William Melvin Kelley : Ein Tropfen Geduld

Ein Tropfen Geduld
A Drop of Patience Doubleday, New York 1965 Ein Tropfen Geduld Übersetzung: Kathrin Razum Nachwort: Gerald Early (1996) Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021 ISBN 978-3-455-01226-2, 283 Seiten ISBN 978-3-455-01227-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als Ludlow Washington fünf Jahre alt ist, überantwortet ihn sein Vater einem Heim für blinde afroamerikanische Kinder in den Südstaaten der USA. Er lernt, Jazz zu spielen und wird von einem Bandleader gekauft. Eine erfolgreiche schwarze Sängerin holt den 18-Jährigen nach New York. Eine Weiße findet es erregend, eine Affäre mit ihm zu haben, will aber nicht, dass jemand in ihrem Umfeld erfährt, dass sie mit einem Schwarzen zusammen ist ...
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Kritik

Der gesellschaftskritische Roman "Ein Tropfen Geduld" dreht sich um Jazz und das Zusammenleben von Schwarzen und Weißen in den USA. William Melvin Kelley entwickelt die gut durchdachte, teilweise tragikomische und von der ersten bis zur letzten Seite mitreißende Handlung stringent und lakonisch, chronologisch und ohne romantische Verklärung.
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Blindenheim

Als der blind geborene Ludlow („Luddy“) Washington fünf Jahre alt ist, bringt ihn sein Vater in ein von einem weißen Direktor geleitetes Heim für blinde schwarze Jungen in New Marsails irgendwo in den Südstaaten von Amerika. Einer von ihnen, der ein Jahr älter ist, bläut dem Neuankömmling sogleich ein, dass dieser sein Sklave sei.

Der Junge schlug ihm ins Gesicht. „Nenn mich Herr, wenn du mit mir redest.“
Ludlow seufzte. „Herr, hast du selbst auch einen Herrn?“
Der Junge verdrehte ihm wieder das Ohr, ehe er antwortete. „Dummer Sklave! Natürlich hab ich einen Herrn. Wir haben alle einen. Unser Leben lang.“

Damit die Zöglinge später nicht betteln gehen müssen, lehrt man sie im Heim, Musikinstrumente zu spielen. Ludlow fängt mit dem Klavier an und konzentriert sich vom neunten Lebensjahr an auf ein Blasinstrument (Saxofon?).

Von seinen Eltern hört er nie wieder etwas.

Boone’s Café

Er ist 16, da holt ihn ein Mann namens Bud Rodney aus dem Heim. Rodney hat für ihn bezahlt und übernimmt nun bis zu Ludlows Volljährigkeit die Vormundschaft. Er bringt ihn bei der schwarzen Zimmervermieterin Bertha Scott unter, ganz in der Nähe von „Boone’s Café“, in dem der Pianist Bud Rodney Bandleader ist und Ludlow nun jede Nacht zu spielen hat.

Boone’s Café war ein langes, scheunenartiges Gebäude mit einem hohen Dach, das die Musik der Band schluckte und zum Großteil auch das Geplapper der Trinkenden. Die Leute kamen ins Boone’s, um sich zu unterhalten, manchmal um zu tanzen, aber nur sehr selten, um der Musik zuzuhören.

Bertha Scott behandelt Ludlow freundlich, und er wagt bald, ihr eine Frage zu stellen, die ihn umtreibt.

„Na ja, Ma’am, es geht um die Unterschiede zwischen Menschen.“
„Du willst, dass ich dir etwas über Männer und Frauen erzähle?“ Sie war verblüfft und amüsiert.
[…] „Nein, Ma’am, nicht das. Ich mein den Unterschied zwischen Farbigen und Weißen. […] Im Heim gab’s einen Jungen, der hieß Vierauge – der hatte nämlich so ’ne richtig dicke Brille. Er konnte ein kleines bisschen sehen, wissen Sie. Und den haben wir immer gefragt. Er hat gesagt, der Direktor und Mister Gimpy wären weiß. Wir haben ihn gefragt, was das bedeutet, und er hat gesagt, es gäb zwei Sorten Leute, Weiße und Farbige, und die Farbigen hätten meistens braune Haut. Und wir wären alle farbig, denn die weißen blinden Jungs wären alle in einem anderen Heim, weil es gesetzlich nicht erlaubt ist, dass sie mit uns zusammen sind, weil sie besser sind als wir. Also haben wir gefragt, warum die besser sind als wir, und er hat gesagt, weil sie weiß sind. Also waren wir wieder da, wo wir angefangen hatten.“ Er holte tief Luft. „Mir war auch aufgefallen, dass Mister Gimpy und der Direktor anders reden als wir. Also haben wir Vierauge gefragt, ob es am Weißsein liegt, dass sie anders reden, und er hat gesagt, irgendwie schon. Und dann hat er gesagt, die Weißen hätten fast immer glatte Haare und nicht so eine breite Nase. Aber es gab einen Jungen, der war in dem Bett neben meinem, den hab ich mal betastet, und der hatte glatte Haare und eine schmale Nase, wo man den spitzen Knochen drin gespürt hat. Wir haben Vierauge gefragt, ob der weiß ist, aber er hat gesagt, nein, der ist auch farbig, aber sehr hell. Also waren wir schon wieder da, wo wir angefangen hatten.“

Otis Hardie, der 22-jährige Posaunist in Bud Rodneys Band, holt Ludlow allabendlich zur Arbeit und bringt ihn am frühen Morgen zurück zu Bertha Scott. Auch die beiden Prostituierten Malveen und Small-Change, die in Boone’s Café auf Freier warten, nehmen den Jungen unter ihre Fittiche, sobald Hardie ihn zu Beginn einer Pause von der Bühne führt.

Wenn Ludlow Platten von Norman Spencer hört, versucht er herauszufinden, was der Jazz-Pianist anders macht als alle anderen Jazz-Musiker, aber Rodney will nicht, dass er in Boone’s Café experimentiert.

Eines Abends holt der Bandleader den 16-Jährigen in einer Pause an den Tisch, an dem er mit einigen Gästen sitzt, darunter Inez Cunningham, die aktuell als bedeutendste Jazzsängerin der USA gilt.

„Inez Cunningham will dich kennenlernen, Ludlow. Es hat ihr gefallen, wie du spielst. Kann sein, dass sie dich fragen will, ob du mit ihr mitkommst. Du kannst nirgendwohin. Ist das klar?“
„Ja, Sir.“

Tatsächlich fordert Inez Cunningham ihn auf, in ihre Band zu wechseln, aber Ludlow antwortet höflich:

„Ich würde sehr gern mitkommen, aber ich kann nicht. Ich … habe Mister Rodney versprochen, bei ihm zu bleiben, bis ich achtzehn bin. Er hat viel für mich getan, hat mich aus dem Heim geholt, und ich will das wiedergutmachen.“

Ludlow denkt:

„Das Leben war außerhalb des Heims genauso, wie es im Heim gewesen war. Die Leute, die über einem waren, versuchten einen unten zu halten, und die Leute, die unter einem waren, versuchten einen nach unten zu ziehen.“

Etta-Sue

Bertha Scott hat eine fast 22 Jahre alte Tochter, Etta-Sue, die seit vier Jahren als Dienstmädchen bei einer weißen Familie in der Hauptstadt des Bundesstaates, in Willson City, arbeitet und nur hin und wieder zu Besuch kommt.

Ein halbes Jahr, nachdem Ludlow die Tochter seiner Vermieterin kennengelernt hat, zieht sie zu ihrer Mutter nach New Marsalis zurück, weil ihr Boss versuchte, sie in der Speisekammer anzufassen.

Ludlow überredet sie schließlich, gegen den Willen ihrer Mutter in Boone’s Café zu kommen und der Band zuzuhören. Am frühen Morgen folgt sie ihm in sein Zimmer.

„Wo ist der Lichtschalter, Ludlow?“ Er wusste es nicht, hatte ihn nie benutzt.

Sie schläft mit ihm, aber bevor ihre Mutter erwacht, schleicht sie sich davon und legt sich in ihr eigenes Bett.

So lief es die nächsten zwei Monate weiter. Wann immer ihre Mutter für mehr als eine Stunde aus dem Haus ging, kam Etta-Sue zu ihm aufs Zimmer, und sie liebten sich. Manchmal kam sie auch ins Boone’s, um ihm zuzuhören, und danach verbrachten sie die Nacht zusammen.

Otis Hardie warnt Ludlow:

„Findet sie gut, was du machst? Darum geht’s. Die Leute, die tags arbeiten, sind anders. Du und ich, die ganzen Huren, selbst Rodney, wir sind alle Nachtarbeiter.“

Bald darauf heiraten Ludlow und Etta-Sue Scott.

Fünf Monate später merkt Etta-Sue, dass sie schwanger ist. Zwei Monate vor Ludlows 18. Geburtstag bringt sie das Kind zur Welt – und von da an kümmern sie und ihre Mutter sich nur noch um die Tochter, die Bertha wie ihre Großmutter heißen sollte, aber aufgrund eines Tippfehlers in der Geburtsurkunde offiziell den Namen Bethrah erhält.

Inez Cunningham hat den Jazz-Musiker nicht vergessen. Sie schickt dem nun Volljährigen ein Telegramm und fordert ihn auf, zu ihr nach New York zu kommen. Begeistert berichtet Ludlow es seiner Frau:

„Wir gehen nach New York! Sie hat mir ein Telegramm geschickt. Sie bezahlt mir die Reise und – hundert Dollar die Woche!“

Aber Etta-Sue denkt gar nicht daran, ihre Heimat zu verlassen. Ludlow zieht allein nach New York.

New York

Später wird Ludlow Washington in einem Interview sagen:

„Was ist das für ein Quatsch, von wegen, ich wär nach New York gekommen und hätte den Modern Jazz erfunden? Das ist gleich doppelt falsch. Erstens seh ich das nicht so, dass ich ihn allein erfunden hab. Da waren viele von uns dran beteiligt. Wir haben alle da oben in Harlem gehockt und Neues ausprobiert. Nicht nur ich allein. Ich hab Sachen von den anderen übernommen und die Sachen von mir. Und zweitens, falls doch ich ihn erfunden habe, wie alle behaupten, dann war das schon in New Marsails, in Bud Rodneys Band, oder vielleicht noch früher, im Blindenheim.“

Inez Cunningham stellt Ludlow schon in seiner ersten Woche in New York seinem Idol vor, dem 30 Jahre älteren Pianisten Norman Spencer, der sich weigert, irgendwo anders als in einem bestimmten Club in Harlem aufzutreten.

Nach drei Jahren lässt Ludlow sich von Jack O’Gee, dem Leiter einer hervorragenden Big Band, aus Inez Cunninghams Band abwerben. Zu seiner Überraschung trifft er Otis Hardie, der seit vier Monaten bei O’Gee Posaune spielt – und seit drei Monaten mit einer Frau namens Juanita verheiratet ist.

Ragan

Eine Weiße namens Ragan umwirbt Ludlow.

Eines Tages, es war Mitte August, drang er tief in sie ein, fasste sie an den Schultern, seufzte und sagte zu seiner eigenen Überraschung, dass er sie liebe. Sie erwiderte, sie liebe ihn schon seit Monaten, habe sich aber nicht getraut, es ihm zu sagen.

Sie mieten zusammen eine möblierte Wohnung in der Upper Westside. Als Ludlow sie einmal zu dem Bürogebäude begleiten möchte, in dem sie beschäftigt ist, wird sie nervös. Ludlow vermutet, dass ihre Kolleginnen nichts von ihrem afroamerikanischen Lebensgefährten erfahren sollen, weil es sonst heißen würde: „die nette, stille kleine Ragan und ihr Mann, der blinde Nigger“.

Am Abend bevor Ludlow zu einer Tournee aufbricht, will Ragan ohne Kondom mit ihm schlafen, und als er nach New York zurückkommt, ist sie schwanger. Ludlow freut sich darüber:

„Aber Baby, wir wollten doch eh heiraten. Was macht es schon, wenn das Kind drei Monate zu früh kommt?“

Ragan erwidert:

„Ludlow, ich will jetzt nicht heiraten. Ich will kein Kind kriegen. Ich bin noch nicht bereit, Mutter zu werden.“

Am nächsten Tag ist sie verschwunden. Offenbar verstört sie der Gedanke, ein dunkelhäutiges Kind zu bekommen. Dann könnte sie nicht länger verheimlichen, dass sie sich mit einem Schwarzen eingelassen hat.

Ludlow erleidet auf der Bühne einen Nervenzusammenbruch. Nach mehreren Behandlungen in psychiatrischen Kliniken wird er im Alter von 34 Jahren endgültig entlassen. Aber niemand engagiert ihn, denn alle befürchten, er könne noch einmal durchdrehen. Nur Otie Hardie trifft sich noch mit ihm. Der Posaunist leitet inzwischen seine eigene erfolgreiche Band und ist Vater von zwei Kindern.

Bei Hardie lief es zu gut, bei Ludlow zu schlecht.

Harriet

Die 21-jährige schwarze Studentin Harriet Lewis bittet Ludlow – er ist inzwischen knapp 36 ‒ um ein Interview für die College-Zeitung. Ein paar Tage später liest sie ihm den Text vor, und von da an besucht sie ihn häufiger. Er weiß nicht, wie er sie davon abbringen soll. Sie verblüfft ihn mit der Bemerkung:

„Du bist momentan der einzige Mann, bei dem mir danach ist, ihn zu lieben.“

Ohne ihr etwas vorzutäuschen, nimmt er sie mit in sein Zimmer, und sobald er die Tür geschlossen hat, hört er, wie sie sich auszieht.

An dem Tag, an dem Harriet ihren Collegeabschluss macht, bekommt Ludlow ein Engagement in einem kleinen Ferienhotel für Afroamerikaner angeboten, und Harriet wird dort als Kellnerin im Speisesaal beschäftigt.

Einmal kommt sie mit der neuesten Ausgabe des Four-Four-Magazine aus der Stadt zurück und liest ihm einen Artikel des angesehensten Jazzkritikers vor, der eine Schallplatte mit der Aufnahme einer Jamsession gehört hat und dazu schreibt:

„Ein Name schoss mir durch den Kopf: Ludlow Washington. Ja, dieser Musiker klang sehr nach Ludlow Washington. Er selbst konnte es natürlich nicht sein, denn jeder weiß, dass Washington vor sieben oder acht Jahren auf der Bühne eines New Yorker Nachtclubs ausgerastet ist und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. […] Wer immer da also spielte, hatte eine Menge von Washington gelernt, doch das wirklich Erstaunliche war etwas anderes: Dieser Musiker hatte nicht nur gelernt, sondern er hatte auf dem Gelernten aufgebaut. Er war besser als Ludlow Washington!“

Der Jazzkritiker berichtet, er habe schließlich begriffen, dass es niemand anderes als Ludlow Washington gewesen sei. Leider wisse niemand, wo dieses Genie sich aufhalte. Harriet ist begeistert:

„Ludlow. Begreifst du denn nicht? Du kannst nach New York zurückgehen und eine neue Band gründen.“

Er dachte an New York, wie es vor sieben Jahren für ihn gewesen war. Er erinnerte sich daran, wie er unter der trockenen Hitze auf der Bühne gestanden und sein Bestes gegeben hatte, während Gläser klirrten, ein Telefon läutete, die Kassenlade klingelte, Kellner schrien, Münzen klimperten, Lachsalven ertönten, Frauen herumgackerten. Selbst als er populär gewesen war, hatte man seine Musik nicht wirklich gewürdigt.
Er lachte. „Wenn ich es denn will.“
„Natürlich willst du das.“ Sie war verblüfft. „Du solltest in besseren Gruppen spielen als dieser hier. Zu deiner Musik sollten die Leute doch nicht tanzen.“
Die Hotelgäste tanzten tatsächlich. Aber um zu tanzen, musste man auf die Musik hören. Wenn sie tanzten, wenn das Scharren ihrer Füße zur Bühne aufstieg, wusste er zumindest, dass er sie erreicht hatte. Vielleicht war es zu viel verlangt, dass Leute stundenlang dasaßen und einfach nur zuhörten. Aber in New York tanzten sie nicht, und sie hörten auch nicht zu. Sie saßen da und unterhielten sich, und irgendwo in einer Ecke, wo die Musik die Leute nicht allzu sehr stören würde, spielten die Musiker.

Ludlow erklärt Harriet:

„Aber wenn ich zurückgehe und Geld von denen nehme, muss ich auch so leben, wie sie es erwarten. In dieser Welt muss man aufpassen, von wem man Geld nimmt.“

Zwei Wochen später schickt Ludlow sie allein nach New York.

„Du findest, dass ich zurückgehen sollte, oder? Du denkst, das ist meine große Chance.“
[…] „Ja.“
„Und ich sag auch gar nicht, dass das falsch ist. Ich weiß nur nicht, ob es richtig ist. Ich weiß nicht, ob es die Sache wert ist, vor diesen Leuten zu spielen. Vielleicht spiel ich lieber in irgendeiner kleinen Ladenkirche, wo ich weiß, dass mir die Leute zuhören. Das muss ich noch rausfinden.“

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Gleich zu Beginn seines Romans „Ein Tropfen Geduld“ spiegelt William Melvin Kelley die Sklaverei: Ludlow wird zu einem Zeitpunkt, in dem in den USA noch die „Rassentrennung“ gilt, als blindes afroamerikanisches Kind von seinem Vater einem Heim überantwortet, in dem er keine Rechte hat, und im Alter von 16 Jahren wird er von einem Bandleader gewissermaßen gekauft. Seiner Vermieterin berichtet er, dass man ihm als blindem Kind gesagt habe, dass Schwarze an wulstigen Lippen, breiten Nasen und krausem Haar zu erkennen seien. Aber einer der Jungen im Heim hatte eine schmale Nase und war dennoch schwarz. Mit diesem kurzen Dialog zeigt William Melvin Kelley, dass es beim Menschen so etwas wie „Rassen“ gar nicht gibt.

Boone’s Café befindet sich in der fiktiven Stadt New Marsails in den Südstaaten der USA. Dabei hat William Melvin Kelley vielleicht an New Orleans gedacht. Inez Cunningham in New York steht vermutlich für den Swing, Ludlows Idol Norman Spencer für Modern Jazz. Parallelen von Ludlow Washington und Charlie Parker sind unverkennbar.

Im Nachwort zu „Ein Tropfen Geduld“ stellt Gerald Early den Roman in den Kontext der Entwicklung des Jazz.

Die Entwicklung des Jazz von einer Tanzlokal- und Spelunkenmusik für Randgruppen (mit prätentiösen symphonischen Ausschmückungen aufgepeppt oder mit jungle growls und treibenden Trommeln pseudoethnisch eingefärbt, um den zahlreichen Fans aus der weißen Mittelschicht entgegenzukommen) zur populären amerikanischen Mainstream-Tanzmusik in den dreißiger Jahren bis hin zur komplexen, anspruchsvollen Insider-Musik nach dem Krieg zeigt auf faszinierende Weise, wie in Amerika Kunst definiert und konsumiert wurde und wie race als wirkungsvolles Kennzeichen und Identifikationsmerkmal einer Kunstform dienen kann.

In den Fünfzigern hatte sich der Jazz zu einer reflektierten Kunstmusik entwickelt, die nicht mehr von Big Bands, sondern von kleinen Gruppen in Clubs und kleineren Sälen für ein Publikum gespielt wurde, das nicht tanzte, sondern zuhörte. Der Jazz war mit Abstand die angesehenste afroamerikanische Kunstgattung […].

Andrian Kreye schreibt in der Süddeutschen Zeitung über „Ein Tropfen Geduld“:

Das Buch ist eine raffinierte Metapher für die gleichzeitige kulturelle Überlegenheit und gesellschaftliche Isolation der afroamerikanischen Musiker und Literaten, die Mitte des 20. Jahrhunderts einen intellektuellen Aufbruch des schwarzen Amerikas in den Kanon der Hochkultur begannen.

Welches Blasinstrument der Protagonist in „Ein Tropfen Geduld“ spielt, verrät William Melvin Kelley nicht. (Weil einmal von Dellen die Rede ist, könnte es sich um ein Saxofon handeln. Auf dem Titelbild ist eine Posaune zu sehen, aber dieses Instrument spielt im Roman ein anderer.)

William Melvin Kelley entwickelt die gut durchdachte, teilweise tragikomische und von der ersten bis zur letzten Seite mitreißende Handlung stringent und lakonisch, chronologisch und ohne romantische Verklärung. Zeitsprünge überbrückt er geschickt mit Interview-Zitaten von Ludlow Washington.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Hoffmann und Campe Verlag

William Melvin Kelley (kurze Biografie)

Adolf Muschg - Von einem, der auszog, leben zu lernen
Adolf Muschg beschäftigt sich mit den drei Reisen, die Johann Wolfgang von Goethe in die Schweiz unternahm, aber es geht ihm nicht um faktenreiche Reiseberichte, sondern er verknüpft damit erbauliche Betrachtungen über Goethes Versuche, Klarheit über sich selbst zu gewinnen und "leben zu lernen".
Von einem, der auszog, leben zu lernen