Marlen Haushofer : Die Wand

Die Wand
Die Wand Originalausgabe: Sigbert Mohn Verlag, Gütersloh 1963 Claassen Verlag, Hamburg / Düsseldorf 1968 Ullstein-Taschenbuch-Verlag, Berlin 2016 ISBN 978-3-548-28812-3, 383 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Erzählerin will mit einem befreundeten Ehepaar ein langes Wochenende in einem Jagdhaus verbringen. Von einem Wirtshausbesuch im nahen Dorf kehren die Freunde nicht zurück, und als die Erzählerin nach ihnen sucht, stößt sie gegen eine unsichtbare Wand, die offenbar das gesamte Gebiet großräumig einschließt. Jenseits der Wand erblickt sie erstarrte Menschen und Tiere. Ohne darüber nachzugrübeln, was geschehen ist, richtet sie sich mit dem Wenigen ein, das ihr geblieben ist ...
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Kritik

"Die Wand" lässt sich als emanzipatorischer Frauenroman lesen, aber auch als Zivilisationskritik verstehen. Nüchtern schildert Marlen Haushofer, wie die Protagonistin ihre praktischen Probleme löst. Wörter wie Selbstfindung oder Emanzipation kommen in "Die Wand" nicht vor.
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Die Erzählerin, eine Frau Mitte vierzig, deren Namen wir nicht erfahren, wird von ihrer Cousine Luise und deren Ehemann Hugo Rüttlinger zu einem langen Wochenende im Jagdhaus des Unternehmers eingeladen. Im Gegensatz zu seiner Frau hat Rüttlinger zwar für die Jagd nichts übrig, aber er hat sich das Jagdrevier mit dem dazugehörigen Haus wegen seiner Geschäftsfreunde zugelegt.

Nach der Ankunft im Jagdhaus drängt Luise ihren Mann, noch ins Dorf zu gehen. Ihre Cousine, die allein zurückbleibt, weiß, dass Luise sich gern mit Knechten und Bauernburschen in der Dorfgaststätte unterhält.

Als das Ehepaar auch am nächsten Morgen nicht zurückkehrt, geht die Erzählerin mit Rüttlingers Hund Luchs los, um nachzusehen. Plötzlich jault der voraus­gelaufene Hund auf und kehrt mit blutiger Schnauze zurück. Im nächsten Augenblick stößt die Frau mit der Stirn gegen eine unsichtbare Wand. Jenseits der Wand erblickt sie einen alten Mann, der offenbar erstarrte, während er sich am Brunnen wusch, eine Frau, einen Schäferhund und zwei Kühe, alle regungslos. Da scheint niemand mehr zu leben. Was ist passiert? Sie schaltet das Radio in Rüttlingers nutzlos herumstehenden Auto ein, doch welchen Sender sie auch einstellt, aus den Lautsprechern summt es nur.

Am nächsten Tag kommt eine Kuh aus dem Wald, die vor Schmerzen brüllt, weil sie gemolken werden muss. Die Erzählerin ist zwar in der Stadt aufgewachsen, aber die Schulferien verbrachte sie auf dem Land, weil ihre Mutter – Luise Rüttlingers Tante – von einem Bauernhof stammte. Sie weiß deshalb, wie man eine Kuh melkt, verschafft dem Tier Erleichterung, und die Milch kann sie gut gebrauchen. Bella nennt sie das nützliche Tier.

Während eines Unwetters läuft ihr nach vier Wochen eine abgemagerte Bauernkatze zu.

Die Rüttlingers haben einen Vorrat von etwa viertausend Zündhölzern hinterlassen. Der wird schätzungsweise für fünf Jahre reichen. Aber was wird danach sein? Wird sie dann im Winter erfrieren?

Obwohl die von der Außenwelt abgeschlossene Frau die im Jagdhaus vorhandenen Lebensmittel sorgfältig einteilt, fehlt es ihr nach ein paar Wochen an Gemüse, Brot und Zucker. Außer dem Wasser aus einer Quelle oberhalb des Jagdhauses trinkt sie die Kuhmilch, und einen Teil davon verarbeitet sie zu Butter. Mit den eingelagerten Kartoffeln legt sie einen Acker an, und widerwillig schießt sie hin und wieder Wild, um Fleisch für sich und den Hund zu beschaffen. Im Herbst wird sie Äpfel und Pflaumen pflücken und Beeren sammeln können. Jeden Tag gibt es viel zu tun: Nachdem sie einen Stall für Bella hergerichtet und den Karoffelacker angelegt hat, holt sie Holz für den Winter aus dem Wald, das sie zu passenden Scheiten sägt und hackt. So viel Plage und Mühsal ist sie nicht gewohnt.

Einmal hat sie Zahnschmerzen, ein anderes Mal erkältet sie sich und kriegt Fieber; hin und wieder verletzt sie sich oder muss Blasen an Händen und Füßen behandeln. Zum Glück handelte es sich bei Hugo Rüttlinger um einen Hypochonder, der für alle Eventualitäten Medikamente, Salben und Verbandsmaterial dabei hatte.

Weil sie wegen der Kuh nicht länger als einen Tag fortbleiben kann, bricht sie in einer Vollmondnacht gegen 23 Uhr mit Luchs auf, steigt zu einer Jagdhütte auf und wandert weiter ins nächste Tal. Auch dort stößt sie an die Wand.

Während des langen Rückwegs dachte ich über mein früheres Leben nach und fand es in jeder Hinsicht ungeeignet. Ich hatte wenig erreicht von allem, was ich gewollt hatte, und alles, was ich erreicht hatte, hatte ich nicht mehr gewollt. (Seite 66f)

Die Katze wirft zwei Junge, von denen eines überlebt. Die Frau nennt es Perle. Nach kurzer Zeit wird das Kätzchen von einem Fuchs getötet.

Bella muss auch trächtig gewesen sein, als sie auftauchte. Weil es sich bei dem Kalb um einen Stier handelt, hofft die Frau, dass dieser Bella besamt, sobald er dazu in der Lage ist.

Der am Jagdhaus vorbeifließende Gebirgsbach wird zwar durch die unsichtbare Wand nicht völlig blockiert, doch während eines Unwetters staut sich das Wasser. Die Wand hält dem mitgerissenen Geröll und den Bäumen allerdings stand.

Die Wand ist so sehr ein Teil meines Lebens geworden, dass ich oft wochenlang nicht an sie denke […]
Wenn es dort draußen noch Menschen gäbe, hätten sie längst das Gebiet mit Flugzeugen überflogen. Ich habe gesehen, dass auch niedrighängende Wolken die Grenze überfliegen können […] Wo bleiben die Erkundungsflugzeuge der Sieger? Gibt es keine Sieger? (Seite 164f)

Einige Monate später wirft die Katze erneut; diesmal sind es drei Junge, von denen eines nach wenigen Tagen in Krämpfen und Zuckungen verendet, und der von der Frau Panther genannte kleine Kater wird auch nur ein paar Wochen alt, dann kehrt er von einem Ausflug in den Wald nicht mehr zurück. Tiger heißt das überlebende Jungtier.

Den zweiten Sommer verbringt die Frau mit der Kuh, dem Stier, dem Hund und den beiden Katzen auf einer höher gelegenen Alm. Die notwendigen Gebrauchsgegenstände hin- und herzuschaffen, dauert jeweils mehrere Tage, denn die Frau muss alles im Rucksack tragen.

Seit ich langsamer geworden bin, ist der Wald um mich erst lebendig geworden. Ich möchte nicht sagen, dass dies die einzige Art zu leben ist, für mich ist sie aber gewiss die angemessene. (Seite 242f)

Bella verlangt brüllend nach einer Begattung und wird schließlich von ihrem eigenen Nachwuchs bestiegen. Tiger sucht vergeblich nach einem Weibchen, zumal seine Mutter inzwischen offenbar wieder von einem wilden Kater gedeckt wurde. Eines Tages verschwindet Tiger wie sein Bruder.

Auch im nächsten Sommer lebt die Frau mit den Tieren auf der Alm. Hin und wieder muss sie zum Jagdhaus hinunter, beispielsweise um nach dem Kartoffelacker zu sehen.

Als sie mit Luchs von so einem Tagesausflug zurückkommt und sich der Alm nähert, bellt Luchs schon von weitem. Die Frau erblickt einen Mann, der eine Axt in der Hand hält. Der Stier liegt mit gespaltenem Schädel vor ihm. Während sie in die Almhütte rennt und ihr Gewehr holt, erschlägt der Mann auch den ihn angreifenden Hund. Gleich mit dem ersten Schuss tötet die Frau den Mann. Sie schleift die Leiche zu einem Abhang und lässt sie talwärts rollen. Den Hund begräbt sie. Der Stier ist zu schwer für sie; seine Gebeine werden in der Sonne bleichen.

Am nächsten Morgen verlässt sie mit Bella die Alm.

Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu, und ich will nicht warten, bis sie mich erreicht und überwältigt. (Seite 7)

Um nicht den Verstand zu verlieren, schreibt sie im Jagdhaus auf vergilbtem Geschäftspapier und den Rückseiten von Kalenderblättern auf, was sie seit ihrer Ankunft erlebte. Vier Monate benötigt sie dafür, dann muss sie aufhören, weil sie kein leeres Stück Papier mehr findet.

Bella scheint trächtig zu sein.

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Die Protagonistin des Romans „Die Wand“ bleibt erstaunlich gelassen, als sie eines Morgens feststellt, dass sie über Nacht durch eine undurchdringliche Wand von der Außenwelt abgetrennt wurde. Offenbar gibt es außerhalb des abgegrenzten Gebietes kein Leben mehr; da muss sich eine Katastrophe ereignet haben. (Marlene Haushofer geht nicht weiter darauf ein.) Ohne darüber nachzugrübeln oder zu versuchen, die Wand zu überwinden, richtet sich die Frau mit dem wenigen ein, das ihr geblieben ist: ein Hund, eine Kuh, eine Katze, ein Jagdhaus, eine Alm und ein Stück Natur. Obwohl sie die Mühsal nicht gewohnt ist, scheint sie zufrieden zu sein; sie vertraut auf sich selbst, entwickelt ihre praktischen Fähigkeiten und wird notgedrungen autark.

Während die Tiere von ihren Trieben gequält werden, wenn sie brünstig sind, stellt die Frau nach kurzer Zeit überrascht fest, dass sie kaum noch menstruiert und ihr Körper infolge der harten Arbeit seine weiblichen Formen verliert. Die Sexualität spielt offenbar keine Rolle mehr für sie.

Nach zwei Jahren taucht unvermittelt ein weiterer Mensch auf. Es handelt sich um einen gewalttätigen Mann, den die Frau in Notwehr erschießt, ohne auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln.

Man kann „Die Wand“ als Frauenroman lesen und verstehen, dass sich die Protagonistin emanzipiert, sobald sie von der Männerwelt abgeschirmt und auf sich allein gestellt ist. Die weibliche Robinson-Figur hat einen Freiraum gewonnen – allerdings muss sie dafür Mühe und Einsamkeit in Kauf nehmen.

Allgemeiner ist die Frage, was mit einem aus Gesellschaft und Zivilisation gefallenen Menschen geschieht. In diesem Zusammenhang lässt sich der Roman „Die Wand“ auch als Utopie und Zivilisationskritik interpretieren: Während das nutzlos herumstehende Auto von Pflanzen überwuchert wird, lernt ein auf die Natur angewiesener Mensch, ohne Kulturgüter und technische Errungenschaften auszukommen. Die Städterin entwickelt sich zur autarken Sennerin und Jägerin. Auf sich selbst zurückgeworfen, lernt sie, im Einklang mit der Natur zu leben. Ihr Ich löst sich in einem Wir-Gefühl auf, das nicht nur die Tiere mit einbezieht, sondern den gesamten ihr verbliebenen Kosmos.

Zugleich Sehnsuchtsbild und Horrorszenario, ist die Geschichte rund vierzig Jahre nach der Entstehung des Romans für viele Interpretationen offen. Ein Aufruf zur ökologischen Bewusstwerdung? Eine Erlösung von den Zwängen des Alltags, ein Gegenmittel für den Burn-out? Martina Gedeck nannte den Prozess, den ihre Figur durchlebt, einen Aufbruch in die Freiheit.
(Anke Sterneborg, Süddeutsche Zeitung, 15. Oktober 2012)

Marlene Haushofer schildert zwei Jahre im Leben dieser durch eine Wand von der Außenwelt abgeschnittenen Frau nüchtern, ohne Effekthascherei aus der Innenperspektive der Figur. Es geht kaum um Grübeleien, sondern um die Bewältigung praktischer Probleme. Wörter wie Selbstfindung oder Emanzipation kommen in „Die Wand“ nicht vor.

Für den Roman „Die Wand“ wurde Marlen Haushofer 1963 mit dem Arthur-Schnitzler-Preis ausgezeichnet.

Julian Roman Pölsler verfilmte den Roman „Die Wand“ von Marlen Haushofer mit Martina Gedeck: „Die Wand“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008 / 2014
Textauszüge: © Ullstein Buchverlage

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