Marcel Reich-Ranicki: Der Kanon. Die deutsche Literatur

„Spiegel“-Gespräch: „Literatur muss Spaß machen“


„Seit dem Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai (1733 – 1811) hat niemand mehr eine dermaßen durchschlagende Wirkung in der deutschen Literaturkritik erreicht wie Marcel Reich-Ranicki“, meint Willi Winkler („Süddeutsche Zeitung“, 2. Juni 2000).

In einem „Spiegel“-Gespräch mit Volker Hage („Der Spiegel“, 18. Juni 2001) entwickelte Marcel Reich-Ranicki Ideen für einen „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“. „Ein Kanon ist nicht etwa ein Gesetzbuch“, führt Marcel Reich-Ranicki aus, „sondern eine Liste empfehlenswerter, wichtiger, exemplarischer und, wenn es um die Schule geht, für den Unterricht besonders geeigneter Werke.“ Die Auswahl helfe den Leserinnen und Lesern, die angesichts der Fülle der verfügbaren Literatur die Orientierung zu verlieren drohen. „Ohne Kanon gibt es nur Willkür, Beliebigkeit und Chaos und, natürlich, Ratlosigkeit.“

Das gelte auch für die Schullektüre, denn seiner Meinung nach seien die Listen der im Deutschunterricht durchzunehmenden Bücher viel zu lang. Das überfordere sowohl die Lehrer als auch die Schüler. Beim Kanon wolle er sich deshalb auf ein Minimum beschränken.

Ja, ich widme der Liebe in der Literatur viel Platz. Das geht auf einen einfachen Umstand zurück: Die Liebe ist das zentrale Thema der deutschen Literatur – von Walther von der Vogelweide bis zu Ingeborg Bachmann und Sarah Kirsch. Zu den größten Erotikern der europäischen Literatur gehören zwei deutsche Autoren: Goethe und Heine. Gut beraten ist der Lehrer, der immer wieder auf Erotisches eingeht. Und ich hätte Sympathie für einen Deutschlehrer, der plötzlich, jeden Kanon ignorierend, seine Schüler beispielsweise Nabokovs „Lolita“ lesen lässt oder Tschechows Erzählung „Die Dame mit dem Hündchen“.

Literatur müsse Spaß machen, sagt Marcel Reich-Ranicki und bezieht dabei den Deutschunterricht ausdrücklich mit ein. „Gerade der Deutschunterricht sollte unbedingt unterhaltend sein. Nur kommt es darauf an – und das ist durchaus möglich –, die Schüler nicht mit minderwertiger, sondern mit guter Literatur zu unterhalten.“

Auf die Frage, welche zehn oder zwölf Bücher ein Abiturient unbedingt gelesen haben müsse, antwortet Marcel Reich-Ranicki nur ungern: Werther, Effi Briest, Buddenbrooks, Der Prozess, Faust I, je ein Band mit ausgewählten Dramen von Schiller und Kleist, je ein Band mit ausgewählten Gedichten von Goethe, Heine und Brecht. Und wenn Sie mir noch zwei Titel genehmigen sollten, schlage ich einen Band mit den Werken von Büchner vor und einen Auswahlband mit der Lyrik der deutschen Romantiker.“

Auf die provozierende Frage eines Journalisten, ob der Kanon so etwas wie eine Hitparade sei, antwortete Marcel Reich-Ranicki: „Entscheidend war für mich weder die Beliebtheit einzelner Werke noch ihr Verkaufserfolg. Worauf also kam es mir an? Kurz gesagt: Auf den literarischen Wert und auf die Lesbarkeit.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. November 2003)

Dass er mit dem Vorhaben, einen Kanon der deutschen Literatur herauszugeben, eine heftige Diskussion auslösen würde, ahnte Marcel Reich-Ranicki bereits im „Spiegel“-Gespräch:

Ob in Deutschland, in Österreich oder in der Schweiz – es wird sich kein einziger Germanist finden, der einen solchen Kanon-Vorschlag für ansatzweise akzeptabel hält. Jeder wird empört darauf hinweisen, dass dieser oder jener Autor fehlt.

Das Argument, ein solcher Kanon sei überflüssig, nahm er bereits in dem „Spiegel“-Gespräch vorweg und meinte dazu: „Die Frage, ob wir einen solchen Katalog benötigen, ist mir unverständlich, denn der Verzicht auf einen Kanon würde den Rückfall in die Barbarei bedeuten.“

Die von Marcel Reich-Ranicki zusammengestellte Anthologie wurde 2002 bis 2006 vom Insel Verlag in fünf Teilen gedruckt.


Der Kanon. Die deutsche Literatur. Romane

Der Schuber enthält zwanzig Titel von siebzehn Autoren, „zwanzig bedeutende Romane der deutschen Literatur: lebendig und lesbar, auch heute noch – Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte nach ihrer Entstehung.“ (Marcel Reich-Ranicki). Insel Verlag, Frankfurt/M 2002, ISBN 3-458-06678-0, 20 Bände, 8112 Seiten


Der Kanon. Die deutsche Literatur. Erzählungen

Der Schuber enthält zehn Bände und einen Begleitband. Marcel Reich-Ranicki hat dafür 180 Novellen, Kurzgeschichten, Fabeln, Parabeln, Legenden, Märchen und Kalendergeschichten von neunzig deutschsprachigen Autoren ausgesucht. Insel Verlag, Frankfurt/M 2003, ISBN 3-458-06760-4, 10 Bände, 5700 Seiten


Der Kanon. Die deutsche Literatur. Dramen

Der Schuber enthält acht Bände und einen Begleitband. Dreiundvierzig Dramen von dreiundzwanzig Autoren hat Marcel Reich-Ranicki dafür ausgesucht. Insel Verlag, Frankfurt/M 2004, ISBN 3-458-06780-9, 9 Bände, 4500 Seiten


Der Kanon. Die deutsche Literatur. Gedichte

Der Schuber enthält sieben Bände und einen Begleitband. Marcel Reich-Ranicki hat dafür 1370 Gedichte von 251 deutschen Autorinnen und Autoren ausgesucht. Insel Verlag, Frankfurt/M 2005, ISBN 3-458-06785-X, 8 Bände, 2096 Seiten


Der Kanon. Die deutsche Literatur. Essays

Der Schuber enthält fünf Bände und einen Begleitband. Marcel Reich-Ranicki hat dafür 255 Texte von 166 deutschen Autoren zusammengestellt: Essays über Deutschland und die Deutschen, politische Reden, Aufsätze über Literatur, Kunst und Musik, Theater- und Filmkritiken. Insel Verlag, Frankfurt/M 2006, ISBN 3-458-06830-9, 6 Bände, 4448 Seiten

© Dieter Wunderlich 2003 – 2005

Marcel Reich-Ranicki (Kurzbiografie)
Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben

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Humor, Komik und Satire kommen in "Der Mann mit den goldenen Ohren" nicht zu kurz, Sprachspielereien lassen den Leser schmunzeln, aber Herbert Rosendorfer hätte sich vielleicht auf die besten Einfälle und die Hälfte der Seiten beschränken sollen.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.