Keigo Higashino : Kleine Wunder um Mitternacht

Kleine Wunder um Mitternacht
Namiya zakkaten no kiseki Kadokawa Corp., Tokio 2014 Kleine Wunder um Mitternacht Übersetzung: Astrid Finke Limes Verlag, München 2020 ISBN 978-3-8090-2710-2, 414 Seiten ISBN 978-3-641-24278-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Drei Einbrecher, die sich verstecken, geraten in einen leerstehenden Laden, dessen Besitzer, der als Ratgeber geschätzt wurde, seit Jahrzehnten tot ist. Rasch merken sie, dass das Haus aus der Zeit gefallen ist: Briefe aus der Vergangenheit werden eingeworfen ...
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Kritik

Der märchenhafte, aus Episoden aufgebaute Wohlfühlroman "Kleine Wunder um Mitternacht" von Keigo Higashino veranschaulicht, dass mit jeder Aktion eine Ereigniskette ausgelöst wird und es darauf ankommt, Ratsuchende ernst zu nehmen.
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Einbrecher

Die drei jungen Arbeitslosen Shota, Atsuya und Kohei waren zusammen aufgewachsen, im von Yoshikazu Minazuki geleiteten Kinderheim Marukoen außerhalb von Tokio, das 1980 durch einen Brand zerstört wurde. 2012 erfahren Shota, Atsuya und Kohei, dass die steinreiche Unternehmerin Harumi Muto das Kinderheim gekauft hat. Sie befürchten, dass daraus ein Renditeobjekt wie ein Love Hotel gemacht werden soll, und als sie herausfinden, wo sich ein von Harumi Muto nur selten bewohntes Privathaus befindet, brechen sie dort am 12. September 2012 ein. Ihre Erwartung, die Räume seien aufwändig eingerichtet, erfüllen sich allerdings nicht, und sie finden auch keine anderen Wertsachen.

Stattdessen werden sie von Harumi Muto überrascht, die ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt hier übernachten will. Die Einbrecher überwältigen sie, fesseln sie auf einen Stuhl und versprechen ihr, am nächsten Tag in ihrer Firma anzurufen, damit sie befreit wird.

Weil das für die Flucht gestohlene Auto nicht anspringt, wollen sich Shota, Atsuya und Kohei in einem nahen, seit Jahrzehnten leer stehenden ehemaligen Gemischtwaren-Laden verstecken, bis am nächsten Morgen wieder Züge fahren. Der Inhaber Yuji Namiya ist schon lange tot, aber sein Name steht noch an der Tür.

Das aus der Zeit gefallene Haus

Plötzlich fällt durch einen Schlitz ein Brief herein. Eine 19-Jährige mit dem Decknamen „ratloser Welpe“ bittet Herrn Namiya um Rat. Sie schreibt, dass sie die Berufsfachschule abgeschlossen und in einem Unternehmen in Tokio zu arbeiten angefangen habe, aber dort nur mit Hilfstätigkeiten beschäftigt werde und zu wenig Geld verdiene. Im Alter von fünf Jahren verlor sie ihre Eltern durch einen Autounfall und wurde von ihrer Großtante Hideyo Tamura aufgenommen, der Schwester ihrer Großmutter mütterlicherseits. Auch der Großonkel war gut zu ihr, aber das Ehepaar hatte eine leibliche Tochter, und als diese mit ihrer Familie eine Bleibe benötigte, weil ihr Mann sich überschuldet hatte und keine Miete mehr zahlen konnte, wurde „ratloser Welpe“ ins Kinderheim Marukoen gebracht. Sechs Jahre später Hideyo ihre Großnichte zurück. Weil Hideyo Tamura und ihr Mann Schulden des Schwiegersohns abgetragen hatten, besaßen sie nun selbst nichts mehr außer ihrem Haus, und um das greise Paar finanziell unterstützten zu können, arbeitet „ratloser Welpe“ nachts als Hostesse in einem Klub in Shinjuku. Weil die andere, die „seriöse“ Anstellung sie unterfordert und schlecht bezahlt wird, möchte sie in dem Unternehmen kündigen und fragt nun Herrn Namiya, was er davon hält. Es ist bekannt, dass der 72-jährige Gemischtwaren-Händler sich ernsthaft bemüht, allen Ratsuchenden zu helfen. Die schriftlichen Antworten auf die nachts eingeworfenen Briefe sind jeweils am nächsten Morgen im nicht mehr benutzten Milchkasten des Ladens zu finden.

Shota, Atsuya und Kohei sind verblüfft. Yuji Namiya lebt längst nicht mehr, und einige Bemerkungen lassen darauf schließen, dass der Brief aus dem Jahr 1980 stammt. Der Gemischtwaren-Laden ist offenbar aus der Zeit gefallen.

Die drei Kleinganoven beantworten den Brief anstelle von Yuji Namiya. Sie raten der Ratsuchenden, nicht die Bürotätigkeit, sondern die Hostessen-Tätigkeit aufzugeben. Sie soll sparen und bis 1985 möglichst viele Immobilien kaufen, denn 1986 werden die Preise durch die Decke gehen. Bevor die japanische Wirtschaft 1990 zusammenbricht, soll die junge Frau alles abstoßen und dann in IT investieren, denn es wird überall und weltweit vernetzt Computer und tragbare Telefone geben. Die Antwort legen sie in den Milchkasten. Kurz darauf ist der Brief verschwunden.

Katsuro Matsuoka

Katsuro ist der einzige Sohn des Fischhändlers Takeo Matsuoka und dessen Ehefrau Kanako. Weil er das Geschäft übernehmen soll, studiert er BWL in Tokio, aber im Alter von 21 Jahren bricht er das Studium ab, denn er will Musiker werden.

Es gelingt ihm nicht, in der Musikindustrie Fuß zu fassen, aber als er in einem Kinderheim auftritt und die Begeisterung der jungen Zuhörer spürt, lernt er zahlreiche Kinderlieder und spielt mit viel Freude in Einrichtungen für Kinder.

1980, bei einer Weihnachtsfeier im Kinderheim Marukoen, fällt ihm das Mädchen Seri Mizuhara auf, das von seiner Eigenkomposition „Weiterleben“ angesprochen wird und sie fehlerfrei nachsingen kann. Ein Feuer bricht aus. Seri sorgt sich um ihren kleinen Bruder Tatsu. Katsuro rennt nach oben, rettet das Kind, stirbt jedoch selbst aufgrund schwerer Brandverletzungen.

Seri Mizuhara vergisst ihn nie. Sie wird eine berühmte Sängerin und macht „Weiterleben“ zum Hit.

Midori Kawabe

Drei Jahre nach dem Feuer im Kinderheim Marukoen sehen Passanten, wie ein Auto von der Küstenstraße abkommt und ins Wasser stürzt. Die 29-jährige unverheiratete Fahrerin Midori Kawabe kann nur noch tot aus dem Wagen geborgen werden, aber ihre ein Jahr alte Tochter wird gerettet.

Als Midori Kawabe schwanger wurde, schrieb sie einen Brief und bat Herrn Namiya um einen Rat, denn beim Erzeuger handelte es sich um einen Familienvater und alle drängten sie deshalb, sich einer Abtreibung zu unterziehen.

Unter den Briefen, die in der Nacht auf den 13. September 2012 in den ehemaligen Gemischtwaren-Laden gesteckt und von den drei versteckten Einbrechern gelesen werden, ist auch ein Schreiben von Midori Kawabes Tochter, die inzwischen als Managerin der Sängerin Seri Mizuhara arbeitet, mit der sie sich im Kinderheim Marukoen angereundet hatte. In einer alten Zeitung stieß sie auf einen Bericht über den für ihre Mutter tödlichen Autounfall und war entsetzt, weil alles auf einen erweiterten Suizid hindeutete. Ihre eigene Mutter wollte sie ermorden!

Schließlich erfährt sie, was wirklich geschah. Midori war arbeitslos, und weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte, verlor sie auch die Wohnung. Das gerettete Kind war wohlgenährt, die Mutter dagegen abgemagert. Wahrscheinlich verlor sie aufgrund der Mangelernährung das Bewusstsein und die Kontrolle über das Fahrzeug. Die Männer, die es aus dem Wasser zogen, stellten fest, dass das Fenster auf der Beifahrerseite offen war. Midori kam wohl unter Wasser wieder zu sich und kurbelte das Fenster für das Kind herunter. Sie selbst konnte sich nicht mehr retten.

Kosuke Waku

Am 12. September 2012 reist Kosuke Waku in seinen Heimatort, um im ehemaligen Gemischtwaren-Laden Namiya einen Brief einzuwerfen. Aus dem Internet weiß er, dass das Geschäft in der Nacht auf dem 13. September noch einmal geöffnet sein wird.

Den Brief schreibt er an diesem Abend in der von Eriko Haraguchi geführten, nach den Beatles benannten Bar „Fab4“.

Weil sein Vater Sadayuki Waku ein neureicher Unternehmer war, kannte Kosuke als Kind keine finanziellen Einschränkungen, und als Fan der Beatles, die am 29. Juni 1966 nach Japan kamen, legte sich der damals Neunjährige eine Sammlung ihrer Platten an.

1970 fiel er aus allen Wolken, als er begriff, dass sein Vater mit geschäftlichen Fehlentscheidungen einen so hohen Schuldenberg angehäuft hatte, dass er nur noch einen Ausweg sah: die Flucht mit der Familie vor den Gläubigern. Verzweifelt fragte Kosuke Herrn Namiya in einem Brief, was er tun solle und erhielt den Rat, bei seinen Eltern zu bleiben.

Kosuke verkaufte seine umfangreiche Sammlung von Beatles-Platten einem Freund für einen Spottpreis, und als sich die Eltern mit ihm nachts absetzten, lief er an einem Rastplatz davon. Beim Versuch, eine Bahnfahrkarte zur Weltausstellung in Osaka zu lösen, fiel er einem Kriminalbeamten auf. Kosuke behauptete, Shinichi Fujikawa zu heißen und wuchs schließlich unter diesem falschen Namen im Kinderheim Marukoen auf.

Er wurde Holzbildhauer.

Als er 1988, 18 Jahre nach der Trennung von seinen Eltern erstmals wieder in seinen Heimatort kam, traf er vor dem Gemischtwaren-Laden Takayuki Namiya, den Sohn des 1980 gestorbenen Ratgebers Yuji Namiya.

In der Bar „Fab4“ schaut er sich nun die Beatles-Platten an und stößt auf Besonderheiten, die zeigen, dass es sich um seine frühere Sammlung handelt. Eriko Haraguchi sagt, sie habe die Platten von ihrem älteren, vor zwei Jahren gestorbenen Bruder geerbt und der habe sie von seinem Freund bekommen, einem Mitschüler, dessen Eltern mit ihm kurz darauf bei Nacht und Nebel vor Gläubigern geflohen seien. Später habe man vom Suizid der ganzen Familie im Meer erfahren. Die Leiche des Sohnes sei nie gefunden worden.

Da begreift Kosuke, dass sich die Eltern für ihn aufopferten und seinen Tod vortäuschten, damit er mit einer anderen Identität weiterleben konnte.

In seinem Brief an Herrn Namiya behauptet er, er habe dessen Rat damals angenommen und sei bei seinen Eltern geblieben.

13. September

Zwei Jahre nachdem Takayuki Namiya seinen Vater besuchte und vergeblich zu überreden versuchte, zu ihm, seiner Frau Fumiko und seinem zehnjährigen Sohn nach Tokio zu ziehen, fragt Yuji Namiya von sich aus, ob er noch von dem Angebot Gebrauch machen dürfe. Aber bald nach dem Umzug stürzt er, und im Krankenhaus wird bei ihm Krebs diagnostiziert.

Vor seinem Tod am 13. September 1980 trägt er seinem Sohn auf, dafür zu sorgen, dass die Menschen, die sich von ihm im Lauf der Zeit beraten ließen, die Gelegenheit bekommen, ihm mitzuteilen, welche Erfahrungen sie machten, wenn sie seinem Rat folgten.

Takayuki Namiya gibt den Auftrag an seinen Sohn Jungo Namiya weiter, und der verkündet im Internet, dass der Gemischtwarenladen Namiya am 13. September 2012 von 0.01 Uhr bis zum Tagesanbruch geöffnet habe.

Harumi Muto

Harumi Muto nutzte in den Achtziger- und Neunzigerjahren die Informationen aus dem Schreiben, das sie als Antwort auf ihre mit „ratloser Welpe“ unterschriebene Anfrage erhalten hatte – und avancierte damit zu einer erfolgreichen Unternehmerin im IT-Bereich. Sie unterstützte ihre Großtante, kaufte nach dem Tod des Großonkels 1988 dessen Haus und garantierte Hideyo Tamura lebenslanges Wohnrecht. Seit auch die Großtante gestorben ist, übernachtet Harumi nur noch selten in dem Haus.

Als sie im Internet erfährt, dass der Gemischtwaren-Laden Namiya am 13. September 2012 noch einmal geöffnet sein wird und frühere Ratsuchende gebeten werden, Briefe mit Berichten über die Folgen der früheren Ratschläge einzuwerfen, beschließt sie, bei der Aktion mitzumachen und die Nacht vom 12./13. September im früheren Haus ihrer Großtante zu verbringen, das in der Nähe des ehemaligen Ladens steht. Doch beim Betreten wird sie von drei Männern überfallen.

Die Einbrecher lassen sie gefesselt zurück und verstecken sich in einem leer stehenden Haus, bei dem es sich zufällig um Gemischtwaren-Laden Namiya handelt. In der Handtasche der Beraubten finden die Einbrecher schließlich ihren vorbereiteten Brief und begreifen beim Lesen, dass es sich bei der vermeintlich skrupellosen Unternehmerin um die Ratsuchende mit dem Decknamen „ratloser Welpe“ handelt, der sie in dieser Nacht soeben die wirtschaftliche Japans voraussagten. Diesen Brief erhielt Harumi Muto allerdings nicht in der Gegenwart, sondern 1980 als 19-Jährige.

Shota, Atsuya und Kohei erfahren auch, dass die inzwischen 51-Jährige das Kinderheim Marukoen nicht erworben hat, um Profit daraus zu schlagen, sondern weil es ihr am Herzen liegt, die Einrichtung zu bewahren.

Das Kinderheim Marukoen wurde von Akiko Minazuki gegründet. Als Schülerin wollte sie mit dem Mechaniker Yuji Namiya (!) durchbrennen, weil ihre vornehme Familie keinen Handwerker als Schwiegersohn geduldet hätte. Aber der Verrat einer Vertrauten verhinderte die Flucht und trennte das Liebespaar.

Als Akiko Minazuki in jungen Jahren starb, übernahm ihr jüngerer Bruder Yoshikazu Minazuki das Heim. Der führte es mit großem Engagement. Aber sein Sohn und Erbe überließ es einem Vertreter namens Kariya, dem es nur darauf ankam, Zuschüsse zu kassieren.

Von den ehrlichen Absichten der Unternehmerin Harumi Muto überzeugt, beschließen Shota, Atsuya und Kohei, sie von ihren Fesseln zu befreien, ihr alles Geraubte zurückzugeben und sich der Polizei zu stellen.

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Von Keigo Higashino kennen wir Kriminalromane, aber „Kleine Wunder um Mitternacht“ ist keiner, obwohl die Geschichte mit drei Einbrechern beginnt. Der Roman dreht sich darum, dass jede Handlungsalternative Konsequenzen hat und mit jeder Aktion eine Ereigniskette ausgelöst wird. Fragt jemand nach Rat, kommt es weniger auf schlaue Einfälle an, als darauf, die Schwierigkeiten der Person ernst zu nehmen und der/dem Ratsuchenden zu helfen, ihr/sein Dilemma zu durchschauen, damit sie/er den richtigen Weg selbst finden kann.

Im Zentrum des märchenhaften Romans „Kleine Wunder um Mitternacht“ steht ein leer stehendes Haus, das aus der Zeit gefallen ist. Da springt die Zeit um Jahrzehnte vor und zurück. Dementsprechend entwickelt Keigo Higashino die Handlung nicht chronologisch-linear, sondern mit Rückblenden und Erinnerungen. Dabei wechselt er auch die Perspektiven. Und er webt ein Netz von Beziehungen zwischen den einzelnen Romanfiguren.

Der Roman „Kleine Wunder um Mitternacht“ ist aus Episoden aufgebaut. Es handelt es sich um erbauliche Wohlfühlliteratur in schlichter Sprache.

Die deutschsprachige Fassung von Astrid Finke basiert nicht auf der japanischen Originalausgabe, sondern auf der englischen Fassung von Sam Bett mit dem Titel „The Miracles of the Namiya General Store“.

Den Roman „Kleine Wunder um Mitternacht“ von Keigo Higashino gibt es auch als Hörbuch, gelesen von David Nathan.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023

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Sibylle Berg - Ende gut
Sibylle Berg reichert den Text der Ich-Erzählerin in "Ende gut" durch sogenannte "Infohaufen" und zahlreiche "O-Ton"-Einlagen an. Sie versteht es, ihre guten Beobachtungen und sarkastischen Ansichten mit viel Sprachwitz pointiert zu formulieren.
Ende gut