Marguerite Duras : Der Liebhaber

Der Liebhaber
Manuskript: Februar - Mai 1984 Originalausgabe: L'amant, 1984 Der Liebhaber Übersetzung: Ilma Ingold-Rakusa Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1985
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine alt gewordene französische Schriftstellerin erinnert sich an die amour fou, die sie als Schülerin um 1930 mit einem Chinesen in Saigon hatte. Der 17 Jahre ältere Sohn eines reichen Bauunternehmers verliebte sich in sie und verfiel ihr, obwohl klar war, dass es keine gemeinsame Zukunft geben konnte. Das Mädchen lernte durch ihn die sexuelle Begierde kennen ...
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Kritik

Aus assoziativ verknüpften Erinnerungsbruchstücken hat Marguerite Duras in Annäherung an den nouveau roman ein literarisches Werk mit einer dichten Atmosphäre geschaffen, das sprachlich und kompositorisch sehr poetisch wirkt: "Der Liebhaber".
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Eine alt gewordene französische Schriftstellerin erinnert sich an die amour fou, die sie als Schülerin mit einem Chinesen um 1930 in Indochina hatte.

Während ihre Mutter damals eine Mädchenschule in Sadec leitete, besuchte sie ein französisches Gymnasium in Saigon und schlief in einem staatlichen Pensionat in der Stadt. Als sie mit fünfzehneinhalb von einem Ferienaufenthalt bei ihrer Mutter in Sadec nach Saigon zurückkehrte, verließ sie auf der Fähre über dem Mekong den Bus und stellte sich an die Reling. Da fiel ihr eine schwarze Limousine mit Chauffeur auf. Im Fond saß ein Chinese, der einen eleganten Tussahseidenanzug trug. Er blickte sie an. Seit ihrem zwölften Lebensjahr war sie es gewohnt, von Männern angestarrt zu werden.

Der vornehme Chinese steigt aus und spricht sie an. Er ist siebzehn Jahre älter als sie, stammt aus Fou-Chouen in Nordchina und wohnt jetzt mit seinem Vater in einer Villa in Sadec. Seinem Vater, einem steinreichen Bauunternehmer, gehören ganze Straßenzüge in Indochina. In französischer Sprache mit Pariser Akzent – er war gerade erst von einem zweijährigen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt zurückgekehrt – lädt er sie ein, ihr Gepäck aus dem Bus zu holen und sich von ihm und seinem Chauffeur nach Saigon bringen zu lassen.

Vom ersten Moment an weiß sie etwas in der Art, dass er ihr verfallen ist. Dass also auch andere bei Gelegenheit ihr verfallen könnten. Sie weiß auch etwas anderes, dass von nun an die Zeit gekommen ist, wo sie gewissen Verpflichtungen sich selbst gegenüber nicht mehr wird ausweichen können. Und dass weder die Mutter davon erfahren darf, noch die Brüder, auch das weiß sie an diesem Tag. Kaum hat sie das schwarze Auto bestiegen, weiß sie es, zum ersten Mal und für immer steht sie abseits von ihrer Familie. (Seite 31)

Von da an bringt die schwarze Limousine sie jeden Morgen zum Gynmnasium und am Nachmittag zum Pensionat zurück.

Und ich werde immer alles bereuen, was ich tue, alles was ich lasse, alles was ich nehme, das Gute wie das Schlechte. (Seite 30)

Als er sie bittet, mit in sein Junggesellen-Apartment im Chinesenviertel von Saigon zu kommen, willigt sie sofort ein.

Er sagt, er liebe sie wie wahnsinnig, er sagt es ganz leise. Dann schweigt er. Sie erwidert nichts. Sie könnte erwidern, dass sie ihn nicht liebe. Sie sagt nichts […]
Sie sagt zu ihm: ich würde es vorziehen, wenn Sie mich nicht liebten. doch selbst wenn Sie mich lieben, möchte ich, dass Sie tun, was Sie üblicherweise mit Frauen tun. Er sieht sie entsetzt an, er fragt: ist es das, was Sie wollen? Sie sagt ja. Hier in diesem Zimmer hat er zu leiden begonnen, zum ersten Mal, er leugnet es nicht mehr. Er sagt ihr, er wisse bereits, dass sie ihn nie lieben werde. Sie lässt es ihn aussprechen. Zuerst sagt sie, sie wisse es nicht. Dann lässt sie es ihn aussprechen […]
Er hat ihr das Kleid vom Leib gerissen, er wirft es zu Boden, er reißt den kleinen weißen Baumwollslip weg und trägt sie nackt zum Bett. Und dann dreht er sich zu anderen Bettseite und weint […]
Und weinend tut er es. Zuerst ist der Schmerz da. Dann wird dieser Schmerz genommen, wird umgewandelt, langsam herausgerissen, der Lust zugeführt, mit ihr vereint. (Seite 32f)

Nach der Defloration fragt er sie, warum sie mitgekommen sei.

Ich sage, ich hätte es tun müssen, es sei wie eine Verpflichtung gewesen. Zum ersten Mal reden wir miteinander. Ich spreche von meinen beiden Brüdern. Ich sage, dass wir kein Geld haben. Nichts mehr. Er kennt den älteren Bruder, er ist ihm in den Opiumhöhlen der Station begegnet. Ich sage, dass dieser Bruder meine Mutter bestiehlt, um rauchen zu können, dass er die Dienstboten bestiehlt und dass manchmal die Besitzer der Opiumhöhlen kommen, um Geld von meiner Mutter zu verlangen. (Seite 34)

Durch ihren Liebhaber lernt sie die sexuelle Begierde kennen. Dabei weiß sie von Anfang an, dass es keine gemeinsame Zukunft für sie beide geben kann.

Ich erkenne, dass er nicht die Kraft hat, mich gegen den Willen seines Vaters zu lieben, mich zu nehmen, mich mitzunehmen. (Seite 42)

Ihr Liebhaber lädt sie zusammen mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern in ein teures Restaurant in Saigon ein. Die Jungen verschlingen so viel wie möglich. Zunächst versucht der Gastgeber, ein Gespräch zu beginnen, aber die Lehrerin und deren Söhne ignorieren ihn, blicken ihn nicht einmal an und lassen ihn spüren, dass es eigentlich unter ihrer Würde ist, mit einem Chinesen am Tisch zu sitzen. Sie bedanken sich nicht einmal, als er die hohe Rechnung begleicht. Sie nehmen auch das Geld, das er dem Mädchen zusteckt, wollen aber weder mit ihm reden noch wahrhaben, wofür es ist.

Wegen ihrer Minderjährigkeit käme er ins Gefängnis, wenn ihn jemand anzeigen würde. Ihrer Mutter kann nicht entgangen sein, dass sie die Schule schwänzt und manche Nächte nicht im Pensionat schläft. Schon bevor das Mädchen dem Chinesen begegnete, stolzierte es wie eine Kinderprostituierte mit Pumps, Herrenhut und roten Lippen herum. Inzwischen ist die Schülerin als Chinesenhure verschrien.

Die plötzliche Panik im Leben meiner Mutter. Ihre Tochter läuft größte Gefahr, die Gefahr, nie zu heiraten, nie in der Gesellschaft Fuß zu fassen, mittellos, verloren, einsam dazustehen. Während der Krisen fällt meine Mutter über mich her, schließt mich ein, geht mit den Fäusten auf mich los, ohrfeigt mich, zieht mich aus, nähert sich mir, riecht an meinem Körper, an meiner Wäsche, sie sagt, sie erkenne das Parfum des Chinesen, sie geht noch weiter, schaut nach, ob sie verdächtige Flecken auf der Wäsche entdeckt, und sie brüllt, dass die ganze Stadt es hört, ihre Tochter sei eine Hure, sie werde sie hinauswerfen, sie wolle sie verrecken sehen, niemand werde sie mehr wollen, sie sei entehrt, schlimmer als eine Hündin. (Seite 49)

Da schwört die Tochter, es sei nichts zwischen ihr und dem Chinesen gewesen, nicht einmal ein Kuss.

Eineinhalb Jahre lang dauert die Affäre, dann beschließt sie, sich von ihrem Liebhaber zu trennen. Sobald das Abreisedatum feststeht, fühlt er sich wie tot und ist er nicht mehr in der Lage, sie zu nehmen.

Er machte es wie gewöhnlich, längere Zeit machte er es wie gewöhnlich, wusch mich mit dem Wasser aus dem Tonkrug und trug mich aufs Bett. Er kam zu mir, legte sich auch hin, doch er war nun ohne jede Kraft, ohne jede Potenz. (Seite 89)

Vierundzwanzig Tage dauert die Schiffsreise nach Frankreich. Einige Zeit später erfährt sie, dass ihr ehemaliger Liebhaber seinem Vater gehorchte und die junge Chinesin aus Fou-Chouen heiratete, wie es seit zehn Jahren zwischen den beiden Familien vereinbart gewesen war.

Ihr jüngerer Bruder starb im Dezember 1942 innerhalb von drei Tagen an Bronchopneumonie und Herzversagen. Sieben Jahre später kehrte auch ihre Mutter endgültig aus Indochina nach Frankreich zurück und kaufte ihrem älteren Sohn von ihren Ersparnissen ein Gut bei Amboise.

Er stiehlt. Er spielt […] Seinetwegen will meine Mutter am Leben bleiben, damit er zu essen hat, damit er im Warmen schläft, damit ihn jemand beim Namen ruft. Und das Gut in der Nähe von Amboise, das sie ihm gekauft hat, Ersparnisse aus zehn Jahren. In einer einzigen Nacht verpfändet. Sie bezahlt die Zinsen. Und der ganze Erlös aus dem Abholzen des Waldes […] In einer einzigen Nacht. Er hat meine sterbende Mutter bestohlen. Er war jemand, der Schränke durchwühlte, der Spürsinn hatte, der zu suchen verstand, der die richtigen Leintuchstapel fand, die Verstecke. Er hat die Trauringe gestohlen und dergleichen mehr […] Er hätte seine eigene Mutter verkauft. Als sie stirbt, lässt er sofort den Notar kommen […] (Seite 63f)

Der Notar erklärt, die testamentarische Verfügung sei ungesetzlich, weil der Sohn praktisch als Alleinerbe eingesetzt sei, aber die Tochter akzeptiert es.

Ich habe es anerkannt. Mein Bruder, mit gesenktem Blick, danke. Er weint. Voll Trauer über den Tod unserer Mutter. Er ist aufrichtig. (Seite 64)

Nach der Befreiung von Paris weiß er offenbar nicht wohin und sucht bei seiner Schwester Zuflucht, deren Ehemann zu dieser Zeit in einem Lager ist.

Er zeigt Anteilnahme. Er bleibt drei Tage […] Er durchwühlt […] Und findet. Er nimmt die Gesamtheit meiner Ersparnisse an sich, fünfzigtausend Francs. Er lässt nicht einen Schein zurück. Er verlässt die Wohnung mit dem Diebesgut. (Seite 64)

Im Alter von fünfzig Jahren bekommt er zum ersten Mal ein Gehalt: Fünfzehn Jahre lang arbeitet er als Laufbursche bei einer Schifffahrtsversicherung, dann stirbt er.

Der Chinese kommt mit seiner Frau nach Paris und ruft seine damalige Geliebte an. Die erkennt ihn sofort an der Stimme und hört, dass er sie noch immer liebt und bis zu seinem Tod nicht damit aufhören wird.

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In ihrem wohl zumindest teilweise autobiografischen Roman „Der Liebhaber“ erzählt Marguerite Duras (1914 – 1996) von der amour fou einer halbwüchsigen Französin mit einem reichen, zwölf Jahre älteren Chinesen in Indochina (heute: Vietnam). Zugleich handelt es sich bei dem traurigen Buch um eine Familiengeschichte, in deren Mittelpunkt der ältere Bruder der Protagonistin steht, der zwar nichts taugt, aber von der Mutter bevorzugt wird. Die namenlose Erzählerin schreibt in der ersten Person Singular und wechselt mitunter in die dritte Person, um gewissermaßen Distanz zu gewinnen. Sie denkt im fortgeschrittenen Alter an die Ereignisse, und zwar in bildhaften Erinnerungsbruchstücken, die nicht chronologisch aufeinander folgen, sondern assoziativ verknüpft sind. Aus diesen wechselnden Zeitebenen, Erzählperspektiven und Inhalten hat Marguerite Duras in Annäherung an den nouveau roman ein literarisches Werk mit einer dichten Atmosphäre geschaffen, das sprachlich und kompositorisch sehr poetisch wirkt.

Getragen […] von einer so einfachen wie melodischen, so schillernden wie monotonen Sprache, deren Faszination in Ilma Rakusas Übersetzung um kein Gran geringer ist als im klangvollen Französisch. (Wolfgang Matz in: Süddeutsche Zeitung, 19. Februar 2005)

Obwohl die Veröffentlichung von „L’amant“ („Der Liebhaber“) 1984 einen Skandal auslöste, erhielt Marguerite Duras dafür den Prix Goncourt. Der Roman wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft.

Jean-Jacques Annaud verfilmte den Roman: „Der Liebhaber“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Suhrkamp

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