaft gezogen wird, berichtet sie Sullivan was geschah und dass die Gefangene vermutlich von O’Neill nicht nur vor ein paar Tagen verletzt, sondern nun auch getötet worden sei. Ihr Geld nimmt sie wieder mit.
Gegen alle Gepflogenheiten lässt sie sich als einzige Weiße zu Isabels Beerdigung fahren.
Moses bittet sie, die Nachricht von Isabels Tod den in Beira lebenden Eltern zu überbringen.
Nachdem Ana sich vertraglich mit José Antonio Nunez auf die Übertragung ihres Besitzes geeinigt hat, ohne an seine Zusage zu glauben, aus dem O Paraiso ein Kinderheim zu machen, unterrichtet sie ihre Prostituierten und zahlt jeder von ihnen das aus, was sie in fünf Jahren verdient hätte. Zum Abschied lässt sie noch von Picard ein Gruppenfoto machen und Abzüge davon an alle verteilen.
Sie bringt Carlos zu Pedro Pimentas Farm, wo die Krankenschwester Ana Dolores die kranke Teresa pflegt und den Ton angibt. Teresas Kinder sind auf dem Weg nach Portugal. Ana Branca bittet die Krankenschwester, sich um den Schimpansen zu kümmern und hat zunächst auch den Eindruck, dass diese dazu bereit ist. Ana Dolores streichelt einen der weißen Schäferhunde. Der geht plötzlich auf Carlos los und zerfleischt ihn. Zu spät begreift Ana Branca, dass Ana Dolores den Hund mit einer winzigen Geste auf den Schimpansen hetzte.
Sie beabsichtigt, Carlos unter dem blau blühenden Palisanderbaum im Innenhof des O Paraiso zu beerdigen, aber als sie dort gräbt, stößt sie auf Unmengen winziger Knochen: Offenbar haben die Prostituierten hier seit langer Zeit die ungewollten Kinder begraben. Als sie nachfragt, erfährt sie, dass auch ihre Fehlgeburt hier liegt. An diesem Ort will sie Carlos nicht beerdigen. Stattdessen lässt sie sich von dem einzigen Fischer, der dazu bereit ist, aufs Meer hinausfahren und versenkt Carlos.
Anfang 1906 schifft sich Hanna – sie benutzt jetzt wieder diesen Namen – von Lourenço Marques nach Beira ein. Sie nimmt Moses, der an der Gangway auf sie gewartet hat, unter dem Vorwand, er helfe ihr beim Auspacken, mit an Bord und schließt sich mit ihm in ihrer Kabine ein. Sie lieben sich, bis jemand gegen die Tür pocht. Als Hanna öffnet, dringen zwei Schiffsoffiziere ein. Der Steuermann schlägt Moses mit der Faust ins Gesicht. Obwohl Hanna beteuert, er habe ihr nichts getan, prügeln die Seeleute ihn hinaus.
In Beira nimmt Hanna sich auf Empfehlung Kapitän Fortunas ein Zimmer im Africa Hotel und lässt sich von zwei Einheimischen durch die Slums führen, um nach den Eltern von Moses und Isabel zu suchen.
Nach einiger Zeit taucht überraschend Moses bei ihr im Hotel auf. Er sei mit einem anderen Schiff gekommen und über die Mauer geklettert, weil man ihn sonst nicht hereingelassen hätte, sagt er. Dass es ihr nicht gelungen ist, seine Eltern zu finden, weiß er bereits. Moses übergibt ihr einen kleinen Lederbeutel, der so aussieht wie der, den Hanna seiner Schwester in die Festung brachte. Dann geht er wieder.
Hanna versteckt das Tagebuch unter einer losen Diele im Parkett. Dann schluckt sie den Inhalt des Beutels am offenen Fenster.
Am nächsten Morgen liegt das Geld für die Begleichung der Hotelrechnung auf dem Tisch in Hannas Zimmer. Die Bewohnerin und ihr Gepäck sind verschwunden.
Im Juli 2002 zerhackt José Paulo den verrotteten Fußboden im ehemaligen Africa Hotel in Beira, um Brennholz zu besorgen. Der Mann, der kaum lesen kann, ist unverheiratet, sorgt jedoch seit dem Verschwinden seines Schwagers für seine Schwester und ihre fünf Kinder. Bei seiner Arbeit entdeckt er ein in Kalbsleder gebundenes schwarzes Notizbuch. Auf der ersten Seite steht: „Hanna Lundmark 1905“.
In seinem Roman „Erinnerung an einen schmutzigen Engel“ erzählt Henning Mankell vor dem Hintergrund von Kolonialismus und Rassismus die abenteuerliche Geschichte einer jungen Schwedin, die es 1904 nach Südostafrika verschlägt. Obwohl Henning Mankell alle paar Seiten das Verhalten der Unterdrücker anprangert und seine Sympathie unverkennbar den Einheimischen gilt, ist „Erinnerung an einen schmutzigen Engel“ kein sozialkritischer Roman, denn dafür ist die Darstellung zu oberflächlich, holzschnittartig und klischeehaft.
Da sie in Lourenço Marques nie ein afrikanisches Wohngebiet besucht hatte, war es ein Schock für sie, als sie erkennen musste, in welchen Verhältnissen die schwarzen Menschen lebten. Sie sah ein Elend, das sie sich nie hätte vorstellen können. Jeden Abend saß sie wie gelähmt in ihrer Suite. […]
Aber nach ein paar Tagen bemerkte sie bei ihren Besuchen in den schwarzen Stadtteilen eine ungeahnte Lebensfreude. Der geringste Anlass zum Feiern wurde wahrgenommen. Die Menschen unterstützten einander, obwohl sie kaum etwas zum Teilen hatten.
Eines Abends notierte sie in ihrem Tagebuch eine Art Erklärung für das, was sie glaubte entdeckt zu haben, nachdem sie unter die Oberfläche des Elends und der Armut geblickt hatte.
Sie schrieb: „Mitten in der unbegreiflichen Armut sehe ich Inseln von Reichtum. Wie kommt es, dass es diese Freude gibt? Diese Wärme, die längst erkaltet sein müsste? Wenn ich es umkehre, sehe ich bei den Weißen, die hier leben, viel größere Armut mitten in ihrem Wohlstand.“
Auch die Figuren in „Erinnerung an einen schmutzigen Engel“ wirken schablonenhaft, und ihre Handlungen sind oft nicht nachvollziehbar. Dass die Protagonistin sich in Moses verliebt, bleibt eine bloße Behauptung. Henning Mankell macht sich keine Mühe, den schwarzen Minenarbeiter zu charakterisieren und das Entstehen dieser Liebesbeziehung darzustellen. (Das gilt auch für die Eheschließungen Hannas mit Lars Lundmark und Attimilio Vaz.) Noch unglaubwürdiger ist die innerhalb weniger Monate stattfindende Entwicklung der ohne Schulbesuch in der skandinavischen Provinz aufgewachsenen jungen Schwedin zur verantwortungsbewussten Unternehmerin mitten in einer afrikanischen Großstadt.
Offenbar hielt Henning Mankell es für erforderlich, die von 1903 bis 1906 spielende Handlung in eine Art Rahmenhandlung einzubetten: Da findet dann irgendjemand, von dem wir kaum mehr als den Namen erfahren, im Jahr 2002 das Tagebuch der Protagonistin. Was für eine Fantasielosigkeit!
Eine humorvolle oder sarkastische Bemerkung sucht man in „Erinnerung an einen schmutzigen Engel“ vergeblich. Stattdessen findet man Pathos und Kitsch. Im Gegensatz zu den schwülstigen Episoden ist die Sprache anspruchslos.
Mankells Stil ist hölzern, steif, so ärmlich wie Hannas Elternhaus, so dröge wie das Leben an Bord eines schwedischen Holzfrachters, so poetisch wie das Poesiealbum einer Adoleszentin. Mankell kann nur einen Ton, nur eine Melodie, ein monotones, einschläferndes Summen ohne eine Spur von Dramaturgie. (Jakob Strobel Y Serra, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. August 2012)
Den Roman „Erinnerung an einen schmutzigen Engel“ von Henning Mankell gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von Axel Milberg (Lesefassung: Uticha Marmon, Regie: Caroline Neven Du Mont, München 2012, 425 Minuten, ISBN 978-3-86717-925-6).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Paul Zsolnay Verlag
Henning Mankell (Kurzbiografie)
Henning Mankell: Der Sandmaler
Henning Mankell: Mörder ohne Gesicht (Verfilmung)
Henning Mankell: Hunde von Riga (Verfilmung)
Henning Mankell: Die weiße Löwin (Verfilmung)
Henning Mankell: Der Mann, der lächelte (Verfilmung)
Henning Mankell: Die falsche Fährte (Verfilmung)
Henning Mankell: Die fünfte Frau (Verfilmung
Henning Mankell: Mittsommermord (Verfilmung)
Henning Mankell: Die Brandmauer (Verfilmung)
Henning Mankell: Wallanders erster Fall
Henning Mankell: Der Chronist der Winde
Henning Mankell: Die rote Antilope
Henning Mankell: Die Rückkehr des Tanzlehrers (Verfilmung)
Henning Mankell: Kennedys Hirn (Verfilmung)
Henning Mankell: Die italienischen Schuhe
Henning Mankell: Der Chinese (Verfilmung)
Henning Mankell: Der Feind im Schatten