Henning Mankell : Der Chronist der Winde

Der Chronist der Winde
Comédia infantil Ordfront Verlag, Stockholm 1995 Der Chronist der Winde Übersetzung: Verena Reichel Paul Zsolnay Verlag, Wien 2000 dtv, München 2002 ISBN 978-3-423-12964-0, 269 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

José Antonio Maria Vaz arbeitet nachts als Bäcker. Nachdem er Schüsse gehört hat, findet er auf der Bühne des Theaters der afrikanischen Stadt den etwa zehn Jahre alten Straßenjungen Nelio. Der ist schwer verletzt, möchte aber nicht, dass der Bäcker einen Arzt ruft. Auf dem Dach des Gebäudes erzählt er In neun Nächten seine tragische Lebensgeschichte ...
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Kritik

"Der Chronist der Winde" handelt zwar vom Überlebenskampf der Straßenkinder in einer afrikanischen Stadt, und Henning Mankell schreckt vor grausamen Szenen nicht zurück, aber er hebt die gesellschaftskritische Geschichte aus der Realität ins Märchenhafte. Das kippt wohl schon in den Bereich des Kitsches um und romantisiert die brutale Wirklichkeit.
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Die erste Nacht

Seit seinem sechsten Lebensjahr arbeitet der Afrikaner José Antonio Maria Vaz als Bäcker. Eine Schule hat das achte von elf Geschwistern nie besucht. Bei seiner Arbeitgeberin handelt es sich um Dona Esmeralda.

Die 90 Jahre alte Dame ist die jüngste von drei offiziellen Töchtern des früheren Gouverneurs Dom Joaquim Leonardo des Santos, der überall in der Stadt Denkmäler aufstellen ließ, die angeblich Verwandte darstellten, in Wirklichkeit jedoch aus Nachbarstaaten stammten, in denen Revolutionäre die Statuen der Diktatoren umgestürzt hatten. Wie viele Kinder Dom Joaquim Leonardo des Santos außerhalb seiner Ehe mit Dona Celestina zeugte, weiß niemand.

Esmeralda war viermal verheiratet, aber nie länger als ein Jahr.

Obwohl sie die Tochter des Gouverneurs war, schloss sie sich den jungen Revolutionären im Kampf gegen die Kolonialherrschaft an, weil sie instinktiv an deren Sieg glaubte. Als das afrikanische Land unabhängig wurde, ließ Esmeralda sich vom Kulturminister Adelinho Manjate, einem gelernten Schuhmacher, die Verantwortung für das einzige Theater in der Hauptstadt übertragen. Um die Mittel für den Theaterbetrieb zu beschaffen, eröffnete sie vor fünf Jahren im Foyer eine Bäckerei – und stellte den damals 18-jährigen José Antonio Maria Vaz als Bäcker ein.

Ab Mitternacht, wenn der Teigmischer gegangen ist, arbeitet er allein in der Backstube.

In so einer Nacht hört er Schüsse. Und als er nachsieht, liegt auf der Bühne ein etwa zehn Jahre altes Straßenkind. Zwei Kugeln trafen Nelio in die Brust. Der Schwerverletzte möchte nicht ins Krankenhaus gebracht werden und auch keinen Arzt, sondern bittet José Antonio Maria Vaz, ihn über die Wendeltreppe hinauf aufs Dach zu tragen.

Der Bäcker wohnt bei seinem Bruder Augustinho und dessen Familie, aber in dieser Nacht bleibt er bei Nelio auf dem Theaterdach. Er weiß, dass der Zehnjährige eine der Gruppen von Straßenkindern anführte.

Die verschiedenen Gruppen von Straßenkindern hatten ihre abgegrenzten Reviere, und sie organisierten ihr Leben in kleinen Diktaturen, in denen der Anführer die unbeschränkte Macht besaß, zu richten und zu bestrafen.

In den folgenden Nächten erzählt ihm Nelio seine Geschichte.

Es ist, damit ihr nicht vergesst, wer ihr selber seid.

Die zweite Nacht

Bei der feticheira Muwulene kauft José Antonio Maria Vaz eine fiebersenkende Kräutermischung und bringt sie Nelio.

Nelio wuchs nicht in der Stadt, sondern in einem Dorf im Grenzgebiet auf. Sein Vater Hermenegildo war nur selten zu Hause, denn er schuftete in einer weit entfernten Diamantenmine.

Im Bürgerkrieg überfielen fünfzehn „Banditen“ eines Nachts die Bewohner und metzelten viele von ihnen nieder. Splitternackt versteckte Nelio sich vor ihnen und beobachtete, wie die Überlebenden zusammengetrieben wurden. Als die Aggressoren einige junge Frauen aus der Menge zerrten, protestierte der Ehemann einer von ihnen. Daraufhin hieb ihm ein 13-Jähriger den Kopf ab. Weil unter den jungen Frauen auch Nelios Mutter war, hielt er es in seinem Versteck nicht länger aus, aber er konnte nicht verhindern, dass einer der Angreifer seiner Mutter die kleine Tochter entriss, in einen Mörser warf und mit dem Stößel zerdrückte.

Nach einem Marsch zu einem Lager der Rebellen und der Trennung von seiner Mutter wurde Nelio von einem Anführer aufgefordert, seinen Cousin Tiko zu erschießen. Stattdessen richtete er die Waffe auf den Mann, tötete ihn und rannte davon.

Die dritte Nacht

Auf seiner Flucht traf Nelio auf einen Albinozwerg mit dem Namen Yabu Bata, der vor 19 Jahren seine Frau und die vier Kinder verlassen hatte, um seinen eigenen Weg zu suchen. Nelio durfte ihn einige Tage lang begleiten, musste dafür aber den Koffer des Albinos tragen.

– Was hast du in dem Koffer?, fragte Nelio.
– Du fragst zu viel, schrie der Zwerg. Mein Koffer ist leer. Ich habe ihn dabei, falls ich etwas finde, das ich mitnehmen muss.

Sobald die beiden das Meer erreicht hatten, trennten sich ihre Wege wieder.

Die vierte Nacht

Nelio gelangte in eine Stadt.

Dort übernachtete er in einem Grabhaus auf dem Friedhof. Erst am nächsten Morgen stellte er fest, dass es sich um das Quartier eines Mannes namens Castigo handelt, der sich Schuhe auf die nackten Füße gemalt hatte.

„Senhor Castigo“ brachte ihn dazu, auf der Straße zu betteln und nutzte die Ablenkung der Passanten dazu, ihnen die Brieftaschen und Geldbörsen zu stehlen. Sobald Nelio begriff, dass Castigo ein Taschendieb war, lief er davon.

Einen geschützten Platz für die Nächte fand er in einem hohlen Reiterstandbild am Marktplatz.

Die fünfte Nacht

Nachdem Nelio einem von Polizisten verprügelten Straßenjungen namens Cosmos geholfen hatte, wurde er von dessen Bande aufgenommen. Aber er zog sich weiterhin zum Schlafen in das Reiterstandbild zurück, während Cosmos, Nascimento, Mandioca, Pecado, Tristeza und Alfredo Bomba in Pappkartons auf der Straße übernachteten. Um Geld zu verdienen wuschen sie Autos, die sie zuvor unbemerkt mit Schlamm beworfen hatten.

Einmal fanden sie in der neugierig geöffneten Aktentasche eines weißen Autofahrers nichts als eine vertrocknete Eidechse. Sie machten sich einen Spaß daraus, das tote durch ein lebendes Tier zu ersetzen und malten sich die Verwunderung des Mannes aus. Das brachte sie auf die Idee, beispielsweise nachts in einem Kaufhaus die Waren umzustellen. Und nach einjähriger Vorbereitung drangen sie in den Palast ein und legten dem schlafenden Staatspräsidenten eine tote Eidechse auf den Nachttisch. Bevor dieser sie bemerkte, wurde sie allerdings von einem Diener und Sicherheitskräften weggebracht.

Cosmos wurde schwermütig. Nachdem er Nelio zu seinem Nachfolger als Anführer der Bande bestimmt hatte, schlich er sich als blinder Passagier an Bord eines im Hafen liegenden Schiffs.

Die sechste Nacht

Nachdem Dona Esmeralda den Teigmischer entlassen hat, über den sich José Antonio Maria Vaz beschwerte, stellt sie eine junge Frau ein – und der Bäcker verliebt sich auf den ersten Blick in Maria.

Nelio erzählt weiter:

Keines der Straßenkinder kannte sein Geburtsjahr. Dennoch feierte die Bande einmal Alfredo Bombas „Geburtstag“. Zu diesem Zweck drangen sie in das frühere Haus eines Plantagenbesitzers ein, das inzwischen von einem dänischen Entwicklungshelfer bewohnt wurde. Ohne etwas kaputt zu machen, leerten sie den Kühlschrank und bereiteten ein Festmahl zu.

Die siebte Nacht

Dann tauchte Cosmos‘ Schwester Deolinda auf, ein Albinomädchen. Der Vater hatte ihre Mutter und sie davongejagt, weil er der Meinung war, ein Toter habe das bleiche Kind gezeugt. Bald darauf wurde Deolindas Mutter verrückt und deshalb von Verwandten eingesperrt. In ihrem Gefängnis stach sie sich die Augen aus und starb.

Die anderen in der Bande befürchteten, dass ein Albinomädchen Unglück bringe, aber Nelio setzte Deolindes Aufnahme durch, denn sie konnte lesen, schreiben und rechnen.

Die achte Nacht

Nachdem Deolinda von Nascimento vergewaltigt worden war, verschwand sie spurlos.

Weil Alfredo Bomba über Bauchschmerzen klagte, brachte Nelio ihn ins Krankenhaus, wo nach einigen Untersuchungen feststand, dass der Jüngste in der Bande unter Leberkrebs im Endstadium litt. Die Ärzte konnten ihm nur noch Schmerzmittel mitgeben.

Die neunte Nacht

Um Alfredo Bomba das Sterben zu erleichtern, schlich sich Nelio nachts mit den anderen Straßenjungen unbemerkt ins Theater. Nachdem sie ein Bühnenstück erarbeitet hatten, trugen sie den schlafenden Todkranken auf einer aus zwei Besenstielen und ein paar Unterhemden gebastelten Bahre ins Theater. Dort weckte Nelio ihn vorsichtig auf, damit er im Liegen an einer gespielten Reise zur „Insel ohne Angst“ teilnehmen konnte. Gegen Ende des Stücks starb Alfredo Bomba.

Aber die Wachmänner hatten die Eindringlinge bemerkt und stürmten herein. Während sich Nascimento, Mandioca, Pecado und Tristeza versteckten, blieb Nelio bei dem Toten auf der hell erleuchteten Bühne stehen und wollte die Situation erklären. Bevor er jedoch ein Wort sagen konnte, trafen ihn zwei Schüsse in die Brust.

Sobald Nelio seine Geschichte zu Ende erzählt hat, stirbt er.

Nur durch Nelios spurloses Verschwinden entgeht José Antonio Maria Vaz der Gefahr, von den Straßenkindern totgeschlagen zu werden, denn wie hätte er ihnen erklären sollen, dass er den Todkranken wunschgemäß aufs Dach trug statt ihn ins Krankenhaus zu bringen. Deshalb schärfte Nelio ihm ein, die Leiche im Ofen der Backstube zu verbrennen, und José Antonio Maria Vaz befolgt nun den Rat.

Im Morgengrauen bebt kurz die Erde, und das Reiterstandbild am Marktplatz kippt um.

Zum ersten Mal seit neun Tagen kehrt José Antonio Maria Vaz zu seinem Bruder und dessen Familie zurück.

Ein paar Wochen nach Nelios Tod begreift er, dass er das geordnete Leben als Bäcker aufgeben muss. Obwohl Maria die Liebe seines Lebens ist, verzichtet er auf sie, kündigt in der Bäckerei und lebt fortan als Bettler auf der Straße, um als „Chronist der Winde“ Nelios Geschichte immer wieder aufs Neue erzählen zu können.

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Der Afrika-Roman „Der Chronist der Winde“ des schwedischen Schriftstellers Henning Mankell (1948 – 2015) dreht sich um Armut und Elend, Kriegsgräuel, aber auch um Mut und Lebenswillen.

Wenn dies die beste aller Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?

Dieses Zitat aus „Candide“ von Voltaire hat Henning Mankell seinem Buch als Motto vorangestellt.

Er nennt zwar weder das Land noch die Stadt beim Namen, meint aber wohl Mosambik und Maputo. (Dort lebte er seit den Achtziger- und Neunzigerjahren die meiste Zeit des Jahres.)

„Der Chronist der Winde“ handelt zwar vom Überlebenskampf der Straßenkinder in einer afrikanischen Stadt, und Henning Mankell schreckt vor grausamen Szenen aus dem Bürgerkrieg in Mosambik (1977 – 1992) nicht zurück, aber er hebt die gesellschaftskritische Geschichte aus der Realität ins Märchenhafte. Bei Nelio und den von ihm angeführten Straßenkindern denkt man an den Messias und dessen Jünger. Das kippt wohl schon in den Bereich des Kitsches um und romantisiert die brutale Wirklichkeit. Barbara Schmitz-Bruckhardt meint, „Der Chronist der Winde“ sei „die liebevolle Fantasie eines faszinierten Weißen“ (Frankfurter Rundschau, 4. November 2000).

Henning Mankell hat „Der Chronist der Winde“ in elf Kapitel gegliedert, von denen neun jeweils eine der Nächte repräsentieren, in denen der etwa zehn Jahre alte sterbende Straßenjunge Nelio seine tragische Geschichte erzählt. Das erste und das letzte Kapitel handeln von dem 23- bzw. am Ende 24-jährigen Bäcker  bzw. Bettler José Antonio Maria Vaz. Beide treten als Ich-Erzähler auf, Nelio in den letzten neun Nächten seines Lebens, José Antonio Maria Vaz ein Jahr später.

Die schwedische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel „Comédia infantil“. Jens Monath verfilmte den Roman als Zweiteiler fürs ZDF: „Mein Herz schlägt in Afrika“ (2009).

Den Roman „Der Chronist der Winde“ von Henning Mankell gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Edgar M. Böhlke.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Paul Zsolnay Verlag

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