Ferdinand von Schirach : Gott. Ein Theaterstück

Gott. Ein Theaterstück
Gott. Ein Theaterstück Luchterhand Literaturverlag, München 2020 ISBN 978-3-630-87629-0, 158 Seiten ISBN 978-3-641-25606-7 (eBook) Taschenbuchausgabe btb, München 2021 ISBN 978-3-442-77100-4
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 78-jährige Witwer Richard Gärtner ist zwar physisch und psychisch gesund, will aber nach reiflicher Überlegung und zahlreichen Diskussionen mit Angehörigen sein Leben beenden und erwartet dabei ärztliche Hilfe, damit er sich nicht vor einen Zug werfen, vom Hochhaus springen oder erhängen muss. Der Deutsche Ethikrat organisiert dazu einen Disput mit Sachverständigen aus den Bereichen Recht, Medizin und Theologie.
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Kritik

Ferdinand von Schirach setzt sich in seinem wie ein Justizdrama mit offenem Ausgang aufgebauten Lehrstück "Gott" mit dem Thema Sterbehilfe auseinander. Literarisch will und kann das Theaterstück keine bedeutende Innovation sein; Ferdinand von Schirach geht es darum, das brisante Thema Sterbehilfe aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.
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Das Thema

Im Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften tagt der Deutsche Ethikrat öffentlich. Es geht um Sterbehilfe.

Der 78-jährige Architekt Richard Gärtner war 42 Jahre lang verheiratet, bis seine Frau Elisabeth vor drei Jahren nach langem Leiden an einem Hirnturmor starb. Seither möchte er nicht mehr leben, und über seine Suizidgedanken hat er immer wieder mit seinen beiden Söhnen diskutiert. Nach reiflichem Überlegen beantragte Richard Gärtner beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital, aber sein Antrag wurde abgelehnt. Daraufhin bat er vor zwei Jahren die Augenärztin Brandt, deren Patient er seit 20 Jahren ist, und die gewissermaßen wie eine Hausärztin für ihn ist, ihm beim Suizid zu helfen. Richard Gärtner ist übrigens weder physisch noch psychisch krank.

Die Vorsitzende fasst das Thema des Disputs zusammen:

„Halten Sie es für richtig, dass Herr Gärtner Pentobarbital bekommt, um sich töten zu können?“ Das ist die Frage, die wir uns stellen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig gesagt, dass es keinen Unterschied mache, ob ein gesunder Mensch oder ein Todkranker sterben möchte. Der Arzt kann beim Suizid helfen, aber er ist nicht dazu verpflichtet.

Juristische Aspekte

Monika Litten wird aufgerufen. Die Professorin für Verfassungsrecht an der Freien Universität Berlin und Richterin am Berliner Verfassungsgerichtshof erläutert die juristischen Normen, ohne selbst Stellung zu beziehen.

Von der aktiven Sterbehilfe unterscheidet sich die indirekte Sterbehilfe, bei der die lebensverkürzende Wirkung eines Präparats in Kauf genommen wird, etwa wenn ein Arzt eine starke Dosis Morphium gegen Schmerzen verabreicht. Früher sprach man auch von passiver Sterbehilfe, aber seit der Bundesgerichtshof am 25. Juni 2010 klarstellte, dass auch ein Behandlungsabbruch beispielsweise durch das Entfernen von Schläuchen und Abstellen eines Beatmungsgeräts eine aktive Handlung darstellt, ist dieser Begriff obsolet.

Litten führt aus, dass das Grundgesetz zwar laut Präambel „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ erlassen worden sei, aber kein „richtiges“ religiöses Bekenntnis kenne, keinen christlichen Staat begründe und auch nicht das Ziel vorgebe, das Christentum durchzusetzen. Die christliche Lehre ist also rechtlich nicht bindend.

Die Aufklärung stellte klar, dass der einzelne Mensch weder einem Staat noch einem Fürsten oder Gutsherrn gehört. Und in unserer Zeit wird nicht nur der persönlichen Freiheit, sondern vor allem auch der Selbstbestimmung ein hoher Wert beigemessen.

Dazu gehört die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden. Bis 2015 waren der Suizid und der Suizidversuch in Deutschland nicht strafbar. Aber am 6. November 2015 beschloss eine offenbar paternalistisch denkende Mehrheit des Deutschen Bundestags ein Gesetz, das die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung mit Wirkung zum 10. Dezember unter Strafe stellte (§217 StGB).

Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(„Geschäftsmäßig“ hat in diesem Kontext nichts mit Gewinnstreben zu tun, sondern mit Wiederholung.)

Der von Richard Gärtner beauftragte Rechtsanwalt Biegler hält das 2015 erlassene Gesetz für unlogisch, denn der Suizid blieb straffrei, und wie konnte es sein, dass eine Beihilfe strafbar war, obwohl überhaupt keine Straftat vorlag?

Am 26. Februar 2020 erklärte schließlich das Bundesverfassungsgericht das Gesetz (§217 StGB) für verfassungswidrig und annullierte rechtliche Restriktionen für freiwillige Hilfe bei frei verantwortlichen Suiziden. Seither versucht den Politik, die Sterbehilfe zu regeln, aber der Bundestag konnte sich bisher noch auf keines der vorgeschlagenen Konzepte einigen.

Medizinische Aspekte

Als nächster tritt Professor Sperling vor, ein Mitglied des Präsidiums der Bundesärztekammer.

Der medizinische Sachverständige verweist auf den Eid des Hippokrates, demzufolge es Aufgabe des Arztes sei, Leben zu erhalten, Leiden zu lindern und die Gesundheit zu schützen oder wiederherzustellen. Aber auf Bieglers Nachfragen muss er zugeben, dass Ärzte gar keinen Eid schwören und einiges an der ursprünglichen Formel längst als veraltet gilt. Stattdessen steht in einer neueren Fassung der Satz: „Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren.“

Sperling ist der Meinung, dass Suizid eine Folge von Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, einer Lebenskrise oder einer Depression sei. Manche hätten auch Angst vor Schmerzen oder Hilflosigkeit. Es sei nicht Aufgabe des Arztes, einer oder einem Betroffenen beim Suizid zu assistieren, sondern Pflicht der Gesellschaft, den Verzweifelten Hoffnung zu geben.

Sie nehmen sich eben gerade nicht freiwillig und selbstbestimmt das Leben. Es kann nicht richtig sein, dass ein Arzt in dieser Situation zum Tod verhilft. Das wäre zynisch. Er soll heilen, nicht töten. Und wir können diesen Menschen helfen. Depressionen lassen sich heute gut behandeln. […] Die Menschen finden zurück ins Leben.

Um den Menschen die Angst vor qualvollem Sterben zu nehmen, sei ein massiver Ausbau des Angebots an Hospizen und Palliativmedizin erforderlich.

Sperling spricht sich klar gegen den ärztlich assistierten Suizid aus, aber eine in der Patientenverfügung festgeschriebene Behandlungsverweigerung akzeptiert er ebenso wie einen Behandlungsabbruch auf Verlangen der Patientin oder des Patienten. Biegler entgegnet, ein Behandlungsabbruch sei kein Unterlassen, wie Sperling behauptet, sondern aktives Tun. Darauf antwortet der Arzt:

Aber bei einer Beihilfe zum Suizid will ich den Tod herbeiführen. Bei einem Behandlungsanbruch nehme ich ihn nur in Kauf.
Biegler
Ja? Wenn sie eine Behandlung abbrechen, Herr Professor Sperling, dann ist der Tod doch keine unbeabsichtigte Nebenfolge. Im Gegenteil. Der Tod, das Sterbenlassen, ist das Ziel.
Sperling
Nein, der Tod ist nie unser Ziel.

Theologische Aspekte

Helmuth Thiel gehört der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz an. Er tritt als theologischer Sachverständiger auf und spricht sich klar gegen jede Form von Sterbehilfe aus. Wer Suizid-Beihilfe erlaube, mahnt er, werde als Nächstes auch Tötung auf Verlangen legalisieren, denn dann müsse man beispielsweise einem Gelähmten das Glas mit dem Gift an den Mund halten. Alles andere wäre inkonsequent und ungerecht.

Er berichtet von einer 31-Jährigen, die mit ihrem Auto ein plötzlich auf die Straße geranntes Kind tot fuhr. Sie wurde freigesprochen, kann sich aber selbst nicht verzeihen und will ihr Leben beenden.

Sie will sterben. Und nun frage ich Sie […], meine Damen und Herren, wollen Sie ernsthaft dazu die Hand reichen? Wollen Sie einer 31-Jährigen ein Medikament geben, das sie tötet?

Der Bischof verweist auf das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Aber in der Konfrontation mit dem Rechtsanwalt muss er zugeben, dass die Kirche nicht nur bei Kreuzzügen und Hexenverbrennungen Menschen töten ließ, sondern auch die Todesstrafe bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil im Jahr 1965 befürwortete. Bis 1993 stand noch im Katechismus, die Todesstrafe sei akzeptabel. Erst Papst Franziskus verwarf diese Lehre 2018.

Biegler prangert an, dass die Kirche beim Konzil von Arles im Jahr 452 die Selbsttötung zum Verbrechen stempelte, 80 Jahre später beim Konzil von Orléans beschloss, „Selbstmörder“ nicht mehr christlich zu begraben und noch einmal 150 Jahre später auf einem der Konzile in Toledo den versuchten Suizid mit der Exkommunikation belegte.

Der Bischof leugnet das nicht, aber er hält den Suizid für eine Zurückweisung der absoluten Souveränität Gottes über Leben und Tod, so wie es Papst Johannes Paul II. 1995 in Enzyklika „Evangelium vitae“ ausführte. Thiel ist überzeugt davon, dass der Mensch unter keinen Umständen das Recht habe, selbst seinen Todeszeitpunkt zu bestimmen.

Leben bedeutet zu leiden […]. Das Christentum, wenn man es ernst nimmt, ist die Religion des Leidens.

Den Juristen erinnert die Auffassung, das Leben des Einzelnen gehöre Gott, an den Aberglauben, der Blitz und Donner als Strafe Gottes interpretierte. Und er weist darauf hin, dass die Kirche dann auch beispielsweise Herzschrittmacher oder Reanimationen als Eingriffe in Gottes Hoheit ablehnen müsste.

Ebenso absurd erscheint ihm der Begriff der Erbsünde. Die widerspreche dem Grundsatz, dass eine Strafe eine persönliche Schuld voraussetze.

Thiel
[…] Die Erbsünde ist ein Zustand, keine persönliche Tat. Wir werden damit geboren. Die Geschichte von Adam und Eva ist keine historische Wirklichkeit, sondern ein Symbol für die Menschheit an sich.
[…]
Biegler
Jesus ließ sich unter unvorstellbaren Schmerzen umbringen zur Strafe für eine symbolische Sünde, die von zwei Menschen begangen wurde, die in Wirklichkeit nicht existierten?
Thiel
Wir werden es nie ganz verstehen.
Biegler
Und noch dazu trägt Ihr Gott selbst für diese erste Sünde die Verantwortung. Er hat den Baum der Erkenntnis gepflanzt, und er hat die bösartige Schlange erschaffen. Wenn man es nüchtern betrachtet, dann setzt Gott also erst den Anreiz für die Tat, wobei ihm dank seiner Allwissenheit ja völlig klar sein muss, dass Adam und Eva sie auch begehen werden. Danach lässt er sich in Menschengestalt für diese Tat töten und vergibt uns so die Schuld, die er selbst verursacht hat.

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Ferdinand von Schirach setzt sich in seinem Theaterstück „Gott“ mit dem Thema Sterbehilfe auseinander. In Deutschland, wo unter dem NS-Regime „Rassenhygiene“ betrieben und „unwertes Leben“ vernichtet wurde, ist das besonders brisant.

Das wie ein Justizdrama mit offenem Ausgang aufgebaute Lehrstück „Gott“ kreist um die Frage, ob einem Sterbewilligen ein tödliches Präparat verabreicht werden darf. Konkret geht es hier um den 78-jährigen Witwer Richard Gärtner, der zwar physisch und psychisch gesund ist, aber nach reiflicher Überlegung und zahlreichen Diskussionen mit seinen Angehörigen entschlossen ist, sein Leben zu beenden.

Literarisch will und kann „Gott“ keine bedeutende Innovation sein, aber Ferdinand von Schirach geht es darum, das brisante Thema Sterbehilfe aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.

Auf der Bühne findet dazu ein vom Deutschen Ethikrat organisierter Diskurs statt, bei dem Sachverständige zu juristischen, medizinischen und theologischen Gesichtspunkten gehört und befragt werden. Ihr Kontrahent ist jeweils Gärtners Rechtsanwalt Biegler, der dafür plädiert, dass sein Mandant einen Anspruch auf Sterbehilfe habe. Andernfalls sei es so, „dass sich zwar jeder sein Leben nehmen dürfe, sich dazu aber vor den Zug zu werfen, vom Hochhaus zu springen oder den Strick zu nehmen habe“.

Mit seiner eigenen Meinung hält sich Ferdinand von Schirach in „Gott“ zurück, aber es ist unverkennbar, dass er in der Frage der Sterbehilfe eine liberale Position vertritt, ohne die Bedenken klein zu reden. Nur mit den Argumenten der Kirche kann er offenbar nichts anfangen. Wie in seinem (ebenfalls von Lars Kraume verfilmten) Kammerspiel „Terror. Ihr Urteil“ lässt Ferdinand von Schirach am Ende das Publikum über eine ethische Frage abstimmen.

Das Theaterstück „Gott“ von Ferdinand Schirach kam im September 2020 mit einer Doppelpremiere des Berliner Ensembles und des Düsseldorfer Schauspielhauses auf die Bühne.

Es gibt das Theaterstück „Gott“ von Ferdinand von Schirach auch als Hörspiel, mit Florian Lukas, Jördis Triebel, Corinna Kirchhoff, Bettina Kurth, Peter Rühring, Martin Engler, Felix Goeser, Cathlen Gawlich. Regie: Anja Herrenbrück.

Lars Kraume verfilmte das Theaterstück „Gott“ von Ferdinand von Schirach im Frühjahr 2020.

Originaltitel: Gott – Regie: Lars Kraume – Drehbuch: Ferdinand von Schirach nach seinem Theaterstück „Gott“ – Kamera: Frank Griebe – Schnitt: Barbara Gies – Darsteller: Barbara Auer, Lars Eidinger, Matthias Habich, Ulrich Matthes, Anna Maria Mühe, Christiane Paul, Götz Schubert, Ina Weisse – 2020; 95 Minuten

Der Fernsehfilm „Gott“ wurde am 23. November 2020 erstmals ausgestrahlt. An der anschließenden Befragung nahmen mehr als eine halbe Million Zuschauerinnen und Zuschauer teil. 70,8 Prozent von ihnen beantworteten die Frage, ob Richard Gärtner Natrium-Pentobarbital bekommen solle, mit ja. Dieses Ergebnis ließ dann Frank Plasberg in seiner Sendung „hart aber fair“ diskutieren.

Bei der Buchausgabe ergänzte der Verlag das Theaterstück „Gott“ von Ferdinand von Schirach durch drei Essays:
. Hartmut Kreß: Suizid und Suizidbeihilfe in existenzieller, religiöser und kultureller Hinsicht
. Bettina Schöne-Seifert: Hilfe zum Suizid: Blicke auf die ethische Kontroverse
. Henning Rosenau: Der Suizid im Recht

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

Ferdinand von Schirach: Verbrechen
Ferdinand von Schirach: Schuld
Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini
Ferdinand von Schirach: Der Bäcker
Ferdinand von Schirach: Tabu
Ferdinand von Schirach: Terror (Verfilmung)
Ferdinand von Schirach: Strafe
Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten
Ferdinand von Schirach: Sie sagt. Er sagt. Ein Theaterstück

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Der Versroman "Die schmutzige Frau" von Annette Pehnt kann als psychologische Studie gelesen werden. Die Protagonistin verfasst sieben Geschichten über eine "schmutzige Frau". Die letzte davon schließt die eigentliche Handlung ab. Da vereinigen sich also die Realitätsebene und die Fiktion in der Fiktion, die Ich-Erzählerin und die "schmutzige Frau".
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