John Grisham : Der Verdächtige

Der Verdächtige
The Judge's List Doubleday, New York 2021 Der Verdächtige Übersetzung: Bea Reiter, Imke Walsh-Araya, Kristiana Dorn-Ruhl Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 ISBN 978-3-453-27316-0, 413 Seiten ISBN 978-3-641-26624-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein als Kind sexuell missbrauchter Richter rächt sich nicht nur an dem Vergewaltiger, sondern auch an anderen Menschen, die ihn verhöhnten, übervorteilten oder ihm auf andere Weise schadeten. Er ermordet sie nach immer gleichem Muster. Weil das in verschiedenen Bundesstaaten der USA geschieht, bemerkt keiner der Ermittler die Zusammenhänge. Das bleibt der Tochter eines Mordopfers vorbehalten ...
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Kritik

"Der Verdächtige" spielt zwar auch in der Welt der US-amerikanischen Jurisdiktion, ist aber kein Justizthriller, wie wir es von John Grisham gewöhnt sind, sondern handelt von einem als Richter amtierenden Serienmörder. Den kennen wir von Anfang an. Es geht also nicht ums "Whodunit", sondern um ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Verbrecher und Ermittlern.
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Der Verdächtige

Die 39-jährige Juristin Lacy Stoltz, die mit dem ein Jahr jüngeren FBI-Agenten Allie Pacheco liiert ist, arbeitet seit zwölf Jahren für das 1968 gegründete Board of Judicial Conduct (BJC) in Tallahassee/Florida, eine Dienstaufsichtsbehörde, die Beschwerden über Richter nachgeht.

Fast immer handelt es um Befangenheit bzw. Voreingenommenheit, die Verschleppung von Prozessen, Korruption und ähnliches Fehlverhalten. Aber nun wird Lacy mit einem Fall ganz anderer Dimension konfrontiert: Eine Afroamerikanerin mit dem Decknamen Margie meldet sich bei ihr, weil sie weiß, dass Lacy vor drei Jahren den Mut hatte, die korrupte, mit dem organisierten Verbrechen konspirierende Richterin Claudia McDover zu überführen. Margie ist überzeugt, dass der 49-jährige Richter Ross Bannick vor 22 Jahren ihren Vater ermordete. Nicht nur das: Es handele sich um einen Serienmörder, behauptet sie.

Bei einer weiteren Unterredung mit Lacy Stoltz gibt die 46-Jährige ihre Identität preis: Jeri Crosby lehrt als ordentliche Professorin Politikwissenschaft an der University of South Alabama in Mobile. Sie ist geschieden. Ihre Tochter Denise studiert an der University of Michigan in Ann Arbor. Ihr Vater, der Juraprofessor Bryan Burke, wirkte an der Stetson University in Gulfport/Florida, bis er 1990 im Alter von 60 Jahren emeritierte und mit seiner Frau in seine Heimatstadt Gaffney in South Carolina zurückkehrte. 1992 sei er von Ross Bannick ermordet worden, behauptet Jeri. Ihre Mutter starb zwei Jahre später.

Seit damals recherchiert Jeri über den Verbrecher. Es ist ihre Obsession, den Mörder ihres Vaters zu überführen. Dabei hat sie verschiedene Rollen gespielt, um an Informationen heranzukommen, etwa als Journalistin, Romanautorin oder Privatdetektivin. Die Serienmorde begannen wohl 1990 mit Thad Leawood in Signal Mountain bei Chattanooga/Tennessee. Der hatte Ende der Siebzigerjahre als Gruppenleiter in einem Pfadfinder-Lager ihm anvertraute Jungen sexuell missbraucht, auch den damals 13-jährigen Ross Bannick, und war dann untergetaucht. Ross Bannick spürte ihn 1990 auf und rächte sich.

Warum er Jeris Vater umbrachte? Ebenfalls aus Rache. Als Student provozierte Ross Bannick während einer Vorlesung Prof. Bryan Burke und glaubte, dessen Argumentation widerlegen zu können, blamierte sich jedoch dabei und brach daraufhin sein Jura-Studium ab. Den Abschluss holte er später an der University of Miamy nach.

In dieser Zeit verhöhnte ihn die Kommilitonin Eileen Nickleberry 1985 vor allen anderen, weil er sexuell versagt hatte. 13 Jahre später ermordete er sie bei Wilmington/North Carolina.

Seit 2004 amtiert Ross Bannick als Richter in Pensacola/Florida. Sein Hauptwohnsitz befindet sich in Cullman/Alabama.

Der jüngste Fall, den Jeri entdeckt hat, ereignete sich vor zwei Jahren auf einem Boot vor Marathon/Florida. Da ermordete Ross Bannick den 81 Jahre alten früheren Rechtsanwalt H. Perry Kronke, der 1989 als Partner der Großkanzlei Paine & Grubber allen 28 Praktikanten dieses Sommers mit Ausnahme von Ross Bannick ein Stellenangebot gemacht hatte.

Alle sechs Opfer, von denen Jeri weiß, wurden auf die gleiche Weise getötet: Zuerst schlug ihnen der Mörder den Schädel ein, dann erdrosselte er die Sterbenden mit einem Stück des immer gleichen Nylonseils, dessen Enden er mit einem doppelten Mastwurf verknotete. Weil die Verbrechen in verschiedenen Bundesstaaten geschahen, bemerkte keiner der Ermittler die Zusammenhänge. Die Fälle blieben alle unaufgeklärt.

Doppelmord

In Biloxi/Mississippi wartet der Anstreicher Lanny L. Verno aus Gulfport/Florida auf den Bauunternehmer Mike Dunwoody. Stattdessen betritt ein Fremder das Haus, zertrümmert ihm mit einer Bleikugel an der Spitze eines Teleskop-Schlagstocks den Schädel und erdrosselt ihn mit einem Nylonseil. Bevor er verschwinden kann, trifft Mike Dunwoody ein. Ross Bannick schlägt auch ihm den Schädel ein, lässt jedoch sein Markenzeichen weg, das Nylonseil mit dem Mastwurf-Knoten, und bedauert ein wenig, dass der Mann zur falschen Zeit am falschen Ort auftauchte.

Joey Dunwoody sucht nach seinem Vater, erblickt schließlich dessen Pick-up und stößt auf die beiden Toten. Die Polizei ortet die Handys der Ermordeten in einem Briefkasten in Neely, und Dale Black, der Sheriff von Harrison County, lässt sie dort von Herschel Dereford, dem Leiter des Postamts, herausholen. Sie stecken in einem an Dale Blacks Tochter adressierten Umschlag.

Jeri erfährt von dem Doppelmord fünf Monate später durch einen Kontakt im Internet und beauftragt den Privatdetektiv Rollie Tabor mit Nachforschungen. Der wendet sich, nachdem er den Einsatzbericht gelesen hat, an den ehemaligen Polizisten Norris Ozment, der Lanny Verno 2001 festnahm. Der Anstreicher hatte damals am Haus des Rechtsanwalts Ross Bannick gearbeitet. Über die Rechnung war es zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen. Bannick zeigte Verno wegen Gewaltandrohung an, aber das Verfahren wurde nach zwei Monaten eingestellt, weil Aussage gegen Aussage stand.

Dienstaufsichtsbeschwerde

Charlotte Baskin – Spitzname Cleopatra, kurz Cleo – die Leiterin des BJC, will die Behörde aus dem skandalträchtigen Fall heraushalten, aber als sie kündigt, wird Lacy Stoltz mit der Interimsleitung betraut und kann nun selbst darüber entscheiden.

Nachdem sie in mehreren der Mordfälle eigene Ermittlungen unternommen und sich von Jeris Glaubwürdigkeit überzeugt hat, wird es Zeit für eine offizielle Dienstaufsichtsbeschwerde, obwohl es nur Indizien, aber keine Beweise gegen den Richter gibt.

Unter dem Decknamen Betty Roe reicht Jeri die Beschwerde ein.

Parallel dazu schickt sie Ross Bannick anonyme Briefe, deutet an, dass sie über die Mordserie Bescheid weiß und das BJC von Florida gegen ihn ermittelt. Jeri will, dass er nicht mehr ruhig schlafen kann.

Bannick, der auch ein gewiefter Hacker ist, findet über seinen Trojaner „Rafe“ heraus, dass sich Lacy Stoltz und ihr Mitarbeiter Darren Trope bei mehreren Amtsträgern über ihn bzw. seine Taten erkundigten. Das tat auch ein Mann, der sich als Jeff Dunlap aus Conyers/Georgia ausgab, den Bannick allerdings rasch als den in Alabama zugelassenen Privatdetektiv Rollie Tabor identifiziert. Um herauszufinden, wer ihm auf die Spur gekommen ist, geht er die Familien seiner Opfer durch und stößt dabei auf Jeri Crosby in Mobile.

Seiner langjährigen Sekretärin Diana Zhang sagt Bannick, bei ihm sei Darmkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert worden. Um sich in einer Klinik in New Mexico behandeln zu lassen, habe er 60 Tage Urlaub genommen.

Er fliegt nach Santa Fe. Von dort fährt er zu einem Luxus-Trailerpark bei Sugar Land in Texas, wo er seit längerer Zeit ein Wohnmobil stehen hat. Er ruft den Rechtsanwalt Mal Schnetzer an, der ihn 1993 übervorteilte und lockt ihn mit einem lukrativ aussehenden Mandat an – um sich zu rächen.

Weil Mal Schnetzer vor einigen Jahren in Pensacola tätig war, berichtet die Lokalzeitung über den Mord in Texas. Jeri liest die Nachricht und sucht im Internet weiteres Material dazu. Das schickt sie einer Journalistin, die daraufhin eine Sensationsstory über vier Männer aus Pensacola veröffentlicht, die in anderen Bundesstaaten ermordet wurden.

Dass Lacy Stoltz das FBI und die State Police einschaltet, erfährt Bannick durch „Rafe“.

Katz-und-Maus-Spiel

Bannick fährt nach Mobile und bringt einen GPS-Tracker an Jeri Crosbys Auto an. Dann legt er ihr einen Umschlag mit Kopien ihrer anonymen Schreiben vor die Tür. Wie erwartet, gerät sie in Panik, als sie begreift, dass der Serienmörder weiß, wer sie ist. Sie flüchtet mit dem Auto und nimmt sich schließlich unter dem Namen Margie Frazer ein Zimmer in einem Motel.

Bannick ist ihr gefolgt. Mit dem Laptop hackt er sich in das IT-Systems des Motels ein. Er findet heraus, in welchem Zimmer sie ist, entriegelt die Türen und stellt den Strom ab. Als er ihr Zimmer betritt, hört er die Schlafende atmen. Er betäubt sie mit einem in Äther getränkten Lappen, schleppt sie zum Auto und injiziert ihr Ketamin, um sie in eine abgelegene Hütte bei Gantt Lake/Alabama zu entführen.

Dort zwingt er sie mit vorgehaltener Pistole, Lacy anzurufen und ins Bayview Motel zu locken, wo er ihr Zimmer für eine weitere Nacht gemietet hat.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Weil zufällig Lacys älterer Bruder Gunther, ein Bauunternehmer aus Atlanta, zu Besuch ist, begleitet er sie. Als Lacy im Motel an die Zimmertür klopft, wird der Strom abgeschaltet. Bannick reißt die Tür auf und will Lacy einen Äther-Lappen ins Gesicht drücken, aber bevor er sie betäuben kann, greift Gunther ihn im Dunkeln an. Die Männer prügeln sich. Der Lärm sorgt dafür, dass immer mehr Leute aus ihren Zimmern kommen. Lacy ruft Clay Vidovich an, den in diesem Fall leitenden Special Agent des FBI.

Bannick gelingt es zu fliehen. Er kehrt zur Hütte zurück – aber schon von weitem sieht er die Blinklichter von Polizei- und Rettungsfahrzeugen.

Jeri wird ins Krankenhaus nach Enterprise/Alabama gebracht.

Zwei Halbwüchsige, die mit ihren Quads unterwegs waren, entdeckten die Hütte und brachen die Tür auf, um nach Wertsachen zu suchen. Stattdessen fanden sie eine Afroamerikanerin, die sie zunächst für tot hielten. Mit einem anonymen Notruf alarmierten sie die Polizei, bevor sie verschwanden.

Unbemerkt entfernt Bannick sich. Von Amarillo/Texas schickt er ein an sich selbst im Gericht adressiertes Päckchen. Dann meldet er sich in Pecos Mountain Lodge an, einer exklusiven Entzugsklinik bei Santa Fe. Er wolle vom Alkohol loskommen, erklärt er Dr. Joseph Kassabian.

In seinem Zimmer trägt er Handschuhe und wischt alles ab, bevor er Wasser ins Waschbecken laufen lässt, Natriumhydroxid-Perlen dazu schüttet und 40 Oxycodon-Tabletten schluckt. Er stopft sich ein Handtuch zwischen die Zähne und taucht alle zehn Finger in die Natronlauge. Dann schleppt er sich zum Bett, wo er in Ohnmacht fällt.

Als er gefunden wird, ist er bereits tot. Seine verätzten Finger sind grotesk geschwollen.

Diana Zhang öffnet das an ihren Chef adressierte Päckchen. Ross Bannick hat sie als Testamentsvollstreckerin bestimmt und als Alleinerbin eingesetzt. Er trägt ihr auf, eine Obduktion zu verhindern und eine sofortige Einäscherung in Santa Fe zu veranlassen. In der von ihm formulierten Pressemitteilung heißt es, der 49-jährige angesehene Richter sei in der Nähe von Santa Fe an Darmkrebs gestorben.

Der Serienmörder kann zwar nicht weitermachen, aber ohne Beweise für seine Verbrechen bleibt die Reputation des Richters erhalten.

Jeri findet sich damit nicht ab. Auf einem Schrottplatz nahe Milton nördlich von Pensacola spürt sie den Pick-up auf, der einem Zeugen nach der Ermordung von Lanny Verno und Mike Dunwoody vor dem Postamt in Neely aufgefallen war. Weil an Vernos Handy ein Teildaumenabdruck sichergestellt werden konnte, der mit Fingerabdrücken auf der Betriebsanleitung im Handschuhfach des Schrottautos übereinstimmt, lässt sich wenigstens der Doppelmord in Biloxi/Mississippi aufklären.

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John Grisham schreibt Justizthriller. „Der Verdächtige“ spielt zwar auch in der Welt der US-amerikanischen Jurisdiktion, aber in diesem Kriminalroman kritisiert der Autor Schwächen des Justizsystems nur am Rand, beispielsweise mit dem Hinweis, dass die einzelnen Bundesstaaten bei der Aufklärung von grenzübergreifenden Verbrechen zu wenig kooperieren.

Im Nachwort erklärt John Grisham, dass es zwar seit 1968 die Judicial Qualifications Commission in Florida als Aufsichtsbehörde gibt, aber nicht das in seinem Roman beschriebene Board of Judicial Conduct. Das ist Fiktion.

„Der Verdächtige“ dreht sich um einen als Kind sexuell missbrauchten Richter, der für eine Mordserie verantwortlich ist, mit der er sich nicht nur an dem Vergewaltiger, sondern auch an anderen Menschen rächt, die ihn irgendwann einmal verhöhnten, übervorteilten oder ihm auf andere Weise schadeten.

Lacy Stoltz, eine der Hauptfiguren, kennen wir bereits aus dem Thriller „Bestechung“, aber bei der Lektüre von „Der Verdächtige“ wird keineswegs vorausgesetzt, dass man das andere Buch bereits gelesen hat.

Den Mörder kennen wir von Anfang an. „Der Verdächtige“ ist also kein Whodunit-Krimi. Stattdessen geht es um ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Verbrecher und den Ermittlern. Wird es gelingen, dem Verdächtigen die Taten nachzuweisen? Wird er entkommen? Kann er sich noch an der Tochter eines Opfers rächen, die ihm auf die Spur gekommen ist?

John Grisham entwickelt die Handlung als auktorialer Erzähler, vorwiegend aus den Perspektiven der beiden Frauen Jeri Crosby und Lacy Stoltz. Zwischendurch schaut er aber auch dem Serienmörder über die Schulter. Das Tempo ist etwas unausgeglichen: Im Vergleich zu den ausgeklügelten ersten 350 Seiten des Buches geht es am Ende nicht nur zu schnell, sondern es fehlt der Auflösung auch an Raffinesse.

Den Roman „Der Verdächtige“ von John Grisham gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Charles Brauer.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022

John Grisham (kurze Biografie / Bibliografie)

John Grisham: Die Firma
John Grisham: Der Klient (Verfilmung)
John Grisham: Die Kammer
John Grisham: Der Verrat
John Grisham: Das Urteil (Verfilmung)
John Grisham: Das Fest
John Grisham: Die Schuld
John Grisham: Der Anwalt
John Grisham: Das Geständnis
John Grisham: Das Komplott
John Grisham: Die Erbin
John Grisham: Der Gerechte
John Grisham: Bestechung
John Grisham: Das Original
John Grisham: Das Bekenntnis
John Grisham: Die Wächter
John Grisham: Das Manuskript

Monika Helfer - Bevor ich schlafen kann
Monika Helfer denkt sich in eine außergewöhnliche "zwischen Depression und Dynamit aufgespannte Frau" hinein und versteht es, die komplexe, widersprüchliche Romanfigur in "Bevor ich schlafen kann" lebendig werden zu lassen.
Bevor ich schlafen kann