John Grisham : Der Verrat

Der Verrat
Originalausgabe: The Street Lawyer Doubleday, New York 1998 Der Verrat Übersetzung: Dirk van Gunsteren Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999 ISBN: 978-3-455-02501-9, 413 Seiten, 44 DM (D) ISBN: 978-3-641-11016-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Michael Brock hat bei einer renommierten Anwaltskanzlei in Washington, D. C., eine vielversprechende Karriere vor sich. Der Workaholic führt ein Leben auf der Über­hol­spur. Durch die Konfrontation mit einem verzweifelten Obdachlosen kommt er zur Besinnung. Geld und Erfolg seien nicht das Entscheidende, meint er. Brock kündigt und beginnt, sich für die Bedürftigen in der Stadt zu engagieren. Im Kontrast zu ihm stehen gut verdienende Anwälte und Geschäfts­leute, die sich sogar auf Kosten der Ärmsten skrupellos bereichern ...
mehr erfahren

Kritik

John Grisham hat sowohl span­nen­dere als auch komplexere Romane geschrieben. Aber wie in fast allen seinen Büchern veranschaulicht er in "Der Verrat" Charakteristika der US-amerikanischen Gesellschaft und ihres Justizwesens, die er für be­denk­lich hält. Das macht den besonderen Reiz der leichten Lektüre aus.
mehr erfahren

Geiselnahme

Seit sieben Jahren gehört der Yale-Absolvent Michael Nelson Brock zu der renommierten Anwaltskanzlei Drake & Sweeney, die allein in Washington, D. C., wo er tätig ist, 400 Juristen beschäftigt, die alle sehr viel Geld verdienen. Inzwischen ist Michael 32 Jahre alt und kann damit rechnen, bald zum Partner aufzusteigen. Er bewegt sich auf der Überholspur.

Aber dann dringt der 45 Jahre alte obdachlose Vietnam-Kriegs­veteran DeVon Hardy in das Gebäude ein und nimmt neun Rechtsanwälte, darunter Michael Brock, als Geiseln. Er bedroht sie mit einer Pistole und schießt in die Decke.

Der Mann mit den Gummistiefeln trat hinter mir in den Aufzug, doch zunächst sah ich ihn nicht. Allerdings roch ich ihn: den stechenden Geruch nach Rauch und billigem Wein und einem Leben auf der Straße, ohne Seife. […]
Er war bloß irgendein Penner, der sich mal aufwärmen wollte. In der Innenstadt von Washington passierte das andauernd. Bei uns gab es für sowas einen Sicherheitsdienst.
Der Aufzug hielt in der fünften Etage, und jetzt erst fiel mir auf, dass der Mann keinen Knopf gedrückt hatte. […]
Hinter mir hörte ich Stimmen auf dem Gang. Jemand schrie: „Er hat eine Pistole!“ […]
Der Mann mit den Gummistiefeln schlug die Tür zu und schwenkte die Pistole langsam hin und her, damit alle acht Prozessanwälte sie bewundern konnten. Sie schienen gebührend beeindruckt. Der Geruch des Pulverdampfes überdeckte den des Mannes.

Der Geiselnehmer erkundigt sich nach dem Einkommen der Anwälte und fragt, wie viel sie für die Armen spenden. Niemand wird verletzt – außer dem Täter, den ein Scharfschütze der Polizei mit einem Kopfschuss durch einen Türspalt tötet.

Besinnung

Das schockierende Erlebnis wirft Michael Brock aus der Bahn, zumal sich auch noch seine Frau Claire Addison Brock von ihm scheiden lassen möchte. Er beginnt, an seiner Einstellung gegenüber Geld und Karriere zu zweifeln.

Als er versucht, mehr über den Täter herauszufinden, stößt er auf den afro­amerika­nischen Armenanwalt Mordecai Green, der seit 1984 ein Rechts­beratungs­büro für Obdachlose in Washington leitet und dabei von dem Juristen Abraham Lebow und der Sachbearbeiterin Sofia Mendoza unterstützt wird.

Mordecai Green bittet Michael Brock, bei der Essensausgabe in einer der überfüllten Notunterkünfte zu helfen. Dabei begegnen sie der 22-jährigen Lontae Burton, die mit ihren vier unehelichen Kindern – dem vierjährigen Ontario, den Zwillingen Alonzo und Dante sowie dem Säugling Temeko – Schutz in der Einrichtung gesucht hat. (Ihre 16 Jahre ältere Mutter verbüßt eine zehnjährige Haftstrafe wegen Drogenhandels.)

Am nächsten Morgen verschwindet Lontae Burton mit den Kindern. Aus der Zeitung erfährt Michael Brock einige Tage später, dass man ihre Leichen in einem Auto fand. Offenbar übernachtete Lontae Burton mit Ontario, Alonzo, Dante und Temeko in einem geparkten Auto und ließ den Motor wegen der Kälte laufen. Während sie schliefen, wurde der Auspuff durch den vorbeifahrenden Schneepflug verstopft. Dadurch drangen die Abgase ins Wageninnere, und die fünf Menschen starben.

Kriminelle Machenschaften

Michael Brock findet heraus, dass sowohl DeVon Hardy als auch Lontae Burton – ebenso wie 15 andere Erwachsene und einige Kinder – in einem ehemaligen Lagergebäude gewohnt hatten, bis sie durch eine Zwangsräumung auf die Straße gesetzt wurden. DeVon Hardy und Lontae Burton würden wahrscheinlich noch leben, wenn sie nicht obdachlos geworden wären. Die Geiselnahme erfolgte, weil die Kanzlei Drake & Sweeney den neuen Eigentümer des Gebäudes – das Immobilienunternehmen RiverOaks – bei der Zwangsräumung unterstützt hatte.

Die Beteiligung der Kanzlei an den Vorgängen bestärkt Michael Brock in der Absicht, zu kündigen und als Armenanwalt für Mordecai Greens Rechts­beratungs­büro zu arbeiten.

An seinem letzten Arbeitstag entnimmt er dem Wandschrank seines für RiverOaks zuständigen Kollegen N. Braden Chance unbemerkt die entsprechende Akte. Die Schlüssel wurden ihm von dessen Assistenten Hector Palma zugespielt. Weil ein selbst am Kopierer stehender Anwalt in der Kanzlei auffallen würde, fährt Michael mit der Akte zum Rechtsberatungsbüro, um sie dort zu kopieren. An einer Kreuzung wird er von einem Kriminellen auf der Flucht vor der Polizei gerammt. Im Krankenhaus kommt er wieder zu sich.

Die Akte kann er zwar aus dem Wrack holen, aber nicht mehr unbemerkt zurücklegen.

Aus der Akte erfährt Michael weitere Einzelheiten, die mit der Zwangsräumung zusammenhängen. Die leerstehende Lagerhalle wurde vor einiger Zeit von TAG erworben, einem Unternehmen des ehemaligen Zuhälters Tillman Gantry. Der ließ mit Spanplatten Wohnräume abtrennen und vermietete diese für 100 Dollar pro Monat, in bar und ohne Verträge. Dann bekam RiverOaks den Zuschlag für ein geplantes neues Verteilzentrum der Post auf dem Areal. Die Firma kaufte deshalb die Immobilie für ein Vielfaches dessen, was TAG dafür bezahlt hatte. Um bei Abriss und Neubau keine Zeit zu verlieren, ließ RiverOaks eine Zwangsräumung durchführen, ohne Vorankündigung, denn die 17 Parteien wurden als Hausbesetzer statt als Mieter behandelt.

Im Journal der Akte ist eine Aktennotiz von Hector Palma vermerkt, die jedoch fehlt. Michael Brock kann sich denken, dass Braden Chance sie verschwinden ließ, weil sie die Unrechtmäßigkeit der Räumung dokumentierte.

Juristisches Tauziehen

Um in Lontae Burtons Namen Klage gegen TAG, RiverOaks und Drake & Sweeney einreichen zu können, veranlasst Mordecai Green über einen Richter beim Familiengericht in Washington, dass die Sozialarbeiterin Wilma Phelan als Treuhänderin des Nachlasses der Toten eingesetzt wird. Den drei beklagten Unternehmen wird vorgeworfen, durch die illegale Zwangsräumung den Tod der Obdachlosen und ihrer vier Kinder verschuldet zu haben. Parallel zur Klageeinreichung spielen die Armenanwälte dem Gerichtsreporter Tim Claussen Informationsmaterial darüber zu. Damit beginnt eine Artikelserie in der Washington Post, in der Stimmung gegen die profitgierigen Unternehmen gemacht wird.

Vor allem die auf ihren Ruf bedachte Anwaltskanzlei wird durch die Veröffentlichungen schwer getroffen. Sie schlägt zurück, lässt Michael Brock wegen schweren Diebstahls verhaften und reicht beim Standesgericht eine formelle Beschwerde ein. Mordecai Green bekommt seinen neuen Mitstreiter zwar nach wenigen Stunden gegen eine Kaution bis zum Strafprozess frei, aber Michael Brock muss nicht nur mit einer Verurteilung, sondern auch mit einem Entzug der Anwaltslizenz rechnen, denn seine Fingerabdrücke wurden an Braden Chances Aktenschrank sichergestellt und es gibt noch mehr Indizien gegen ihn.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


 

Um die Pressekampagne einzudämmen, versucht Drake & Sweeney die Auseinandersetzung ohne Gerichtsverfahren zu regeln. In einem Konferenzraum der Kanzlei treffen sich der 80-jährige Seniorpartner Arthur Jacobs und Vertreter der beiden anderen Beklagten mit Mordecai Green. Braden Chance wurde bereits wegen seiner Verfehlungen entlassen. Mordecai Green legt eine Kopie der von Braden Chance aus der Akte entfernten Aktennotiz vor, die beweist, dass dem Anwalt die Illegalität der Räumung bewusst war. Michael Brock bekam sie von Hector Palma, der noch von Braden Chance nach Chicago abgeschoben worden war. Eine gütliche Einigung kommt bei der Verhandlung allerdings nicht zustande.

Während Richter Kisner das Strafverfahren gegen Mike Brock vorbereitet, bestellt Richter DeOrio die Parteien mit dem Ziel eines Vergleichs im Zivilverfahren ein. Nach hartem Verhandeln einigt man sich auf eine Millionenzahlung der Beklagten, und Michael Brock nimmt einen Lizenzentzug für neun Monate hin, der ihn bei seiner Tätigkeit im Rechtsberatungsbüro ohnehin nicht weiter einschränkt.

Einunddreißig wirkliche Menschen warteten darauf, dass ich ihnen Lebensmittelgutscheine verschaffte, mich um die Zuweisungen von Sozialwohnungen kümmerte, Scheidungen einreichte, ihre Verteidigung in Strafsachen übernahm, ausstehende Lohnzahlungen eintrieb, Zwangsräumungen verhinderte, bei Suchtproblemen half […]

Arthur Jacobs überrascht ihn bald darauf mit einem Besuch im Büro. Von seinem Gewissen geplagt, verspricht der alte Mann, er werde jeden der 400 Anwälte der Kanzlei in Washington verpflichten, regelmäßig Pro-bono-Fälle von Obdachlosen zu übernehmen. Michael Brock soll diese Aufgaben koordinieren. Damit Hector Palma ihn dabei unterstützten kann, wird der Sachbearbeiter mit seiner Familie aus Chicago zurückgeholt.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Im Mittelpunkt des Justizthrillers „Der Verrat“ von John Grisham steht ein amerikanischer Rechtsanwalt mit einer vielversprechenden Karriere, ein Workaholic, der sich auf der Überholspur bewegt. Durch die Konfrontation mit einem verzweifelten Obdachlosen kommt dieser Ich-Erzähler zur Besinnung. Geld und Erfolg seien nicht das Entscheidende, meint er. Michael Brock kündigt und beginnt, sich für die Bedürftigen in der Stadt zu engagieren. Im Kontrast zu ihm stehen gut verdienende Anwälte und Geschäftsleute, die sich sogar auf Kosten der Ärmsten skrupellos bereichern. John Grisham prangert die Gier der Karrieristen an, plädiert für Mitmenschlichkeit und veranschaulicht das Elend von Menschen, die auf Notunterkünfte und Suppenküchen angewiesen sind.

Es mag vorkommen, dass eine Person weit oben auf der Karriereleiter innehält, am Sinn des Weiterkletterns zweifelt und sich dann mit einem Bruchteil des bisherigen Einkommens zufrieden gibt, um ein neues Leben beginnen zu können. Überzogen wirkt allerdings das Ende des Romans „Der Verrat“, wenn der geläuterte Chef einer erfolgreichen Anwaltskanzlei in einer US-amerikanischen Großstadt seine 400 allesamt auf smartes Taktieren trainierten Juristen zu regelmäßigem Pro-bono-Einsatz für Obdachlose verpflichtet.

John Grisham hat sowohl spannendere als auch komplexere Romane geschrieben. Aber wie in fast allen seinen Büchern veranschaulicht er in „Der Verrat“ Charakteristika der US-amerikanischen Gesellschaft und ihres Justizwesens, die er für bedenklich hält. Das macht den besonderen Reiz der unterhaltsamen Lektüre aus.

Den Justizthriller „Der Verrat“ von John Grisham gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Charles Brauer.

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Hoffmann und Campe Verlag

John Grisham (Kurzbiografie / Bibliografie)

John Grisham: Die Firma
John Grisham: Der Klient (Verfilmung)
John Grisham: Die Kammer
John Grisham: Das Urteil (Verfilmung)
John Grisham: Das Fest
John Grisham: Die Schuld
John Grisham: Der Anwalt
John Grisham: Das Geständnis
John Grisham: Das Komplott
John Grisham: Die Erbin
John Grisham: Der Gerechte
John Grisham: Bestechung
John Grisham: Das Original
John Grisham: Das Bekenntnis
John Grisham: Die Wächter
John Grisham: Das Manuskript
John Grisham: Der Verdächtige

Rafael Chirbes - Am Ufer
Was Rafael Chirbes in seinem trost­losen Roman "Am Ufer" zu erzählen hat, kleidet er in Erinnerungen, innere Monologe, Dialoge. Zumeist hören wir den Protagonisten, aber zwischendurch kommen auch andere Figuren zu Wort.
Am Ufer