Ian McEwan : Der Zementgarten

Der Zementgarten
Originalausgabe: The Cement Garden Jonathan Cape, London 1978 Der Zementgarten Übersetzung: Christian Enzensberger Diogenes Verlag, Zürich 1980
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Vater wollte den ordentlichen Garten zubetonieren, weil er ihn nicht mehr pflegen konnte. Als er einem Herzinfarkt erliegt und die Mutter im Jahr darauf an einer Krebserkrankung stirbt, bleiben die vier Kinder allein. Ihre Verstörung korrespondiert mit der zunehmenden Verwahrlosung im Haus, und ihre Verwilderung mit dem Wuchern des Unkrauts im Garten.
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Kritik

Mit seinem Debütroman "Der Zementgarten" präsentiert Ian McEwan eine einfühlsame Elegie über die Adoleszenz, eine beklemmende, subtile und zugleich groteske psychologische Studie über vier verwaiste Kinder zwischen sechs und siebzehn in einer Ausnahmesituation.
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Der Tod des Vaters

Der vierzehnjährige Jack wohnt mit seinen Eltern und Geschwistern – der zwei Jahre älteren Julie, der zwei Jahre jüngeren Susan („Sue“) und dem fünfjährigen Tom – mitten in einem Abbruchviertel.

Rechts und links von uns waren die Häuser abgerissen worden, und im Sommer wucherte auf den leeren Grundstücken üppig das Unkraut mit seinen Blüten. (Seite 11)

Der Vater, der im Garten kein Gewirr duldet, wollte eigentlich eine Mauer um das Grundstück ziehen, um seinen Garten vor den herumfliegenden Unkrautsamen zu schützen, aber aufgrund eines Herzinfarkts ist er dazu nicht mehr in der Lage.

Er hatte seinen Garten weniger angelegt als konstruiert, nach Plänen, die er manchmal abends auf dem Küchentisch ausbreitete […] (Seite 10)

Weil er den Garten nicht mehr pflegen kann, lässt er ungeachtet des Protests seiner Frau gegen diese Geldausgabe eine Fuhre Sand und fünfzehn Säcke Zement anliefern. Damit soll der Garten vor und hinter dem Haus zubetoniert werden. „Es sieht dann ordentlicher aus“, meint er (Seite 13). Jack muss seinem Vater dabei helfen. Zwischendurch stiehlt sich der Junge zur Toilette, um zu onanieren. Hastig fliegt seine Hand vor und zurück „wie ein Weberschiffchen“ (Seite 84), und plötzlich erscheint auf seinem Handgelenk eine kleine flüssige Spur. Darauf hat er seit Monaten gewartet.

Ich starrte es lange an, von ganz nah, um die kleinen Dinger mit den langen flimmernden Schwänzchen zu finden. Wie ich es betrachtete, trocknete es ein zu einer kaum sichtbaren, glänzenden Kruste, die Risse bekam, als ich mein Handgelenk beugte. (Seite 14)

Endlich fällt ihm ein, dass der Vater ungehalten sein wird, wenn er zu lange fort bleibt. Doch als er wieder in den Garten kommt, liegt der Vater mit dem Gesicht nach unten im frischen Zement. Sanitäter bringen ihn weg.

Er war ein schwächlicher, jähzorniger, verbohrter Mann, gelblich an den Händen und im Gesicht. Ich führe die kleine Geschichte von seinem Tod nur an, weil sie erklärt, wieso meine Schwestern und ich auf einmal eine so große Menge Zement zur Verfügung hatten. (Seite 5)

Der Tod der Mutter

Im Jahr darauf setzt die Mutter sich eines Morgens zu Jack ans Bett. Er ist jeden Tag so müde, dass er kaum aufstehen kann, und seine Mutter weist ihn auf die Ringe unter seinen Augen hin.

„Glaub nicht, ich wüsste nicht, was los ist. Aus dir wird jetzt allmählich ein junger Mann, und ich bin sehr stolz darauf … diese Dinge hätte dir dein Vater gesagt …“ Wir sahen weg, wir wussten beide, dass das nicht stimmte. „Erwachsen werden ist schwer, aber wenn du so weitermachst, wirst du dir sehr schaden, deinem Körper schaden, der jetzt noch wachsen muss […] Jedesmal … wenn du das tust, brauchst du zwei Liter Blut, um es wieder zu ersetzen.“ (Seite 24f)

Die Restfamilie vereinsamt zunehmend.

Nie kam jemand bei uns zu Besuch. Weder meine Mutter noch mein Vater bei seinen Lebzeiten hatten wirkliche Freunde außerhalb der Familie. Sie waren beide Einzelkinder, und meine Großeltern waren alle tot. Meine Mutter hatte entfernte Verwandte in Irland, aber die hatte sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Tom hatte ein paar Freunde, mit denen er manchmal auf der Straße spielte, aber wir ließen ihn nie sie mit ins Haus bringen. Es gab jetzt nicht einmal mehr einen Milchmann in unserer Straße. Soweit ich mich erinnerte, waren unsere letzten Besucher die Sanitäter gewesen, die meinen Vater abgeholt hatten. (Seite 19)

Die Mutter ist krank, aber sie will sich nicht noch einmal untersuchen lassen, denn sie hält nichts mehr von den Ärzten. Sie hofft, auch so wieder gesund zu werden. Stattdessen geht es ihr von Tag zu Tag schlechter, und nach Jacks fünfzehnten Geburtstag steht sie kaum noch auf.

Wir hatten uns schon recht gut darauf eingerichtet. Wir trugen abwechselnd das Tablett hinauf, und Julie machte die Einkäufe auf dem Heimweg von der Schule. Sue half ihr beim Kochen und ich spülte ab. (Seite 37)

Die Mutter befürchtet schließlich doch, ins Krankenhaus zu müssen und ermahnt Jack deshalb:

„Das Haus muss ordentlich geführt werden, Jack, und ihr müsst auf Tom aufpassen. Ihr müsst alles sauber und ordentlich halten, sonst weiß du ja, was passiert.“
„Was?“
„Dann kommen sie und geben Tom in Pflege, und vielleicht dich und Susan auch. Julie würde allein auch nicht hier bleiben. Und dann würde das Haus leer stehen, und das würde sich rumsprechen, und dann brechen sie ein, und stehlen Sachen, und schlagen alles kaputt.“ Sie drückte mir den Arm und lächelte. „Und wenn ich dann aus dem Krankenhaus käme, wäre für uns gar nichts mehr übrig.“ Ich nickte. „Ich habe für Julie ein Postsparkonto eröffnet, und darauf wird Geld von meinem Gesparten überwiesen. Es wird für euch alle eine ganze Weile reichen, auf jeden Fall, bis ich wieder aus dem Krankenhaus bin.“ (Seite 45)

Drei Tage liegt die Mutter tot im Bett. Julie und Jack beratschlagen, was sie tun sollen. Jack erinnert sich, was seine Mutter kurz vor ihrem Tod sagte und hat Angst, dass er und seine Geschwister zu Pflegeeltern oder in ein Waisenhaus müssen, wenn es bekannt wird, dass sie allein sind. Er möchte, dass sie zusammenbleiben. Damit niemand etwas erfährt, müssen sie die Leiche heimlich selbst bestatten. Im Garten, schlägt Julie vor. Aber da müssten sie lange graben; tagsüber würde man sie sehen und nachts bräuchten sie Fackeln, um etwas zu sehen. Und wenn jemand Verdacht schöpfte, würde er als Erstes im Garten graben, das weiß Jack aus dem Kino. Julie und Jack beschließen, ihre Mutter im Keller zu bestatten. Eine ganze Nacht lang vermischen sie in einer massigen „Blechkiste, die irgendetwas mit Vaters kurzer Militärzeit zu tun hatte und eine Weile dazu diente, den Koks von der Kohle getrennt zu lagern“ (Seite 8) Zement mit Sand und Wasser. Dann schlagen sie das Bettlaken um ihre tote Mutter und schleppen sie in den Keller, legen sie in die Kiste und füllen weiter Beton nach.Sue, die im Wohnzimmer schlief und aufwachte, als sie die Leiche durchtrugen, schaut ihnen dabei zu, aber Tom hat nichts mitbekommen, und weil die Sommerferien gerade begonnen haben, fällt auch keinem Lehrer etwas auf.

Allein

Die ganze Woche nach dem Begräbnis hatten wir kein gekochtes Essen. Julie ging aufs Postamt Geld holen und kam mit vollen Einkaufstaschen zurück, aber das mitgebrachte Gemüse und Fleisch lag unberührt herum, bis wir es wegwerfen mussten. Stattdessen aßen wir Brot, Käse, Erdnussbutter, Kekse und Obst. (Seite 63)

Bald […] war die Küche ein Ort des Gestanks und der Fliegenschwärme. Niemand hatte Lust, mehr dagegen zu tun, als die Küchentür geschlossen zu halten. (Seite 63)

Weil Tom von größeren Jungen geschlagen wurde und deshalb lieber ein Mädchen wäre, ziehen Julie und Sue ihm einen umgenähten Rock an und setzen ihm eine blonde Perücke auf. Tom ist meistens schlecht gelaunt, weint leicht und benimmt sich wieder wie ein Kleinkind. Er kuschelt sich an Julies Brust und lässt sich von ihr in den Armen wiegen.

Er kam meistens zu Julie, wenn er Aufmerksamkeit brauchte, und ging ihr auf die Nerven. „Frag doch nicht dauernd mich„, fuhr sie ihn dann an. „Lass mich mal eine Minute in Frieden, Tom.“ Aber das änderte nichts. Tom hatte fest beschlossen, dass Julie jetzt für ihn sorgen müsse. Er lief flennend hinter Julie her, und schenkte Sue und mir keine Beachtung, wenn wir ihn ablenken wollten. (Seite 61)

Endlich beschließen Jack und Julie, die immer stärker die Elternrolle in der Restfamilie übernehmen, den Müll hinauszutragen und die Küche aufzuräumen. Kurz darauf beginnt Julie, ihren Freund Derek mitzubringen, einen dreiundzwanzig Jahre alten Billardspieler. Neugierig geht er einmal in den Keller hinunter – und wundert sich, wieso Julie darüber so aufgebracht ist. Er fragt Jack und Sue, seit wann ihre Eltern tot sind und registriert ihre widersprüchlichen Angaben.

Als es merkwürdig zu riechen beginnt, befürchtet Jack, die Ursache zu sein und wäscht sich deshalb nach längerer Zeit wieder und zieht frische Sachen an, aber der Gestank bleibt. Während Derek bei Julie im Zimmer ist, gehen Sue und Jack in den Keller, um nachzusehen.

Die Kiste sah aus, als sei etwas dagegengestoßen. In der Mitte wölbte sie sich ganz weit vor. Die Oberfläche des Zements war von einem riesigen Spalt durchzogen … (Seite 107)

Auf dem Rückweg stoßen sie auf Derek, der die Kellertreppe herunterkommt, sich an ihnen vorbeizwängt und die übel riechende Kiste findet. Julie lügt, sie hätten in der Kiste Jacks verendeten Hund einbetoniert, und Derek verschließt den Spalt einige Tage später mit frischem Zement.

Julie, die sich jeden Tag im Garten sonnt, weist Jack darauf hin, wie blass er ist und fordert ihn auf, öfter mal ins Freie zu gehen. Da legt er sich auf der Bodenplatte eines der benachbarten Abbruchhäuser in die Sonne, schläft allerdings ein und wacht mit einem kräftigen Sonnenbrand auf der Brust wieder auf.

Wegen der Hitze und des Sonnenbrands schläft er nackt. Nachts erwacht er, weil Tom im Nachbarzimmer weint. Er geht zu seinem kleinen Bruder hinüber, der ebenfalls nackt auf dem Rücken liegt und heult. Von Jack getröstet, erzählt Tom, Derek habe ihm gesagt, dass die Mutter in einer Kiste im Keller sei. Jack legt sich neben ihn. So findet Julie die beiden vor, als sie ins Zimmer kommt. „Wie zwei Babys“, lacht sie.

Als Tom wieder eingeschlafen ist, teilt Jack seiner Schwester mit, was er gerade erfuhr. Derek wisse es schon lange, sagt sie, und sei beleidigt, weil sie ihn nicht ins Vertrauen zogen und ihm etwas von einem Hund vorlogen.

„Du siehst schön aus ohne Kleider“, sagte sie. „Rosa und weiß wie eine Eisportion.“ (Seite 122)

Rasch zieht sie sich aus und setzt sich nackt neben ihn.

Wir drückten einander an die Brust, und unsere Arme und Beine verknäulten sich so, dass wir seitlich aufs Bett kippten. (Seite 124)

Dann knetet sie eine ihrer Brustwarzen zwischen Daumen und Zeigefinger, beugt sich über ihn und schiebt ihm die hart gewordene Brustwarze zwischen die Lippen. Plötzlich steht Derek in der Tür. Er ist wütend, weil Julie sich von ihm nicht anfassen ließ und er nun annimmt, dass sie es schon länger mit ihrem Bruder treibt.

„Widerlich ist das“, sagte er laut, „er ist dein Bruder.“
„Sprich leiser, Derek“, sagte Julie mit fester Stimme, „sonst weckst du Tom.“ (Seite 125)

Nachdem Derek das Zimmer verlassen hat, springt Julie aus dem Bett und schließt ab, bevor sie zurückkommt, Jacks Penis in ihre Vagina schiebt und sich deflorieren lässt [Inzest]. Jack spürt ihr Herz pochen, aber das gewaltige, rhythmische Dröhnen hört nicht auf, als sie wieder nebeneinander liegen.

Sue ruft nach Julie. Sie lassen ihre jüngere Schwester herein, und erfahren, dass Derek den Beton mit einem Vorschlaghammer zertrümmert, den Jack vor einiger Zeit auf einem der Abbruchgrundstücke fand. Bald darauf hören sie Derek wegfahren.

Erst das Geräusch von zwei oder drei anhaltenden Wagen, von zuschlagenden Türen und den eiligen Schritten mehrerer Leute, die den Eingangspfad heraufkamen, weckte Tom auf. Durch einen Spalt im Vorhang warf ein sich drehendes blaues Licht ein wirbelndes Muster an die Wand. (Seite 128)

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Mit seinem Debütroman „Der Zementgarten“ präsentiert Ian McEwan eine einfühlsame Elegie über die Adoleszenz, eine beklemmende, subtile und zugleich groteske psychologische Studie über vier verwaiste Kinder zwischen sechs und siebzehn in einer Ausnahmesituation.

Der Vater wollte den steril ordentlichen Garten mit einer Mauer gegen Unkrautsamen abschirmen und ihn schließlich zubetonieren, weil er ihn nach einem Herzinfarkt nicht mehr pflegen konnte. Als er einem zweiten Herzinfarkt erliegt und die Mutter im Jahr darauf an einer Krebserkrankung stirbt, bleiben die Kinder während der Sommerferien allein. Ihre Verstörung korrespondiert mit der zunehmenden Verwahrlosung im Haus, und ihre Verwilderung mit dem Wuchern des Unkrauts in dem früher so akkurat gepflegten Garten.

Erzählt wird aus der Sicht des zweitältesten Kindes, des fünfzehnjährigen Jack, der gerade pubertiert.

Die deutsche Übersetzung aus dem Englischen stammt von einer studentischen Arbeitsgruppe des Instituts für englische Philologie an der Universität München. Die Leitung und Endredaktion hatte Christian Enzensberger.

Andrew Birkin, der Bruder der Schauspielerin Jane Birkin, verfilmte Ian McEwans Roman „Der Zementgarten“ 1993 äußerst werkgetreu mit Hanns Zischler (Vater), Sinéad Cusack (Mutter), Andrew Robertson (Jack), Alice Coulthard (Sue), Ned Birkin (Tom), Jochen Horst (Derek) und Charlotte Gainsbourg, der Tochter von Jane Birkin und Serge Gainsbourg, als Julie. Der Film wurde auf der Berlinale 1993 mit einem „Silbernen Bären“ ausgezeichnet.

Originaltitel: The Cement Garden – Regie: Andrew Birkin – Drehbuch: Andrew Birkin, nach dem Roman „Der Zementgarten“ von Ian McEwan – Kamera: Stephen Blackman – Schnitt: Toby Tremlett – Musik: Ed Shearmur

Ian McEwan wurde am 21. Juni 1948 als Sohn eines schottischen Unteroffiziers in Aldershot, Hampshire, geboren. Seine Kindheit verbrachte er in England, Singapur und Nordafrika. Nach dem Philologiestudium in Sussex und Norwich ließ er sich von Malcolm Bradbury in „Creative Writing“ unterrichten. Eine Sammlung von Kurzgeschichten, die er als Magisterarbeit schrieb, veröffentlichte er später unter dem Titel „Erste Liebe, letzte Riten“. – „Der Zementgarten“ war sein erster Roman.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Diogenes

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